der Kette zusammenhingen. Die Antworten darauf lagen vielleicht nur ein paar Meter entfernt hinter dieser Mauer, aber wie die Dinge im Moment lagen, hatten sie auch genauso gut in China auf ihn warten konnen.

Die Sonne stand tief und rot am Himmel. Nicht mehr lange, dann musste Sherlock wieder zuruck in Holmes Manor sein, um sich rechtzeitig fur das Abendessen fertig zu machen. Er hatte nicht viel Zeit. Verzweifelt blickte er sich um. Hinter ihm, dort, wo die Mauer einen Knick um die Ecke machte, hatten sich gro?e Teile des Putzes gelost. Wahrscheinlich waren dort im Laufe der Jahre immer wieder Kutschen und Karren im Vorbeifahren gegen die Mauer gesto?en und Wind und Wetter hatten dann ihr Ubriges getan. Die Rillen zwischen den groben Ziegelsteinen, die der abgeplatzte Putz entblo?t hatte, konnten seinem Fu? genug Halt bieten, um sich auf die Mauerkrone hinaufzuschwingen.

Einen Versuch war es zumindest wert.

Sherlock beschloss, nicht weiter nachzudenken und die Sache in Angriff zu nehmen. Er pirschte sich zur Mauerecke und blickte sich um. Niemand beobachtete ihn. Er langte so weit nach oben, wie er konnte, und krallte seine Finger in einen Spalt zwischen zwei Ziegelsteinen. Dann tastete er mit seinem rechten Fu? uber die Mauer, bis auch dieser Halt fand. Sherlock war nun bereit und zog sich nach oben. Vor plotzlicher Anspannung fingen seine Beinmuskeln heftig an zu brennen, aber er wurde jetzt nicht aufgeben. Er schwang seine linke Hand, so weit er konnte, nach oben und spurte, wie sich seine Finger um den Rand der Mauerkrone krallten. Wahrend er sich so fest wie moglich ans Mauerwerk klammerte, zog er zunachst den linken Fu? hoch, um dann die Fu?spitze langsam wieder die Mauer hinabgleiten zu lassen, bis sie irgendwo Halt fand. Er verlagerte sein Gewicht von dem rechten auf den linken Fu? und betete, dass das Mauerwerk nicht wegbrockelte.

Aber es hielt. Er stemmte sich mit dem linken Fu? in die Hohe und hievte sich gleichzeitig mit der linken Hand nach oben. Sein Korper schrammte an der Mauer empor, und ehe er wusste, wie ihm geschah, fand er sich lang ausgestreckt auf der Mauerkrone wieder. Noch taumelnd vom Schwung und kurz davor, gleich wieder uber die Kante in den Innenhof zu sturzen, der sich unter ihm erstreckte.

5

Im Liegen konnte Sherlock von der Mauerkrone aus den gesamten Innenhof uberblicken. Es war niemand zu sehen. Ein fensterloses Gebaude – eigentlich eher als Scheune oder Schuppen zu bezeichnen – nahm einen Gro?teil des Hofes ein, wahrend die freie Flache drum herum Dreck und Unkraut uberlassen worden war. Diverse Wagenspuren fuhrten vom riesigen Holztor an der Gebaudevorderseite zu dem Tor in der Mauer. Bei einigen handelte es sich um kaum mehr als Kratzspuren, wahrend andere sich tief in den Untergrund gedruckt hatten und immer noch mit Wasser vom jungsten Regen gefullt waren. Sherlock kam zu dem Schluss, dass die dezenten Wagenspuren von leicht beladenen Kutschen oder Karren stammten, die auf dem Weg zur Scheune gewesen waren. Auf dem Ruckweg jedoch waren sie schwer beladen gewesen, so dass sie tiefer in den weichen Boden eingesunken waren. Aber was wurde dort drinnen im Schuppen gelagert oder hergestellt? Und hatte es irgendetwas mit dem gelben Pulver und dem Todesfall zu tun, den Matty mitbekommen hatte?

Sherlock schwang ein Bein uber die Mauer und wollte sich auf den Boden hinabgleiten lassen. Aber ein plotzlich einsetzendes Pfotengetrappel lie? ihn zuruckzucken. Etwas Dunkles und Schnelles hatte sich aus dem Schatten neben der Scheune gelost und kam nun auf wirbelnden kurzen Beinen auf ihn zugeschossen. Sherlock konnte einen gro?en muskulosen Kopf mit kleinen Ohren erkennen, die das Tier eng an den Schadel gelegt hatte, und einen kleinen, mit borstigem Fell bedeckten Korper. Der Hund bellte ihn nicht an, sondern knurrte stattdessen: ein tiefer Kratzton, ahnlich einer Sage, die sich durch hartes Holz fra?.

Speichel tropfte von seinen entblo?ten Zahnen. Der Hund kam schlitternd zum Stehen – genau unterhalb der Stelle, wo Sherlock auf der Mauer lag. Unverwandt starrte er Sherlock an. Den Schwanz senkrecht in die Hohe gestreckt und unruhig auf den kleinen stammigen Beinchen tanzelnd.

Sherlock musste unbedingt in diese Scheune kommen. Er hatte es hier mit einem ungelosten Puzzle zu tun und nichts hasste er so sehr wie ungeloste Puzzles. Aber der Hund sah ziemlich hungrig aus und schien auf Angriff abgerichtet zu sein.

