'Hmm. Wenn sich Erdenmenschen - ich meine jene, die noch nicht hier oben gewesen sind - die Fortbewegung auf dem Mond vorstellen, denken sie bestimmt an die freie Mondlandschaft und an Raumanzuge. Da geht es naturlich oft langsam zu. Die Masse, durch den Raumanzug angewachsen, ergibt eine gro?e Tragheit, die sich bei der kleinen Schwerkraft nur schwer uberwinden la?t.'

'Stimmt. Ich habe die klassischen Filmaufnahmen von den ersten Astronauten gesehen, die alle Schuler vorgefuhrt bekommen; ihre Bewegungen sind fast wie unter Wasser. Dieser Eindruck verbla?t nicht so schnell, auch wenn man es dann besser wissen mu?te.'

'Sie waren uberrascht, wenn Sie wu?ten, wie schnell wir heutzutage auch mit dem Raumanzug vorwartskommen', sagte Selene. 'Und hier unter der Oberflache, ohne Raumanzuge, sind wir so schnell wie auf der Erde. Die niedrigere Schwerkraft wird durch richtigen Muskeleinsatz wieder wettgemacht.'

'Aber sie konnen auch nach Belieben langsam sein.' Der Mann von der Erde beobachtete die Akrobaten. Sie waren mit gro?em Tempo heraufgekommen und sanken nun absichtlich langsam wieder ab. Sie schwebten hinab und klatschten dabei gegen die Griffe, um ihren Fall weiter abzubremsen. Als sie den Boden erreichten, wurden sie von zwei anderen abgelost. Und dann kamen wieder zwei. Abwechselnd von jedem Team ein Paar, so wetteiferten die Gruppen in ihrer Virtuositat.

Jedes Paar vollfuhrte synchrone Bewegungen, die von Paar zu Paar in Anstieg und Fall komplizierter wurden. Ein Paar stie? sich sogar gleichzeitig ab, durchquerte den Tunnel in einer flachen Parabel und erreichte den Griff, den der andere soeben verlassen hatte. Dabei glitten die beiden in der Mitte aneinander vorbei, ohne sich zu beruhren. Die Einlage wurde mit lautem Beifall quittiert.

'Vermutlich fehlt mir die Erfahrung, die Schwierigkeit dieser Kunst zu ermessen. Sind das alles eingeborene Lunarier?' fragte der Mann von der Erde.

'Das mussen sie schon sein', antwortete Selene. 'Die Turnhalle steht zwar allen Lunarburgern zur Verfugung, und einige Immigranten machen sich auch ganz gut, aber bei dieser Virtuositat kann man davon ausgehen, da? die Teilnehmer auf dem Mond gezeugt und geboren sind. Sie haben die richtige Ausstattung dafur - mehr als ein Erdgeborener - und au?erdem das richtige Kindheitstraining. Die meisten Teilnehmer sind unter achtzehn.'

'Es scheint nicht gerade ungefahrlich zu sein - trotz der Mondschwerkraft.'

'Ab und zu gibt es Knochenbruche. Ein Todesfall ist wohl noch nicht vorgekommen, aber ich erinnere mich, da? sich jemand mal das Ruckgrat brach und hinterher gelahmt war. Ein schrecklicher Unfall; ich war auch noch dabei... Oh, schauen Sie, jetzt kommen die Impros.'

'Die was?'

'Die Improvisationen. Bisher waren die Ubungen vorgeschrieben. Die Aufstiege erfolgten nach einem festen Schema.'

Der Trommelrhythmus schien jetzt leiser zu werden, wahrend ein Mann emporstieg und sich plotzlich ins Freie stie?. Mit einer Hand fing er sich an einer Querstange, kreiste einmal darum und lie? los.

Der Mann von der Erde lie? sich keine Bewegung entgehen. 'Verbluffend', sagte er. 'Er schwingt sich wie ein Gibbon um die Stangen.'

'Wie ein was?' 'Gibbon. Menschenaffe - der einzige Menschenaffe, der noch in freier Wildbahn existiert. Sie...' Er bemerkte Selenes Gesichtsausdruck und sagte: 'Das sollte keine Beleidigung sein, Selene; Menschenaffen sind anmutige Tiere.'

Selene runzelte die Stirn. 'Ich habe mal Bilder gesehen.'

'Aber sicher haben Sie noch keine Gibbons in Bewegung erlebt... Ich konnte mir wohl denken, da? Erdchen die Lunarier 'Gibbons' nennen und es abwertend meinen, aber nichts hat mir ferner gelegen ...'

Er lehnte mit beiden Ellenbogen auf dem Gelander und beobachtete die Bewegungen, die wie ein Lufttanz waren. Er fragte: 'Wie leben die Erd-Immigranten hier, Selene? Ich meine Immigranten, die den Rest ihrer Tage auf dem Mond verbringen? Da ihnen die grundlegendsten lunarischen Fahigkeiten abgehen... '

'Das macht uberhaupt keinen Unterschied. Immis sind vollwertige Burger. Eine Diskriminierung gibt es nicht, jedenfalls keine rechtliche Diskriminierung.'

'Was soll das hei?en, keine rechtliche Diskriminierung?'

