Die ersten zehn oder zwolf Kutschen, die vorbeikamen, fuhren alle in dieselbe Richtung und waren samt und sonders mit Schachteln, Kisten und Leinensacken vollgestapelt. Die Gesichter der Kutscher und Passagiere wirkten angstlich. Sherlock war sich nicht sicher, aber er hatte das Gefuhl, dass sie von den beiden Todesfallen gehort hatten und nun Farnham verlie?en, um von der vermeintlichen Pest so weit wegzukommen wie nur irgend moglich. Er fragte sie auch gar nicht erst nach einer Mitfahrgelegenheit. Denn der Ausdruck auf ihren Gesichtern lie? vermuten, dass sie ihm nicht gerade wohlgesonnen sein wurden. Es war schon eine halbe Stunde vergangen, als auf der harten staubigen Stra?e endlich das Rumpeln von Wagenradern zu horen war, die sich aus der entgegengesetzten Richtung zu nahern schienen. Er stand auf und wartete, bis das Gefahrt um die Kurve kam.
»Entschuldigen Sie bitte«, rief er dem grauhaarigen Kutscher zu. »In welche Richtung fahren Sie?«
Mit einem leichten Nicken wies der dunngesichtige Kutscher nach vorne auf die Stra?e, ohne sich die Muhe zu machen, Sherlock anzublicken. Aber wenigstens zog er an den Zugeln, damit die Pferde langsamer wurden.
»In welcher Richtung geht es nach Holmes Manor?«, rief Sherlock zum Kutschbock hoch.
Der Mann neigte seinen Kopf und wies mit einem leichten Nicken auf die hinter ihm liegende Stra?e.
»Konnen Sie mich in die Stadt mitnehmen?«, fragte Sherlock.
Der Mann uberlegte einen Moment und nickte dann in Richtung der Ladeflache. Sherlock wertete das als ein »Ja« und kletterte hinauf. In diesem Moment fuhr die Kutsche auch schon an, was dazu fuhrte, dass er fast wieder heruntergefallen ware. Doch zum Gluck purzelte er nach vorne in einen Strohhaufen.
Der Fahrer gab wahrend der gesamten Fahrt keine Silbe von sich, und auch Sherlock hatte nichts zu sagen. Stattdessen verbrachte er seine Zeit damit, abwechselnd uber den toten Mann, den mysteriosen Reiter und den sonderbaren, jedoch auch faszinierenden Amyus Crowe nachzudenken. Nachdem ihm Holmes Manor und die Umgebung zunachst als Inkarnation todlicher Langeweile vorgekommen waren, hatten sich diese Orte nun so ziemlich als das Gegenteil erwiesen.
Seine Gedanken wanderten zu der Geschichte, die Matty erzahlt hatte. Zu der Leiche, die aus dem Haus in Farnham getragen worden war, und der merkwurdigen Wolke, die er durch das Fenster hatte schweben sehen.
Sherlock hatte die Geschichte seinerzeit einfach abgetan – zumindest den Teil mit der Wolke. Aber jetzt dachte er anders daruber. Was war, wenn Amyus Crowe mit diesen Krankheiten, die durch winzige Lebewesen verursacht und von Mensch zu Mensch ubertragen wurden, nun recht hatte? War dann diese Wolke, die er und Matty gesehen hatten, nichts anderes als eine riesige Ansammlung dieser winzigen Krankheitserreger?
Das machte keinen Sinn. Noch nie hatte Sherlock etwas von einer Wolke gehort oder gelesen, die aus derart winzigen Lebewesen bestand. Und bestimmt waren Sherlock und Matty nicht die Einzigen, die ihr zufallig begegnet waren. Es musste noch etwas anderes im Gange sein.
