»Nur vierundzwanzig Stunden.«

»Mir kam es langer vor. Ich hatte die irrsinnigsten Traume, wenn es denn Traume waren. Leute liefen rein und raus, schrien und tobten, stets im Zorn. Sind wir immer noch in der Abtei ...« Sie brach ab.

»In Aldreds Abtei«, erganzte Eadulf. »Wir kamen vorgestern abend an. Kannst du dich an irgend etwas erinnern?«

Fidelma dachte nach.

»Das letzte, an das ich mich erinnere, ist der Besuch vom Apotheker und dann an irgendwas von einer Frau, die in der Abtei gesehen wurde. Danach ist alles au?erst verschwommen. Da lag ich wohl im Fieber.«

Eadulf brachte ihr eine Schussel mit Bruhe und ein Stuck Brot.

»Nachdem das Fieber nun vorbei ist, brauchst du erst mal Nahrung. I? das hier, und danach erzahle ich dir, was sich ereignet hat.«

Bei der Mahlzeit wurde klar, da? Fidelma noch ziemlich schwach war. Ihre Hande zitterten, und Eadulf mu?te ihr bei der Suppe helfen. Sie schien erschopft. Eadulf erkannte, da? sie an diesem Tag unmoglich reisen konnte.

Sie hatte die Schussel halb geleert und an dem Brot geknabbert, dann schob sie alles fort. Eadulf raumte ab, und sie sank wieder aufs Bett und schlo? die Augen.

»Du wolltest mir ... was erzahlen«, gahnte sie.

Eadulf schuttelte den Kopf. »Jetzt nicht. Du mu?t erst noch schlafen.«

»Ich bin so . mude .«

Im nachsten Moment schlief sie schon fest.

Eadulf beendete seine eigene Mahlzeit und gab sich wieder dem Nachdenken hin.

Ein oder zwei Stunden spater war er damit noch nicht viel weiter gekommen. Die Tur ging leise auf, und Bruder Higbald trat ein. Er nickte Eadulf zu und betrachtete Fidelma.

»Das Fieber geht zuruck«, erklarte Eadulf als Antwort auf Higbalds hochgezogene Augenbraue. »Sie liegt jetzt in gesundem Schlaf.«

Bruder Higbald deutete auf eine Zimmerecke, weil er sprechen wollte, ohne Fidelma zu storen.

»Ich habe gehort, was letzte Nacht passiert ist«, flusterte er. »Jemand hat den Hochaltar entweiht.«

»Und uns gibt man die Schuld«, unterbrach ihn Eadulf verargert. »Ich wei?. Jetzt bin ich entschlossen, deinem Rat zu folgen. Es ware toricht, sich dem hier noch langer auszusetzen.«

Bruder Higbald stimmte zu.

»Eine kluge Entscheidung. Aber wann wird Schwester Fidelma reisen konnen?«

»Fruhestens morgen, meine ich.«

»Wei? sie, wessen man sie anklagt?«

»Ich habe es ihr noch nicht gesagt. Wenn ich es tue, wei? ich nicht, ob sie es uberhaupt versteht. In ihrem Land gibt es so etwas nicht.«

»Nun, je eher ihr von hier wegkommt, desto besser.«

»Hast du mehr daruber gehort, was jetzt vorgeht?«

Bruder Higbald schuttelte den Kopf. »Ich glaube, Abt Cild hat vor irgend etwas Angst. Aber er wirft euch beiden vor, daran schuld zu sein.«

»Es gibt hier ein Geheimnis, das ich nicht entratseln kann, Bruder Higbald. Du bist anscheinend der einzige Mensch, von dem ich etwas Vernunftiges erfahre. Was ist das fur ein dunkler Schatten, der auf der Abtei lastet? Hast du eine Ahnung?«

Bruder Higbald zuckte die Achseln. »Ich habe es nie als dunklen Schatten empfunden. Abt Cild ist ein Mensch von schwankenden Stimmungen, wie wir alle - jeder auf seine Art. Es gibt unterschwellige gefuhls-ma?ige Stromungen zwischen uns: Eifersuchteleien, Verdachtigungen, Rivalitaten. Aber das ist doch ganz normal. Erst mit dem Tod Botulfs und den weiteren Ereignissen in der letzten Nacht deutete sich an, da? ein wirkliches Problem existiert.«

»Sonst war gar nichts?« fragte Eadulf enttauscht. »Kein Hinweis darauf, da? Botulf Gefahr drohte? Nicht mal ein leiser Verdacht im Zusammenhang mit dem Tod von Lady Gelgeis?«