Er blickte zuruck auf die Mauerseite, an der er hochgeklettert war. Gab es einen anderen Weg hinein? Unwahrscheinlich. Und au?erdem wurde ihm der Hund jetzt, da er seine Witterung aufgenommen hatte, einfach uberall hin folgen. Ob er sich vielleicht mit ihm anfreunden konnte? Nicht sehr wahrscheinlich. Jedenfalls nicht, ohne von der Mauer herunterzukommen, und die Folgen eines Scheiterns waren zu schrecklich, um sie sich auszumalen. Er konnte sich nach einem losen Ziegel oder einem gro?en Stein umschauen und ihn auf das Tier hinabfallen lassen. Aber das kam ihm unangemessen brutal vor. Ob er ihn vielleicht irgendwie betauben konnte? Vermutlich konnte er zuruck auf den Markt laufen und von dem wenigen Geld, das er hatte, ein Stuck Fleisch kaufen. Aber was dann?

In der Hoffnung, etwas zu finden, das ihm eventuell weiterhelfen konnte, suchte er den Boden auf beiden Seiten der Mauer ab. In der Nahe des Tores sah er etwas am Fu? der Mauer liegen. Etwas, das aussah wie eine liegengelassene alte Pelzmutze. Es war der tote Dachs, den er bereits am Tag zuvor gesehen hatte. Schnell lie? er sich von der Mauer fallen und rannte ein paar Schritte bis zu der Stelle, an der der zusammengekrummte Korper des Dachses lag. Er hob ihn auf. Das Fell war trocken und staubig, und der Korper so leicht, als hatten die Lebensgeister, die ihn bei seinem Tod verlassen hatten, tatsachlich etwas gewogen.

Ein ekelhafter, ranziger Geruch drang ihm in die Nase. Eine Entschuldigung murmelnd, beugte er sich leicht nach hinten, streckte seinen Arm aus und schleuderte den Dachs uber die Mauer hinuber. Mit abgespreizten Gliedern segelte der um die eigene Achse rotierende Korper durch die Luft und verschwand dann auf der anderen Seite. Sherlock horte einen dumpfen Aufprall, als er auf dem Boden aufschlug. Sekunden spater vernahm er das Gerausch, auf das er gehofft hatte: rasch uber die trockene Erde trippelnde Pfoten, gefolgt von wutendem Geknurre, als der Hund seine Zahne in den toten Korper schlug.

Sherlock kletterte rasch wieder auf die Mauer hinauf und blickte in den Innenhof hinab. Der Hund presste den Dachs mit den Vorderpfoten auf den Boden, schuttelte den leblosen Korper mit seinen starken Kiefern hin und her und riss dabei ganze Stucke aus dem Kadaver heraus. Als Sherlock sich auf den Boden hinabfallen lie?, brach der Hund abrupt ab. Argwohnisch augte er zu Sherlock hinuber, doch dann zerrte er weiter an der toten Kreatur herum. Entweder war er zum Schluss gekommen, dass Sherlock sein Freund war, weil er ihm so ein tolles Spielzeug geschenkt hatte, oder er hob ihn sich einfach fur spater auf. Sherlock hoffte inbrunstig, dass Ersteres zutraf.

Bevor der Hund den Dachs in so kleine Teilchen zerfetzt hatte, dass sie fur ihn nicht mehr von Interesse waren, sprintete Sherlock rasch uber den Hof zur Scheune. In eine der Seitenwande war eine Tur eingelassen. Er offnete sie einen Spalt weit und lugte vorsichtig hinein. Nichts au?er Dunkelheit und Stille. Er druckte die Tur weiter auf, schlupfte hinein und schloss die Tur wieder hinter sich.

Er brauchte einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewohnt hatten. Aber dann merkte er, dass die Scheune von Oberlichtern erhellt wurde. Das Sonnenlicht, das durch die schmutzigen Glasfenster drang, erzeugte in der staubigen Luft diagonale Lichtsaulen, was wie ein imaginares Stutzgerust fur das Dach aussah.

Es roch nach alter trockener Erde und Schwei?. Eine Geruchsmischung, die jedoch etwas anderes uberdeckte. Etwas, das irgendwie schwer und su?lich roch. An verschiedenen Stellen standen aufeinander gestapelte Boxen und Kisten herum, und weiter hinten auf der anderen Seite der Scheune luden gerade mehrere Manner ein paar Kisten auf einen Wagen. Der Mann, dem Sherlock durch Farnham bis hierher gefolgt war, befand sich auch darunter. Der Leinensack, den er getragen hatte, war einfach achtlos auf den Boden geworfen worden. An die Deichsel des Wagens hatte man bereits ein Pferd gespannt. Ruhig und geduldig fra? es Heu aus einem Nasensack, den man ihm um den Kopf gebunden hatte. Ein zweiter Wagen stand unbenutzt an einer der Seitenwande herum. Seine beiden leeren Deichseln ruhten auf dem Boden.

In der Nahe lagen etliche leere Holzkisten in einem wirren Haufen ubereinander, und Sherlock schlich sich leise hinuber, um sich dahinter zu verstecken. Aufmerksam beobachtete er, wie die Manner die – wie es aussah – letzte Fuhre beluden. Sie fluchten und stie?en gegeneinander, als sie die Kisten aufnahmen und sie eine nach der anderen auf den Wagen hievten. Dem Dreck auf ihrer Kleidung und ihren verschwitzten Gesichtern nach zu urteilen, waren sie schon eine ganze Weile so beschaftigt.

Der Mann, den Sherlock verfolgt hatte, half die letzte Kiste auf den Wagen zu heben. Dann rieb er sich die Hande einander und wischte sie anschlie?end theatralisch an seiner Weste ab, so als hatte er den ganzen Tag uber im Schuppen mitgeschuftet. Das geheimnisvolle Puder, das er an den Handen gehabt hatte, hinterlie? dabei gelbe

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