Sherlock merkte erst, dass sie in Farnham angekommen waren, als die Kutsche rumpelnd zum Halten kam. Starr wie eine Statue sa? der Kutscher auf dem Kutschbock und wartete, bis Sherlock herunterkletterte. Ohne einen Blick zuruckzuwerfen, setzte er dann gleich wieder die Kutsche in Bewegung, wahrend Sherlock noch seine Taschen nach Kleingeld durchwuhlte, da er davon ausgegangen war, den Mann fur seine Umstande bezahlen zu mussen.
Sherlock blickte sich um. Er wusste, wo er sich befand: Er stand auf der Hauptstra?e, die durch das Stadtzentrum von Farnham fuhrte. Weiter vor ihm erhob sich ein rotes, mit steinernen Zierbogen versehenes Backsteingebaude, das laut Matty als Getreidespeicher diente. Er blickte sich um. Die Marktstadt ging ihrem ublichen emsigen Treiben nach. Menschen uberquerten eilig die Stra?e und bewegten sich zielstrebig auf den Gehwegen fort, wahrend andere vor Schaufenstern oder einer Backstube stehengeblieben waren. Manche hielten ein kleines Schwatzchen miteinander, andere hingegen gingen einfach ihrer Arbeit nach. Einen starkeren Gegensatz zur dunklen Einsamkeit des Waldes konnte man sich kaum vorstellen.
Er mochte es sich nur einbilden, aber ihm fiel auf, dass sich ungewohnlich viele kleine Gruppen an Stra?enecken und vor den Laden gebildet hatten. Die Leute schienen die Kopfe zusammenzustecken, als wurden sie leise miteinander reden, und jeder, der vorbeiging, wurde misstrauisch beaugt. Sprachen sie daruber, dass moglicherweise die Pest in der Stadt ausgebrochen war? Suchten sie in jedem Gesicht, das ihnen begegnete, nach ersten Anzeichen von Beulen oder Fieberrotungen?
Sherlock ging im Kopf schnell die Liste jener Orte durch, an denen Matty eventuell zu finden sein wurde. Zu dieser Tageszeit hatten die Marktstande noch eine oder zwei Stunden geoffnet. Von daher war die Chance gering, dass Matty hier herumstrich und darauf spekulierte, weggeworfenes Obst oder Gemuse zu ergattern. Au?erdem wusste Sherlock definitiv, dass vor heute Abend auch keine weiteren Zuge mehr zu erwarten waren. Er hatte namlich den Zugfahrplan fur den Fall auswendig gelernt, dass er es auf Holmes Manor nicht mehr aushalten wurde. Aber vielleicht, so Sherlocks Vermutung, trieb sich Matty vor einer der zahlreichen Kneipen herum, in der Hoffnung, dass einer der betrunkenen Gaste zufallig mal den einen oder anderen Penny fallen lie?.
Am Ende jedoch wurde Sherlock klar, dass er nicht genug Anhaltspunkte besa?, um herauszufinden, wo Matty stecken konnte. Es war ganz so, wie Mycroft manchmal sagte: »Theoretisieren ohne Anhaltspunkte ist ein verhangnisvoller Fehler, Sherlock.« Also streifte er einfach in den Stra?en umher, bis er schlie?lich an die Stelle kam, die Matty ihm gezeigt hatte. Er stand vor dem Haus, in dem der Mann gestorben war. Aus dessen Fenster die Wolke des Todes gekrochen war, um gleich darauf, uber Mauer und Dach emporgleitend, wieder zu verschwinden.
Das Gebaude schien verlassen zu sein. Fenster und Turen waren verschlossen und an die Eingangstur hatte jemand ein Schild genagelt. Sherlocks Vermutung nach handelte es sich um eine Warnung, dass dort drinnen jemand an einem unbekannten Fieber gestorben war. Er spurte widerstreitende Gefuhle in sich aufsteigen. Ein Teil von ihm wollte hineingehen und sich dort umsehen. Aber ein anderer, ein von primitiven Urinstinkten gepragter Teil, empfand nackte Angst und trotz des brandygetrankten Taschentuchs, das immer noch zusammengeknullt in seiner Tasche steckte, wollte er sich nicht der Gefahr einer Infektion aussetzen.
