Plotzlich wurde Sherlock klar, dass er mehr als die beiden wusste. Die Leiche, die blutigen Beulen, die Rauchwolke: All das entsprach genau dem, was Matthew Arnatt uber den Mann erzahlt hatte. Dem Mann, der in der Stadt gestorben war. Was war das fur Rauch?
»Lassen Sie uns wenigstens warten, bis ein Experte einen Blick auf die Leiche werfen konnte.«
Der Arzt schuttelte verargert den Kopf. »Was fur ein Experte? Ich bin durchaus in der Lage, eine Obduktion durchzufuhren. Aber ein Blick auf diese geschwollenen Pestbeulen genugt mir. Wir mussen davon ausgehen, dass wir es hier mit der Beulenpest zu tun haben, und dementsprechend handeln.«
Crowe hob beschwichtigend eine Hand. »Ich kenne einen Dozenten fur Tropenkrankheiten, der in Guildford lebt. Professor Winchcombe. Wir konnten nach ihm schicken lassen. Ich werde einen Brief schreiben.«
»Schreiben Sie, wenn Sie mochten«, erwiderte der Doktor. »Aber wahrend Sie das machen, werde ich mit dem Burgermeister und dem Stadtrat sprechen. Und ebenfalls mit dem Bischof von Winchester.«
»Was hat der denn mit der Sache zu tun?«, fragte Crowe.
»Farnham Castle ist der offizielle Landsitz Seiner Exzellenz.«
Sherlock kam unauffallig naher, aber Amyus bemerkte ihn und forderte ihn mit einer Geste auf fernzubleiben. Verargerung flammte in Sherlock auf. Schlie?lich war er es doch gewesen, der die Leiche gefunden hatte. Aber wie es aussah, wollte Crowe ihn jetzt au?en vorlassen. Was erwartete Crowe von ihm? Dass er untatig hier herumstand, bis das Gesprach beendet war, um dann einfach wieder da mit dem Unterricht weiterzumachen, wo er unterbrochen worden war? Er konnte Besseres mit seiner Zeit anfangen. Und wenn Crowe sich daruber beschweren wollte, sollte er doch einen Brief an Mycroft schreiben.
Zutiefst verdrossen wandte Sherlock sich um und marschierte schnurstracks in den Wald zuruck. Kaum hatte er die ersten Meter zwischen den Baumstammen zuruckgelegt, war das Haus auch schon aus seinem Blickfeld verschwunden. Der weiche Waldboden federte unter seinen Schritten. Um ihn herum gaben die in der sengenden Nachmittagssonne trocknenden Pflanzen ein leises Knistern von sich, und hin und wieder raschelte es im Unterholz, wenn sich dort ein Vogel oder Fuchs bewegte. Der Geruch von feuchtem Laub stieg vom Boden auf und uberdeckte die letzten Reste der penetranten Brandy- und Karboldunste, die er noch in der Nase hatte. Da es keine Pfade und Wege durch das dichte Unterholz gab, sah Sherlock sich unversehens gezwungen, immer wieder vorsichtig uber gefallene Baumstamme zu kraxeln oder Wei?dornbusche in gro?em Bogen zu umkurven, um irgendwie voranzukommen.
Da er den Wald an einer anderen Stelle als zuvor mit Amyus Crowe betreten hatte, war er nicht sicher, wo er sich befand. Das Haus war schon langst seinem Blick entschwunden, und Sherlock wurde plotzlich bewusst, dass er keine Ahnung hatte, in welche Richtung er sich bewegte.
Er konnte sich irgendwo mitten im tiefen Wald befinden, aber ebenso gut auch am Rand, und wenn er nicht aufpasste, lief er vielleicht einfach immer weiter, bis er mitten in der Wildnis landete. Es gab keine Moglichkeit, seinen Standort zu bestimmen. Und obwohl er versuchte, sich die Formen der Baume einzupragen, an denen er vorbeikam, musste er schlie?lich feststellen, dass sie am Ende irgendwie alle gleich aussahen.
