Arzt gebracht und der hat dem Gerichtsmediziner von North Hampshire ein Telegramm geschickt. Ihnen obliegt es, die Todesursache offiziell festzustellen. Aber so viel ich gehort habe, wies das Gesicht des Mannes die fur Pocken oder Pest so charakteristischen Pusteln und Beulen auf.« Er schuttelte stirnrunzelnd den Kopf. »Das Letzte, was wir hier brauchen, ist der Ausbruch irgendeiner Seuche. Man wird den Doktor heftig bedrangen, die Lage rasch in den Griff zu bekommen, falls noch jemand krank werden sollte. Wie ich gehort habe, packen ein paar von den Markthandlern bereits ihre Stande zusammen und ziehen woanders hin. Panik kann sich schneller ausbreiten als eine Seuche. Ob Schafe, Weizen, Wolle oder sonst etwas: Farnham lebt vom Handel. Wenn der sich in eine andere Stadt verlagert, geht es mit Farnhams Wohlstand langsam aber sicher zu Ende.«

Sherlock sah auf seinen Teller hinab. Er hatte genug Kedgeree gegessen, um fur eine Weile durchzuhalten, und er wollte unbedingt wieder zuruck nach Farnham, um zu sehen, ob er Matty irgendwo auftreiben konnte.

»Durfte ich aufstehen, Sir?«, fragte er. Sein Onkel nickte und sagte: »Amyus Crowe bat mich, dir auszurichten, dass er zur Mittagessenszeit wieder da ist, um mit deinen Studien fortzufahren. Sorge also dafur, dass du punktlich wieder zuruck bist.«

Seine Tante mochte ebenfalls so etwas wie eine Antwort in ihren endlosen Monolog mit eingeflochten haben, aber mit Sicherheit war das nicht zu sagen. Also erhob Sherlock sich und steuerte schon auf die Tur zu, als ihn ein plotzlicher Gedanke zuruckhielt.

»Tante Anna?«, sagte er. Seine Tante blickte auf. »Hast du eben gemeint, dass der verstorbene Mann vorher fur einen Earl oder Viscount gearbeitet hat?«

»Das stimmt, mein lieber Junge«, antwortete sie. »In der Tat, ich glaube mich daran zu erinnern, dass …«

»Konnte es auch ein Baron gewesen sein?«

Sie hielt einen Moment lang inne und dachte nach. »Ich glaube, du hast recht«, sagte sie. »Es war ein Baron. Ich hab den Brief noch irgendwo. Er war …«

»Erinnerst du dich an seinen Namen?«

»Maupertuis«, erwiderte Tante Anna. »Sein Name war Baron Maupertuis. Was fur ein komischer Name, dachte ich noch. Ein franzosischer, ganz offensichtlich. Oder vielleicht auch ein belgischer. Er hat die Referenz naturlich nicht selbst geschrieben. Ausgestellt hat sie …«

»Danke, Tante Anna«, sagte Sherlock und verlie? das Zimmer, wahrend sie immer noch vor sich hinredete.

Ein Schauder durchfuhr ihn, als er in die Halle ging. Das alles konnte doch unmoglich Zufall sein. Zwei Manner tot, beide offensichtlich auf die gleiche Weise umgekommen, einer von ihnen Mitglied einer Schlagerbande, die in einem Lagerschuppen in Farnham zu tun hatte, der einem mysteriosen »Baron« gehorte. Und der andere hatte erst kurzlich die Stelle bei einem »Baron Maupertuis« verlassen.

Es konnten doch nicht zwei Barone in die ganze Sache verwickelt sein, oder? Der Besitzer des Lagerschuppens, der merkwurdige Mann, den Matty und er in der Kutsche hatten wegfahren sehen … Das musste Baron Maupertuis gewesen sein. Und wenn der Mann, dessen Leichnam Sherlock und Amyus Crowe im Wald entdeckt hatten, zuvor fur Baron Maupertuis in einer Bekleidungsfabrik gearbeitet hatte, dann befand sich diese Fabrik im besagten Lagerschuppen in Farnham. Und bedeutete das etwa, dass es sich bei den Sachen, die der Tote namens Wint vermutlich aus dem Lagerhaus gestohlen hatte, um Kleidung handelte?

Sherlock hatte das Gefuhl, als ob die unzahligen einzelnen Puzzleteilchen, die bis dahin in seinen Gedanken wild herumrotiert waren, sich auf einmal wie von selbst zusammenfugten. Das Bild zeichnete sich noch nicht deutlich ab. Es fehlten immer noch ein paar Teile, aber allmahlich ergab das alles auf merkwurdige Art und Weise einen Sinn.

Jetzt, da er von der Fabrik, der Kleidung, dem Baron und den toten Mannern wusste, konnte Sherlock auf Basis dieser Informationen einige Schlussfolgerungen ziehen. Er war nicht mehr auf reine Spekulationen angewiesen, sondern konnte nun mit ein paar wahrscheinlicheren Theorien aufwarten. Zum Beispiel: Zwei Manner, die mit einer Bekleidungsfabrik in Verbindung standen, waren gestorben, offensichtlich an den Pocken oder der Pest. Bedeutete das, dass die Textilien selbst irgendwie verseucht gewesen waren? Nach dem, was er bei der gelegentlichen Lekture der Zeitungen seines Vaters aufgeschnappt hatte, glaubte Sherlock zu wissen, dass ein Gro?teil der Kleidung in den Textilstadten Nordenglands, Schottlands und Irlands produziert wurde. Ferner hatte er gehort, dass ein Teil auch aus dem Ausland importiert wurde. Aus China, wenn es sich um Seide handelte, und vielleicht auch Indien, wenn es um Baumwolle oder Musselin ging.

