Zum erstenmal, seit sie hereingekommen waren, veranderte sich Pearsons Ausdruck. Mit dem Anflug eines gequalten Lachelns sah er O'Donnell an. »Danke.«

Zweiunddrei?ig Jahre! O'Donnell dachte: Mein Gott, das ist der gro?te Teil der Lebensarbeit eines Mannes. Und so mu? es enden. Er hatte gern mehr gesagt, versucht, es fur alle leichter zu machen, Worte zu finden, um das Gute anzuerkennen, das Joe Pearson geleistet hatte - er mu?te viel Gutes in seinem Leben geleistet haben. Wahrend er noch nach Worten suchte, kam Harry Tomaselli herein.

Der Verwaltungsdirektor war in Eile. Er hatte sich nicht damit aufgehalten, erst anzuklopfen. Er sah zuerst Pearson an. Dann fiel sein Blick auf Dornberger und O'Donnell. »Kent«, sagte er gehetzt, »ich bin froh, da? Sie hier sind.«

Ehe O'Donnell antworten konnte, wandte Tomaselli sich wieder Pearson zu. »Joe«, begann er, »konnen Sie sofort mit in mein Buro kommen? In einer Stunde habe ich eine dringende Sitzung des Stabes einberufen. Ich wollte nur vorher noch mit Ihnen sprechen.«

Scharf fragte O'Donnell: »Eine Sondersitzung? Weshalb?«

Tomaselli drehte sich um. Sein Gesicht war ernst, seine Augen besorgt. »Im Krankenhaus wurde Typhus entdeckt«, verkundete er. »Dr. Chandler hat zwei Falle gemeldet, und vier weitere sind typhusverdachtig. Es liegt eine Epidemie vor, und wir mussen den Ursprung finden.«

Elizabeth sah auf, als sich die Tur offnete und John eintrat. Er schlo? die Tur hinter sich, lehnte sich einen Augenblick mit dem Rucken dagegen. Es wurde kein Wort gesagt, nur ihre Augen sprachen - Trauer, flehende Bitten und eine uberwaltigende Liebe.

Sie streckte die Arme aus, und er eilte zu ihr.

»Johnny, Johnny, Liebling.« Das war alles, was sie murmeln konnte, ehe sie leise zu weinen begann.

Nach einer Weile, wahrend der er sie fest umfangen hielt, loste er sich von ihr und trocknete ihre Tranen mit demselben Taschentuch, das er selbst schon dazu benutzt hatte.

Spater sagte er: »Elizabeth, Liebste, wenn du es immer noch willst. Jetzt wurde ich es gern versuchen.«

»Was es auch ist«, antwortete sie, »selbstverstandlich: ja.«

»Ich glaube, du hast es immer gewunscht«, sagte er, »jetzt will ich es auch. Ich schreibe morgen um die Papiere. Ich will versuchen, doch noch Medizin zu studieren.«

Mike Seddons stand von seinem Stuhl auf und ging in dem kleinen Krankenzimmer auf und ab. »Aber das ist lacherlich«, sagte er hitzig. »Es ist absurd, es ist sinnlos, und ich werde es nicht tun.«

»Um meinetwillen, Liebling.«

Vivian drehte sich im Bett, so da? ihr Gesicht ihm zugewendet war.

»Aber es nutzt dir nicht im geringsten, Vivian. Das ist nur eine alberne, dumme Idee, die du irgendwo in einem viertklassigen, sentimentalen Roman aufgelesen hast.«

»Mike, Liebling, ich liebe dich so sehr, wenn du wutend bist. Es pa?t so gut zu deinem schonen, roten Haar.« Sie lachelte ihm zartlich zu, als ihre Gedanken sich zum erstenmal von der unmittelbaren Gegenwart abwandten. »Versprich mir etwas!«

»Was?« Er war immer noch argerlich, seine Antwort kurz.

»Versprich mir, da? du manchmal wutend bist, wenn wir verheiratet sind - wirklich wutend -, damit wir uns streiten konnen und nachher die Freude haben, uns wieder zu versohnen.«

Unwillig antwortete er: »Das ist ein genauso alberner Einfall wie der andere. Und uberhaupt, was hat es fur einen Sinn, von Heiraten zu reden, wenn du willst, da? ich mich von dir fernhalte?«

»Nur fur eine Woche, Mike, Liebling. Gerade eine Woche, das ist alles.«

»Nein.«

»Hor mich an, Liebling.« Sie drangte. »Bitte, komm her und setz dich und hor mich an. Bitte.«

Er zogerte, kam dann widerwillig zu dem Stuhl neben dem Bett zuruck. Vivian lie? ihren Kopf in die Kissen zurucksinken, das Gesicht ihm zugewandt. Sie lachelte und streckte ihre Hand aus. Er nahm sie zartlich, sein Arger verflog. Nur ein unbestimmter, beunruhigender Zweifel blieb.

