Mr. Mackenzie wurde unter seiner rosigen Gesichtshaut totenbleich. Wir standen unmittelbar neben der Flurtur, und in dem daraus fallenden Licht konnte ich alles recht gut erkennen. Mackenzie ergriff den Kopf bei den Haaren und hielt ihn ins Licht.
»Es ist der Kopf von einem der Manner, die Flossie begleitet haben«, brachte er keuchend hervor.
Wir standen wie angewurzelt da und starrten uns gegenseitig entsetzt an. Was sollten wir nun tun?
Im selben Moment klopfte es an der Tur, die ich gerade noch verriegelt hatte, und eine angstliche Stimme rief: »Offne, mein Vater, offne!«
Die Tur wurde aufgeschlossen, und herein sturzte ein zu Tode verangstigter Mann. Es war einer der Spaher, die Mackenzie ausgesandt hatte.
»Mein Vater«, schrie er, »die Masai sind hinter uns her! Ich sah eine riesige Anzahl von ihnen um den Hugel herumkommen. Sie sind auf dem Weg zu dem alten steinernen Kraal unten an dem kleinen Flu?. Mein Vater, mache dein Herz stark! Mitten unter ihnen sah ich den wei?en Esel, und auf ihm ritt die Wasserrose (Flossie). Ein Elmoran fuhrte den Esel und neben ihm ging weinend das Kindermadchen. Die Manner, die am Morgen mit ihr gegangen sind, konnte ich nicht erkennen.«
»Lebte das Kind?« fragte Mackenzie mit heiserer Stimme.
»Sie war wei? wie der Schnee, mein Vater, aber wohlbehalten. Sie kamen ganz dicht an mir vorbei, und als ich von meinem Versteck aufblickte, sah ich ganz deutlich ihr Gesicht im Licht der Sterne.«
»Gott stehe ihr und uns bei!« brachte der Geistliche mit einem Stohnen hervor.
»Zu wie vielen sind sie?« wollte ich wissen.
»Mehr als zweihundert - zweihundert und ein halbes Hundert.«
Wieder warfen wir uns einen Blick zu. Was sollten wir in dieser Lage tun? Ein lautes, forderndes Rufen an der Tur schreckte uns aus unseren Gedanken auf.
»Offne die Tur, wei?er Mann; offne die Tur! Hier ist ein Bote - ein Bote, der mit dir sprechen will.«
Umslopogaas rannte zur Mauer, hielt sich mit seinen langen Armen an der Krone fest, zog sich ein Stuck hoch und schaute uber die Mauer hinweg nach drau?en.
»Ich sehe nur einen einzelnen Mann«, meldete er. »Er ist bewaffnet und tragt einen Korb bei sich.«
»Offne die Tur!« rief ich ihm zu. »Nimm deine Axt, stell dich neben den Eingang und la? den Mann herein. Sollte noch ein weiterer folgen, dann tote ihn.«
Der Zulu offnete die Tur. Rasch stellte er sich in den Schatten der Mauer und hob seine Axt, bereit, sofort zuzuschlagen. Just in diesem Augenblick ging der Mond auf. Ein paar Sekunden warteten wir gespannt, und dann kam ein Masai Elmoran zur Tur hereinstolziert. Er trug den vollen Kriegsschmuck, wie ich ihn schon beschrieben habe. Bei sich hatte er einen gro?en Korb. Die Spitze seines Speers blitzte hell im Mondlicht auf, wahrend er auf uns zuging. Er war von athletischer Statur. Sein Alter schatzte ich auf etwa funfunddrei?ig Jahre. Tatsachlich schien keiner der Masai, die ich bisher gesehen hatte, kleiner als sechs Fu? zu sein, obwohl die meisten von ihnen noch ziemlich jung waren. Der Masai blieb vor uns stehen, setzte den Korb ab und rammte seinen Speer in den Boden, so da? er aufrecht stand.
»La?t uns sprechen«, sagte er. »Der erste Bote, den wir zu euch sandten, konnte nicht sprechen.« Er zeigte auf den Kopf, der auf dem Steinfu?boden lag. Nun, da der Mond auf ihn schien, gab er einen grausigen Anblick ab. »Aber ich habe Worte zu sagen, wenn ihr Ohren habt, sie zu horen. Auch Geschenke habe ich mitgebracht« - er wies auf den Korb, der auf der Erde stand, und stie? ein solch unverschamtes Lachen aus, wie man es kaum beschreiben kann, aber welches man doch bewundern mu?te, wenn man bedachte, da? er sich praktisch in der Hohle des Lowen befand.
»Sprich weiter!« sagte Mr. Mackenzie.
»Ich bin der >Lygonani< (Kriegshauptmann) einer Abteilung der Masai vom Guasa Amboni. Ich verfolgte mit meinen Mannern diese drei wei?en Man-ner« - er deutete auf Sir Henry, Good und mich -, »aber sie waren zu schlau fur uns und konnten hierher fliehen. Wir haben mit ihnen einen Streit auszufechten und werden sie toten.«
»Werdet ihr das wirklich, mein Freund?« sagte ich mehr zu mir selbst.