Vielleicht war aus einem dieser fernen Lander eine verseuchte Ladung nach Gro?britannien gelangt. Oder womoglich war die Fracht von Insekten befallen gewesen, die diese Krankheit in sich trugen, und die Arbeiter in den Fabriken hatten sich damit angesteckt. Das war eine mogliche Erklarung, und Sherlock verspurte das dringende Bedurfnis, jemandem davon zu erzahlen. Zuerst dachte er dabei an seinen Onkel, doch er verwarf diese Idee gleich wieder. Sherrinford Holmes mochte zwar ein Erwachsener sein, aber er war auch etwas weltfremd und wurde Sherlocks Theorie wahrscheinlich rundweg verwerfen. Einen Moment lang verlie? ihn der Mut. Wen hatte er noch?

Dann fiel ihm Mycroft ein. Er konnte alles aufschreiben und seinem Bruder einen Brief schicken. Mycroft arbeitete fur die britische Regierung. Er wurde wissen, was zu tun war.

Er spurte, wie sich allein beim Gedanken an den verlasslichen Mycroft der beklemmende Knoten in seiner Brust etwas zu losen begann. Aber gleich darauf stellte sich ihm unversehens die Frage, was genau Mycroft in dieser Angelegenheit tun konnte. Seine Arbeit im Stich lassen und nach Farnham eilen, um die Ermittlungen zu ubernehmen? Die Armee entsenden? Viel wahrscheinlicher wurde er Onkel Sherrinford einfach ein Telegramm schicken, das Sherlock wieder auf den Teppich bringen sollte.

Als Sherlock aus dem Haus in das helle Morgenlicht hinaustrat, blieb er einen Moment lang stehen, um nach Luft zu schnappen. Er nahm den Geruch von Holzrauch und frisch gemahtem Gras wahr, und auch die modrigen Ausdunstungen der Brauereien in Farnham waren noch schwach zu riechen. Die Sonne, die gerade hinter den Baumspitzen auftauchte, hullte das Laub in goldenes Licht und zauberte bizarre Blatterschattenbilder auf den Rasen vor ihm, die aussahen wie ausgestreckte Finger.

Doch es war noch eine andere Schattenfigur zu sehen: eine, die sich bewegte. Sein Blick folgte der Figur uber den Rasen hinweg bis zur Mauer, die das Haus und die angrenzenden Landereien von der Stra?e trennte. Dort, auf der anderen Seite der Mauer, erkannte er eine Gestalt auf einem Pferd. Sie schien ihn zu beobachten. Als er die Hand hob, um die Augen vor der blendenden Sonne zu beschirmen, spornte der Reiter das Pferd an. Daraufhin trabte es auf der Stra?e davon und verschwand schlie?lich hinter einer hohen Hecke.

Sherlock ging auf das Haupttor zu. Von Ross und Reiter war keine Spur mehr zu sehen. Aber wenn er Gluck hatte, wurde er dort einen Hufabdruck vorfinden. Oder vielleicht hatte der Reiter etwas fallen gelassen, wodurch Sherlock in der Lage ware, ihn zu identifizieren.

Doch er stie? weder auf eine Hufspur noch auf einen fallengelassenen Gegenstand. Dafur aber auf Matthew Arnatt, der drau?en neben dem Tor sa? und mit zwei Hochradern auf ihn wartete.

»Wo hast du denn die aufgetrieben?«, fragte Sherlock.

»Gefunden. Dachte, du hast vielleicht Lust auf ’ne Spritztour. Ist bequemer als gehen und man kommt viel weiter.«

Sherlock starrte ihn einen Moment lang an. »Warum?«

Matty zuckte die Achseln. »Hab nichts anderes vor.« Er hielt inne und wandte den Blick in die Ferne. »Hatte daran gedacht, die Leinen loszuwerfen, und mit dem Boot ein Stuckchen den Kanal weiter runterzuschippern. Aber das hei?t fur mich nur, dass ich wieder neu in einer anderen Stadt anfangen muss. Rauskriegen, wo man am besten an Essen kommt und all so was. Hier kenn ich zumindest ein paar Leute. Na ja, ich kenn dich.«

»In Ordnung. Ich konnte etwas Bewegung vertragen. Nach gestern sind meine Muskeln vollig steif.«

»Was war denn gestern?«

»Das werde ich dir beim Radfahren erzahlen.« Sherlock blickte die Stra?e hinunter, die am Tor vorbeifuhrte. »Ist hier ein Reiter vorbeigekommen und hat eine Weile halt gemacht?«

»Ja. Der ist an mir vorbeigeritten und hat ein Stuck weiter vorne gehalten.« Er wies nickend auf die Stelle, an der Sherlock den Reiter gesehen hatte. »Sah aus, als ob er was beobachten wurde. Aber dann ist er wieder weitergeritten.«

»Hast du ihn erkannt?«

»Hab nicht richtig auf ihn geachtet. Macht das was?«

Sherlock schuttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht.«

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