Sie schlugen die entgegensetzte Richtung ein, die der Reiter genommen hatte, und radelten die Stra?e entlang auf Farnham zu. Sherlock hatte lange nicht mehr auf einem Hochrad gesessen und fuhr zunachst heftig schlingernd hinter Matty her. Aber es dauerte nur ein paar Minuten, bis er den Bogen wieder raus hatte und gleichauf mit Matty war. Wahrend sie Seite an Seite auf der Stra?e dahinfuhren – uber sich das Schatten spendende Blattergewolbe der machtigen Alleebaume und rechts und links Felder voller leuchtend gelber Blumen –, erzahlte er Matty, was er gestern erlebt hatte. Er berichtete von dem Mann, den er von dem Haus aus, wo Matty der merkwurdigen Wolke begegnet war, bis zum Lagerschuppen verfolgt hatte, dann von dem mit Kisten beladenen Wagen und schlie?lich naturlich auch vom Feuer. Matty locherte ihn permanent mit Fragen, und Sherlock ertappte sich unversehens dabei, wie er kleine Einzelheiten der Geschichte noch einmal wiederholte, sich dabei in Erklarungen verhedderte und irgendwie nicht auf den Punkt kam. Er war alles andere als ein begnadeter Geschichtenerzahler. Und einen Moment lang wunschte er, er hatte jemanden, der einfach die Fakten aus seinem Kopf nehmen konnte, um sie in einer Art und Weise anzuordnen, die einen Sinn ergab.

»Du hast Gluck gehabt, dass du da lebend rausgekommen bist«, sagte Matty, als Sherlock zu Ende erzahlt hatte. »Ich hatte mal ’nen Job in ’ner Backerei. Vor ein paar Monaten. Ist abgebrannt. Ich hatte Schwein, dass ich das uberlebt habe.«

»Was ist da passiert?«, fragte Sherlock.

Matty schuttelte den Kopf. »Der Backer war ein Idiot. Hat ein Streichholz fur seine Pfeife angezundet. Gerade in dem Moment, als wir die Mehlsacke aufgemacht haben.«

»Und was hatte das mit dem Feuer zu tun?«

Matty sah ihn irritiert an. »Ich dachte, jeder wei?, dass Mehlstaub in der Luft wie Sprengstoff ist. Wenn ein Mehlkornchen Feuer fangt, breitet es sich in einer Sekunde uberall hin aus, wie ein uberspringender Funke.« Er schuttelte wieder den Kopf. »Die ganze Backerei wurde in Stucke gesprengt. Ich hatte Gluck, weil ich gerade hinter einem Tisch war. Trotzdem hat es einen ganzen Monat gedauert, bis meine Haare wieder ordentlich nachgewachsen sind.« Er blickte zu Sherlock auf und fugte hinzu: »Na ja, egal. Was willst du jetzt machen?«

»Wir sollten alles dem hiesigen Constable erzahlen«, antwortete Sherlock. Schon als er das aussprach, merkte er, wie unsinnig das klang. Zwei Leichen, eine seltsame Todeswolke, ein mysterioses gelbes Puder und eine Bande von Schlagertypen, die einen Lagerschuppen in Brand steckten – das alles horte sich viel zu sehr nach typischen Phantasiegespinsten von Kindern an.

Immerhin waren tatsachlich zwei Manner gestorben und die ru?geschwarzten qualmenden Uberreste des Lagerschuppens wurden noch einige Zeit fur sich sprechen. Somit lie? sich also zumindest die Halfte der Geschichte durch Fakten untermauern. Der Rest allerdings bestand im Grunde viel zu sehr aus wilden Spekulationen und phantastischen Mutma?ungen, die einfach aneinandergereiht worden waren, um die Lucken im Gedankengebaude zu schlie?en.

Ein Blick in Mattys Gesicht verriet Sherlock, dass sein Begleiter so ziemlich dasselbe dachte. Er kniff frustriert den Mund zusammen. Er kannte niemanden in der Gegend, der ihnen helfen konnte, und die Leute, die es hatten tun konnen, waren nicht in der Gegend. Es war paradox.