Irgendetwas zog ihn tiefer in den Wald hinein. Irgendeine Art von Urinstinkt, den er nicht verstand. Manche Leute sprachen uber Stadte, als hatten diese eine eigene Personlichkeit. Sherlock hatte so etwas Ahnliches in London empfunden, als er einmal gemeinsam mit seinem Vater die Stadt besucht hatte, und in geringerem Ma?e auch bei den Streifzugen durch Farnham, die er mit Matthew Arnatt unternommen hatte. Aber hier im Wald spurte er die Anwesenheit einer anders gearteten Personlichkeit. Etwas, das zeitlos und dunkel war. Aber was immer es auch sein mochte: Es hatte gesehen, wie der Farmarbeiter gestorben war, und sein Tod hatte es gleichgultig gelassen. Ebenso gleichgultig wie die Hunderte, Tausende, Millionen von tierischen und menschlichen Todesfallen, deren Zeuge es uber die Jahrtausende geworden war.
Kaum hatte er diese Gedanken verscheucht, stie? er unversehens auf die Spuren, die der Schubkarren auf dem Waldboden hinterlassen hatte. Er folgte ihnen bis zu der Stelle, wo er die Leiche gefunden hatte. Die Moose und Graser, die von dem toten Korper niedergedruckt worden waren, hatten sich wieder aufgerichtet. Somit war keine Spur mehr von dem Opfer auf dem Boden zu erkennen. Die genaue Position des Toten konnte Sherlock nur noch mittels der Stelle rekonstruieren, an der die Schubkarrenspuren endeten.
Er starrte auf den Boden, ohne genau zu wissen, wonach er eigentlich Ausschau hielt. Er versuchte sich vorzustellen, wie wohl die letzten Momente fur den Mann gewesen waren. War er bereits im Fieberwahn auf die Lichtung gestolpert und in die Knie gegangen, ehe er der Lange nach zusammengebrochen war? Oder hatte er – ohne zu ahnen, dass er krank war – einen Spaziergang unternommen, bevor er plotzlich ohnmachtig wurde und sich dann auf Gesicht und Handen Beulen bildeten, wahrend er bewusstlos am Boden lag? Das musste sich doch irgendwie anhand seiner Fu?spuren herausfinden lassen. Wenn er schon halb bewusstlos herumgestolpert ware, mussten die Spuren ziellos umherfuhren. Ware er allerdings normal vor sich hingegangen, mussten sie in einer geraden Linie verlaufen. Moglicherweise war es fur den Doktor hilfreich zu wissen, wie schnell die Erkrankung ausgebrochen war. Und wenn nicht, konnte Sherlock vielleicht zumindest Amyus Crowe mit seiner Kombinationsgabe beeindrucken.
Sherlock hockte sich hin und untersuchte den Boden genau. Die Stiefel des Mannes hatten deutliche und unverwechselbare Abdrucke im Boden hinterlassen. Der Absatz des einen Stiefels war starker abgelaufen als der andere. Sherlock konnte leicht die Abdrucke des Mannes von seinen und denen von Amyus Crowe unterscheiden. Er verfolgte die Stiefelspuren wieder zu den Baumen zuruck. Sherlock stellte fest, dass sie ein ziemlich merkwurdiges Muster aufwiesen: Manchmal zeigten die Abdrucke einen Moment lang in eine Richtung und dann urplotzlich wieder in eine andere, was aussah, als ware der Mann standig herumgewirbelt. Hatte er vielleicht getanzt? Nein, das war Blodsinn. War ihm schwindelig geworden? Das war schon wahrscheinlicher. Vielleicht hatte die Krankheit – um welche auch immer es sich handelte – seinen Gleichgewichtssinn beeintrachtigt.