»Nun, Cilds Stimmungen wechselten oft nach Garbs erstem Besuch, und unter den Brudern wurde immer geredet. Ich glaube, wir alle waren besturzt, als Bo-tulfs Leichnam entdeckt wurde. Aber Bruder Wigstan sagte, er habe zur selben Zeit den beruchtigten Geachteten Aldhere hier in der Nahe gesehen. Es gab keinen Anla?, Abt Cild zu mi?trauen, als er Aldhere beschuldigte.«

»Obgleich Aldhere Cilds Bruder ist?«

»War nicht Kain auch Abels Bruder? Bruder mussen nicht immer von gleicher Denkart sein.«

»Hast du dir nie Gedanken daruber gemacht, weshalb Cild seinen Bruder nicht mag?«

»Konig Ealdwulf selbst hatte Aldhere geachtet. Das war alles, was wir zu wissen brauchten.«

»Als nun neulich abends der Ire Garb hier auftauchte, sich als Bruder von Lady Gelgeis zu erkennen gab und Cild anklagte, er habe sie ermordet, was dann?«

»Die meisten Bruder waren entsetzt. Ich hatte ihn schon einmal gesehen, wie du wei?t.«

»Nur noch eine Frage: Wenn das alles so ist, warum bist du bereit, dich gegen Abt Cild zu stellen und Schwester Fidelma und mir zu helfen?«

Bruder Higbald schien etwas uberrascht von dieser Frage und dachte einen Moment daruber nach.

»Vielleicht, weil ich nicht an Geister und Hexerei glaube. Ich meine, in dieser Sache verhalt sich Abt Cild ungerecht. Aber ich denke, er handelt aus Furcht und nicht aus Bosheit.«

»Doch wovor hat er Angst? Wenn er in der Gewi?heit seines Rechts handelt, was hat er da zu furchten?«

»Falls du in der Lage bist, mein Freund, darauf eine Antwort zu finden, kannst du vielleicht auch alle anderen Ratsel losen.« Bruder Higbald lachelte. »Um welche Zeit wollt ihr aufbrechen? Erinnerst du dich noch an den Weg, den ich dir beschrieben habe?«

»Zweimal nach links, anschlie?end nach rechts, ich wei?. Ich habe keine Ahnung, wann. Es hangt davon ab, wie Fidelma sich fuhlt.«

»La? mich wissen, wann ihr weggehen wollt, dann werde ich euch nach Kraften helfen.«

»Vielen Dank, Bruder Higbald. Ich bin dir sehr dankbar fur alles, was du fur uns getan hast.«

Nachdem Bruder Higbald gegangen war, lie? sich Eadulf nieder, um die Lage zu uberdenken, erkannte aber sehr schnell, da? Fidelmas Leitspruch, man konne ohne genaue Kenntnisse keine Vermutungen anstellen, auch auf diesen Fall zutraf. Er hatte uberhaupt keine Grundlage fur Vermutungen.

Erst nach dem Mittag erwachte Fidelma aus ihrem gesunden Schlaf.

»Eadulf?« Sie erhob sich unsicher, lie? sich aber wieder zuruckfallen.

Eadulf brachte ihr einen Becher kaltes Wasser, und sie leerte ihn dankbar.

»Wie fuhlst du dich jetzt?« fragte er.

»Schrecklich. Wie krank war ich?«

»Ziemlich krank.« Er legte ihr die Hand auf die Stirn. »Wenigstens ist das Fieber jetzt vollstandig weg.«

»Mein Hals fuhlt sich furchtbar rauh an.«

»Du hattest hohes Fieber, aber du hast es uberstanden, Deo gratias

»Sind wir noch in der Abtei?«

Ihre Augen waren klar, und sie nahm ihre Umgebung wahr.

»Ja.«

»Wie lange war ich abwesend?«

»Erinnerst du dich daran, da? du heute morgen aus dem Fieber erwachtest und mir dieselbe Frage stelltest?«

Fidelma dachte nach und lachelte.

»Ja. Sind wir erst zwei Tage hier?«

»Es ist kurz nach dem Mittag des Tages, an dem dein Fieber nachlie?. Jetzt mu?t du dich ausruhen, dich entspannen und Kraft gewinnen.«

Fidelma nickte langsam. »Und du hast mich die ganze Zeit gepflegt?«

»Ja. Der Apotheker der Abtei, Bruder Higbald, half mir dabei.«

Fidelma uberlegte. »Ich dachte, ich hatte dir vorher noch eine Frage gestellt . uber etwas, was mich be- unruhigte.« Sie hielt inne. »Ach, ja. Ich empfand so etwas wie Feindschaft, wahrend ich krank lag. Von Leuten, die

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