»Als wir diese Manner verfolgten, fingen wir heute morgen zwei schwarze Manner, eine schwarze Frau, einen wei?en Esel und ein wei?es Madchen. Einen der schwarzen Manner toteten wir - sein Kopf liegt dort auf dem Boden. Der andere konnte uns entkommen. Die schwarze Frau, das kleine wei?e Madchen und den wei?en Esel nahmen wir mit. Als Beweis fur das, was ich sage, habe ich diesen Korb mitgebracht. Das wei?e Madchen trug ihn bei sich. Ist es nicht der Korb deiner Tochter?«
Mr. Mackenzie nickte. Der Krieger fuhr fort: »Gut! Mit dir und deiner Tochter haben wir keinen Streit, wir wollen auch nichts von euch - nur dein Vieh. Wir haben es schon eingefangen - zweihundertvierzig Kopfe - ein Tier fur den Vater eines jeden Kriegers.«
Mr. Mackenzie seufzte tief; seine Viehherde bedeutete ihm sehr viel. Er hatte sie mit Sorgfalt und unter gro?en Muhen herangezogen.
»So. Au?er da? wir dein Vieh nehmen, wird nichts geschehen, aber nur ...«, fugte er freimutig hinzu, wobei er einen Blick auf die Mauer warf, »weil dieser Platz zu schwer einzunehmen ist. Aber mit diesen Mannern ist es etwas anderes! Tage und Nachte haben wir sie verfolgt; wir mussen sie toten. Wenn wir unverrichteter Dinge zu unserem Kraal zuruckkehren, dann werden alle Madchen uns verspotten und verhohnen. So lastig es auch sein mag; sie mussen sterben.
Nun habe ich einen Vorschlag fur dich. Wir mochten nicht gerne das kleine Madchen toten; es ist zu hubsch, um ihm ein Leid zuzufugen. Auch ist es sehr tapfer. Gib uns einen dieser drei Manner - Leben gegen Leben -, und wir werden sie freilassen, dazu noch die schwarze Frau. Dies ist ein gro?zugiges Angebot, wei?er Mann. Wir wollen nur einen, nicht alle drei. Wir werden eine andere Gelegenheit abwarten, bis wir auch die anderen beiden toten konnen. Ich suche mir nicht einmal den Mann heraus, der mir am besten gefallen wurde - namlich der Gro?e dort« - er zeigte auf Sir Henry -, »er sieht sehr kraftig aus und wurde nicht so schnell sterben.«
»Und wenn ich sage, ich liefere den Mann nicht aus?« fragte Mr. Mackenzie.
»Tu das nicht, wei?er Mann!« erwiderte der Masai. »Denn in diesem Fall wird deine Tochter sterben, sobald der Morgen graut. Die Frau, die bei ihr ist, sagt, du hattest keine anderen Kinder. Wenn sie alter ware, dann wurde ich sie als Sklavin nehmen; da sie aber noch so jung ist, werde ich sie mit meinen eigenen Handen toten - mit diesem Speer. Wenn du willst, kannst du Zeuge ihrer Hinrichtung werden. Ich gebe dir freies Geleit dazu.« Dann lachte der Schurke aus vollem Halse uber seinen brutalen Scherz.
In der Zwischenzeit hatte ich fieberhaft nachgedacht, wie man es haufig in Notsituationen tut. Ich war entschlossen, mich selbst gegen Flossie austauschen zu lassen. Ich wage kaum, das zu erwahnen, aus lauter Furcht, man konnte mich mi?verstehen. Da? um Himmels willen bei keinem der Gedanke aufkomme, daran sei irgend etwas Heroisches oder sonst so ein Unsinn. Es war lediglich eine Frage des gesunden Menschenverstandes und zudem ein Gebot der Gerechtigkeit, die mich dazu verleiteten, mich als Tauschobjekt anzubieten. Mein Leben war alt und wertlos, ihres hingegen war jung und voller Zukunft. Ihren Tod hatten sowohl ihr Vater als auch ihre Mutter kaum verwinden konnen; mein Tod hingegen hatte bei niemandem eine sonderlich gro?e Lucke hinterlassen; im Gegenteil - gewisse wohltatige Institutionen hatten allen Grund gehabt, sich daruber zu freuen. Au?erdem trug indirekt ich die Schuld daran, da? das liebe kleine Madchen in diese schlimme Situation geraten war. Und nicht zuletzt war ich der Meinung, da? ein Mann weit besser dafur gewappnet war, dem Tode in einer so schrecklichen Gestalt zu begegnen, als ein kleines Kind. Das hei?t nicht, da? ich beabsichtigte, mich von diesen Bestien langsam und grauenvoll zu Tode martern zu lassen -dazu steckt viel zuviel von einem Feigling in mir; denn von Natur aus bin ich ein sehr furchtsamer Mensch. Mein Plan war, mich nach dem gegluckten Austausch, wenn das Madchen in Sicherheit war, sofort zu erschie?en. Ich bin sicher, da? der Allmachtige die besonderen Umstande des Falles in Betracht gezogen und mir den Selbstmord verziehen hatte. All dies und vieles andere scho? mir innerhalb von nur ein paar Sekunden durch den Kopf.
»Horen Sie, Mackenzie«, rief ich. »Sagen Sie dem Mann, da? ich mich fur Flossie austauschen lassen will. Die einzige Bedingung, die ich stelle, ist die, da? sie mich erst dann toten, wenn Flossie unversehrt hier im Haus angelangt ist.«
»Was?« entfuhr es Sir Henry und Good gleichzeitig. »Das la?t du schon bleiben!«
»Nein, nein«, mischte sich Mr. Mackenzie ein, »ich werde um keinen Preis meine Hande mit dem Blut eines Menschen besudeln. Wenn es Gottes Entscheidung ist, da? meine Tochter diesen schrecklichen Tod erleidet, so soll Sein Wille geschehen. Sie sind ein tapferer Mann, Quatermain (was auf keinen Fall stimmt), und ein edelgesinnter dazu, aber ich werde nicht zulassen, da? Sie in den Tod gehen.«