'Nun, Sie haben es selbst gesagt. Es gibt Dinge, die Immis einfach nicht fertigbringen. Unterschiede bestehen also. Ihre medizinischen Probleme sind anders, und sie haben meistens auch eine schlechtere medizinische Vergangenheit. Wenn sie in mittlerem Alter zu uns kommen, sehen sie auch so aus - alt.'

Der Mann von der Erde senkte verlegen den Blick. 'Konnen sie querheiraten? Ich meine, Immigranten und Lunarier?'

'Sicherlich. Ja, sie konnen Kinder zeugen.'

'Das meinte ich.'

'Naturlich. Warum sollte ein Immigrant keine guten Erbanlagen mitbringen? Himmel, mein Vater war auch ein Immi, wenn ich auch mutterlicherseits schon in der zweiten Generation Lunarier bin.'

'Da mu? ihr Vater aber heraufgekommen sein, als er noch ziemlich... Oh, mein Gott...' Er erstarrte am Gelander, atmete zittrig ein. 'Ich dachte, er wurde die Stange verfehlen.'

'Keine Sorge', entgegnete Selene. 'Das ist Marco Fore. Er macht gern solche Matzchen - ich meine, im letzten Augenblick erst zuzugreifen. Eigentlich ist das unschon, und ein wirklicher Champion tut es nicht. Trotzdem... Mein Vater war bei seiner Ankunft zweiundzwanzig.'

'So sollte es auch sein. Noch jung genug, um sich anpassen zu konnen, keine Gefuhlsbindungen auf der Erde. Fur das mannliche Erdchen mu? es sehr schon sein, eine geschlechtliche Beziehung mit einer ...'

'Geschlechtliche Beziehung!' Mit ihrem Lacheln schien Selene einen Schock zu uberspielen. 'Sie glauben doch nicht etwa, da? mein Vater geschlechtliche Beziehungen zu meiner Mutter hatte! Wenn meine Mutter das horte, wurde sie Ihnen sofort gehorig den Kopf waschen.'

'Aber... '

'Kunstliche Besamung, um alles in der Welt! Sex mit einem Erdenmann!'

Der Besucher blickte sie ernst an. 'Ich dachte, es gabe keine Diskriminierung?'

'Das ist doch keine Diskriminierung, das ist physikalische Tatsache. Ein Mann von der Erde kommt mit unserem Gravitationsfeld nicht zurecht. Wie geubt er auch sein mag, im Ansturm der Leidenschaft vergi?t er sich vielleicht. Ich wurde das Risiko jedenfalls nicht eingehen. Der ungeschickte Narr konnte sich glatt Arme oder Beine brechen - oder, was schlimmer ware, mir das gleiche antun. Die Verbindung von Genen ist zwar denkbar, aber Sex ist eine ganz andere Sache.'

'Es tut mir leid, aber ist kunstliche Besamung nicht verboten?'

Sie beobachtete gedankenverloren die Turner. 'Das ist wieder Marco Fore. Solange er sich nicht produziert, ist er ganz gut, und seine Schwester steht ihm kaum nach. Wenn sie zusammenarbeiten, sind ihre Bewegungen das reinste Gedicht. Schauen Sie! Sie kommen zusammen hoch und umschwingen gleich die Stange, als waren sie eins. Er tut manchmal ein wenig gro?spurig, aber seine Muskelbeherrschung ist erstklassig... Ja, kunstliche Besamung ist nach den Erdgesetzen verboten, aber wenn medizinische Grunde ins Spielkommen, ist sie erlaubt, und das ist naturlich oft der Fall, wie es jedenfalls hei?t.'

Alle Akrobaten waren nun emporgestiegen und bildeten einen gro?en Kreis unterhalb des Gelanders; die Roten auf der einen Seite, die Blauen auf der anderen. Sie hatten die Arme gehoben, und der Applaus drohnte laut. Eine gro?e Menschenmenge hatte sich am Gelander versammelt.

'Man sollte hier ein paar Sitze aufstellen', sagte der Mann von der Erde.

'Aber nein. Das Ganze ist keine Vorstellung, sondern eine Turnubung. Wir wollen gar nicht mehr Zuschauer, als hier oben bequem unterkommen. Wir gehoren da unten hin, nicht hier herauf.'

'Sie beherrschen das auch, Selene?'

'Sozusagen. Jeder Lunarier kann es. Ich bin naturlich nicht so gut wie sie. Ich habe noch in keiner Mannschaft mitge-macht...Jetzt kommt das Gerangel, das Spiel ohne Regeln, der wirklich gefahrliche Teil. Alle zehn sind gleichzeitig in der Luft, und jede Seite versucht die Leute der Gegenseite in einen Fall zu drangen.'

'Einen wirklichen Fall?'

'So real wie moglich.'

'Geht das denn ohne Verletzungen ab?'

'Gelegentlich nicht. Theoretisch werden Gerangel nicht gern gesehen. Tatsachlich konnte man sie als Matzchen bezeichnen, denn unsere Bevolkerung ist nicht so gro?, da? wir jemanden ohne wirklichen Grund aus dem Verkehr ziehen konnen. Dennoch sind sie beliebt, und wir bringen einfach nicht die Stimmen fur ein Verbot

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