Sherlock folgte der wie wirres Gekrakel aussehenden Spur von der Lichtung weg bis zu der Stelle, wo sie sich plotzlich entzerrte. Von da an verlief sie in gerader Linie weiter, nur um hin und wieder einen Bogen um einen Baum oder einen umgesturzten Baumstamm zu schlagen. Sherlocks Vermutung nach fuhrte sie von Holmes Manor fort. Es sah aus, als ob das, was immer den Mann auch befallen hatte, ganz plotzlich uber ihn gekommen war.
In der einen Minute war er offensichtlich noch vollig normal durch die Gegend gelaufen, um in der nachsten schon wie ein Betrunkener im Kreis umherzutaumeln und kurz darauf zu sturzen. Und dann zu sterben.
Sherlock blieb an der Stelle stehen, wo sich die Fu?abdrucke veranderten. Verwirrt sah er sich um. Irgendetwas unmittelbar vor ihm auf dem Boden storte ihn. Er starrte einen Moment lang auf die Baume, Busche und schlie?lich auf das Gras, um herauszufinden, was ihn so irritierte. Dann erkannte er es. Das Gras vor ihm wies eine leicht andere Farbe auf als sonst im Wald. Es war gelber. Sherlock kniete sich nieder und beruhrte den Boden. Etwas Farbiges und Staubiges blieb an seinen Fingern haften. Irgendetwas war dort verstreut worden. Etwas, das nicht dorthin gehorte.
Sherlock rieb die Fingerspitzen aneinander. Sie waren schmierig. Worum es sich auch immer bei dem gelben Pulver handelte, es fuhlte sich nicht nach etwas an, das er schon einmal gesehen hatte. Einen Moment lang geriet er in Panik. Sein Herz raste bei dem Gedanken, dass vielleicht dieses gelbe Pulver die Krankheit ausgelost haben konnte. Aber nach kurzem Nachdenken kam er zu der Uberzeugung, dass Krankheiten wahrscheinlich nicht von ein paar Pulverflecken hervorgerufen wurden. Sie wurden ubertragen. Und zwar von Mensch zu Mensch. Eine andere Moglichkeit war jedoch, dass es sich um Gift handelte. Aber welches Gift wurde bei einem Menschen solche Beulen an Gesicht und Handen hervorrufen?
Wahrend er noch fieberhaft daruber nachdachte, zog Sherlock den Brief aus der Tasche, den er an diesem Morgen von Mycroft bekommen hatte. Er nahm den Brief aus dem Umschlag und steckte ihn wieder in die Tasche. Den Umschlag hielt er so an den Ecken, dass er sich wie ein kleiner Mund offnete, und fuhr damit so uber das Gras, dass ein wenig von dem gelben Staub darin hangen blieb.
Er verschloss rasch den Umschlag und verstaute ihn wieder. Er hatte keine Ahnung, ob das Pulver von Bedeutung war. Aber vielleicht wurde Amyus Crowe etwas damit anfangen konnen.
Nachdem er eine Weile weiter durch den Wald gestreift war, stie? er schlie?lich auf eine Stra?e. Ob es die war, die ihn zuruck nach Holmes Manor fuhren wurde, konnte er nicht sagen. In beide Richtungen fuhrte sie in einer Kurve von ihm fort, wodurch sich unmoglich sagen lie?, wo er sich befand. Er setzte sich an den Stra?enrand und wartete. Irgendwann, so seine Uberlegung, wurde schon ein Karren oder eine Kutsche vorbeikommen, und dann konnte er nach einer Mitfahrgelegenheit fragen.
Es war spater Nachmittag. Sherlock uberlegte, wo er jetzt hingehen sollte. Zuruck nach Holmes Manor oder lieber in die Stadt? Nach ein paar Sekunden kam er zu dem Schluss, dass eine Ruckkehr nach Holmes Manor einen Nachmittag in schrecklicher Langeweile bedeuten wurde. Die Stadt klang da schon sehr viel interessanter.