Es war der vierte Tag, nachdem Vivian nach der Operation in ihr Zimmer zuruckgebracht worden war. Der Stumpf an ihrem Oberschenkel verheilte gut. Sie hatte immer noch lokale Schmerzen und die unvermeidliche Druckempfindlichkeit. Aber das gro?e, uberwaltigende Leiden der ersten zwei Tage der Genesung hatte aufgehort, und gestern hatte Dr. Grainger mit Vivians Wissen und Zustimmung die zuerst verordneten Injektionen abgesetzt, durch die die Schmerzen wahrend der schlimmsten, jetzt uberwundenen Zeit gemildert worden waren. Nur eines fand Vivian entsetzlich - etwas Uberraschendes, womit sie nicht gerechnet hatte. Der Fu? an ihrem amputierten Bein - ein Fu?, den sie nicht mehr besa? juckte haufig mit bosartiger, immer wieder auftretender Heftigkeit. Es war eine Qual, ihn nicht kratzen zu konnen. Als das Jucken zum erstenmal auftrat, hatte sie mit ihrem rechten Fu? nach der Sohle des anderen getastet. Dann hatte sie eine Zeitlang erleichtert geglaubt, die Amputation sei doch nicht vorgenommen worden. Erst als Dr. Grainger ihr versicherte, da? die Erscheinung vollig normal sei und bei den meisten Patienten auftrete, die ein Glied verloren hatten, wurde ihr klar, da? ihre Hoffnung eine Illusion gewesen war. Dessenungeachtet war es ein unerfreuliches Gefuhl, und Vivian hoffte, da? es bald verschwinden wurde.

Auch psychologisch schien ihre Genesung gute Fortschritte zu machen. Von dem Augenblick an, als Vivian am Tag vor der Operation mit der schlichten Tapferkeit, die Mike Seddons so tief beeindruckte, sich mit dem Unausweichlichen abfand, hatte ihre Gemutsverfassung sich nicht verandert und sie aufrecht gehalten. Noch gab es Augenblicke der Finsternis und Verzweiflung. Sie kamen uber sie, wenn sie allein war, und zweimal, als sie in der Nacht erwachte, das Krankenhaus um sie herum still und unheimlich, hatte sie still um das geweint, was sie verloren hatte. Aber meistens verbannte sie deprimierte Stimmungen, und die ihr innewohnende Kraft half ihr, sie zu uberwinden.

Lucy Grainger hatte das beobachtet und war dankbar dafur. Es erleichterte ihr die Aufgabe, den Heilungsproze? zu uberwachen. Nichtsdestoweniger wu?te Lucy, da? Vivian die wirkliche Probe fur ihre Gefuhle und ihre Haltung erst noch bestehen mu?te. Sie wurde kommen, wenn der erste Schock uberwunden war, wenn sie Zeit gehabt hatte, die wirkliche Bedeutung des Eingriffs nach und nach zu erfassen, und wenn seine Auswirkungen auf ihre Zukunft naher und deutlicher vor ihr standen. Vielleicht kam dieser Augenblick erst in sechs Monaten oder sogar erst in einem Jahr. Aber fruher oder spater mu?te er kommen, und Lucy wu?te, da? Vivian dann eine tiefe, finstere Verzweiflung durchstehen mu?te, um fur spater eine feste Haltung zu gewinnen, welcher Art sie auch sein wurde.

Aber das lag in der Zukunft. Im Augenblick erschien ihr die Prognose fur die nachste Zeit recht gunstig.

Lucy wu?te naturlich - und sie war sich bewu?t, da? es auch Vivian bekannt war -, bei einem Osteosarkom, das Dr. Pearson diagnostiziert hatte, bestand die Moglichkeit, da? sich schon vor der Amputation Metastasen gebildet und mit heimtuckischer Bosartigkeit in Vivians Korper verbreitet hatten. In diesem Fall konnte das Three Counties Hospital und die Medizin uberhaupt fur Vivian kaum mehr tun, als vorubergehend ihre Leiden zu lindern. Aber ob das zutraf oder nicht, mu?te sich spater herausstellen. Fur den Patienten schien es im Augenblick das beste und klugste, anzunehmen, da? Vivian als gesund entlassen werden konnte, und ihr zu helfen, sich aktiv auf ihr zukunftiges Leben einzustellen.

Auch heute war die fortschreitende Genesung an Vivians au?erer Erscheinung sofort zu erkennen. Zum erstenmal nach der Operation hatte sie Makeup aufgelegt und damit Farbe in ihr Gesicht gebracht. Am Morgen war ihre Mutter bei ihr gewesen und hatte ihr beim Frisieren geholfen. Sie trug jetzt das gleiche Nachthemd, das Mike bei einem fruheren Besuch in Versuchung gefuhrt hatte, und ein gro?er Teil ihrer jugendlichen Lieblichkeit war zuruckgekehrt.

Als Mike jetzt ihre Hand nahm, sagte sie: »Verstehst du denn nicht, Liebling? Ich will sicher sein. Um meiner selbst willen ebensosehr wie um deinetwillen.«

»Wessen willst du sicher sein?« Auf Mikes Gesicht standen zwei hochrote Flecken.

Leise und fest antwortete sie: »Ich will sicher sein, da? du mich wirklich liebst.«

»Naturlich liebe ich dich.« Heftig fuhr er fort: »Erklare ich dir das nicht seit einer halben Stunde? Habe ich dir nicht gesagt, ich will, da? wir heiraten? Wie wir es beschlossen haben« - er zogerte -, »ehe das geschah? Selbst deine Mutter und dein Vater sind dafur. Sie haben mich akzeptiert. Warum kannst du es nicht?«

»Aber Mike, ich akzeptiere dich doch. Dankbar und froh. Aber was auch zwischen uns geschieht, ich glaube nicht, da? jemals etwas zwischen uns wieder ganz so sein kann, wie es war. Wenigstens« - einen Augenblick schwankte ihre Stimme -»nicht fur mich.«

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