Plotzlich offnete sich die Haustur einen Spalt weit, und Sherlock zog sich in den Schatten eines gegenuberliegenden Hauseingangs zuruck. Wer mochte sich da drinnen wohl herumtreiben? Nahm jemand das Risiko auf sich, dort sauberzumachen? Oder war dort jemand – ungeachtet der Gefahr – eingezogen beziehungsweise wieder zuruckgekehrt? Einen Augenblick lang ging die Tur nicht weiter auf, und Sherlock ahnte mehr, als er es wirklich sah, dass jemand in der Dunkelheit dahinter stand und die Stra?e beobachtete. Ohne zu wissen, warum er das eigentlich tat, druckte sich Sherlock mit klopfendem Herzen noch tiefer in den Schatten.
Schlie?lich offnete sich die Tur gerade so weit, dass ein Mann durch die Lucke hindurchschlupfen konnte. Er war in verschiedene Grautone gekleidet und blickte die Stra?e rauf und runter, bevor er aus dem Hauseingang glitt. In der einen Hand hielt er einen Sack gepackt. Und diese Hand war mit feinem gelbem Puder uberzogen.
Das Pulver und das Verhalten des Unbekannten, der offenbar nicht beim Verlassen des Hauses gesehen werden wollte, hatten Sherlocks Neugier geweckt.
Sherlock beobachtete, wie der Mann dem Weg bis zu einer Stelle folgte, wo dieser auf eine gro?ere Stra?e stie?. Dort bog er nach links ab. Sherlock wartete einige Augenblicke, ehe er ihm folgte. Er hatte keine Ahnung, was da vor sich ging, aber er war entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen.
Etwas an dem Mann kam ihm merkwurdig bekannt vor. Irgendwo hatte Sherlock ihn schon einmal gesehen. Er hatte ein schmales, wieselartiges Gesicht und auffallige Zahne, die sich vom vielen Tabak gelb verfarbt hatten. Und dann fiel es Sherlock wieder ein: Er hatte das Wieselgesicht am Bahnhof gesehen, als er zusammen mit Matty dort gewesen war. Der Mann hatte Eiskisten auf einen Karren geladen.
Sherlock folgte dem Mann quer durch die Stadt von einem Ende Farnhams zum anderen. Sherlock hielt sich den ganzen Weg uber hinter ihm. Er duckte sich in Hauseingange oder verbarg sich hinter anderen Passanten, wenn er das Gefuhl hatte, dass sich der Mann gleich umdrehen wurde. Schlie?lich bog er in eine Seitenstra?e ein, die Sherlock wiedererkannte. Es war diejenige, in der er bereits fruher am Tag mit Matty gewesen war. Dort, wo sie fast die Kutsche uberfahren hatte, in der der seltsame Mann mit den rosafarbenen Augen gesessen hatte.
Der Mann schlich an einer hohen Backsteinmauer entlang, bis er das holzerne Tor erreichte, aus der die Kutsche gekommen war. Er klopfte an das Tor und benutzte dabei einen ganz bestimmten, aber komplizierten Rhythmus, den Sherlock sich trotz aller Muhe nicht merken konnte. Die Torflugel offneten sich mit lautem Knarren und der Mann schlupfte hinein. Ehe Sherlock eine Chance hatte, einen Blick hineinzuwerfen, schloss sich das Tor auch schon wieder.
Frustriert blickte er sich um.
Zu gerne hatte er einen Blick uber die Mauer geworfen, um zu sehen, was sich dort drinnen befand. Aber wie es aussah, gab es dazu keine Moglichkeit. Irgendwie hatte alles miteinander zu tun: die beiden Todesfalle, die sich bewegenden, geheimnisvollen Wolken, das gelbe Puder … Aber er konnte nicht erkennen, wie die einzelnen Glieder