Doch dann sah er in Gedanken plotzlich Amyus Crowes eindrucksvolle Gestalt vor sich. Eine Welle der Erleichterung durchdrang ihn und riss die dustere Wolke der Unsicherheit, die ihn eingehullt hatte, mit sich fort. Es war, als hatte eine Woge kalten Wassers Schlamm und Schmutz von einem Stein gespult. Crowe schien jemand zu sein, der mit einem Jugendlichen so redete, als ware er erwachsen. Au?erdem verfugte er uber einen logisch arbeitenden Verstand. Er lie? sich nicht einfach vom au?eren Anschein leiten, sondern gelangte lieber mit Hilfe einzelner Indizien nach und nach zu den richtigen Schlussfolgerungen. Er war der Einzige, der ihnen tatsachlich Glauben schenken konnte.

»Wir werden es Amyus Crowe erzahlen«, sagte Sherlock.

Matty blickte skeptisch drein. »Der gro?e Kerl mit der komischen Stimme und den wei?en Haaren?«, fragte er. »Bist du sicher?«

Sherlock nickte entschlossen. »Bin ich.« Doch gleich darauf machte er ein langes Gesicht und lie? die Schultern sinken. »Aber ich wei? nicht, wo er wohnt. Wir mussen wohl warten, bis er wieder bei meinem Onkel auftaucht. Oder meinen Onkel fragen, wo er ist.«

Matty schuttelte den Kopf. »Er hat ein Haus am Stadtrand gemietet«, sagte er. »War fruher mal das Cottage vom Jagdhuter. Mit den Radern konnen wir wahrscheinlich in einer halben Stunde da sein.« Er bemerkte Sherlocks uberraschten Gesichtsausdruck. »Was denn?«, fugte er hinzu. »Ich wei? eben Bescheid, wo hier wer wohnt, so ziemlich jedenfalls. Wenn ich wissen will, wo sich mit gro?er Wahrscheinlichkeit jederzeit Essen auftreiben lasst, gehort das dazu. Ich muss wissen, wie ein Ort wie dieser so taktet. Wo die Leute wohnen, wo sich der Markt befindet oder das Getreide lagert. Nicht zu vergessen, wo sich der Constable morgens, mittags und abends meist rumtreibt oder welche Obstgarten bewacht werden und welche nicht. Das ist eine Frage des Uberlebens.«

.Beobachtungsgabe, dachte Sherlock und erinnerte sich daran, was Amyus Crowe ihm erzahlt hatte. Am Ende lief alles auf Beobachtungsgabe hinaus. Denn hatte man erst genug Fakten, konnte man fast alles herausfinden.

Und eben das war das Problem mit den beiden Leichen und der Todeswolke … Sie hatten einfach nicht genug Fakten.

Unter Umgehung der Hauptstra?en, auf denen zu dieser Tageszeit jede Menge Leute unterwegs sein wurden, radelten die beiden durch die Stadt. Abgelenkt vom Wirrwarr aus Vermutungen, Fakten und Hypothesen, das ihm im Kopf herumschwirrte, verging die Zeit fur Sherlock wie im Flug. Und kaum hatten sie sich auf den Weg gemacht, hielten sie zu seiner Uberraschung auch schon vor dem Steincottage, in dem Amyus Crowe anscheinend wohnte.

Sherlock nahm eine Bewegung aus den Augenwinkeln wahr. Er spahte zur gegenuberliegenden Wegseite hinuber und sah einen gesattelten Hengst, der auf einer Koppel graste. Einen schwarzen Hengst mit einem braunen Fleck, der sich uber seinen Hals zog.

Er kannte das Tier. Wegen der gro?en Entfernung seinerzeit hatte er es nicht beschworen konnen, aber er war ziemlich sicher, dass es dasselbe Pferd war, das er bereits zweimal gesehen hatte. Mit einem mysteriosen Reiter auf dem Rucken, der ihn beobachtete.

Ein Schauder durchfuhr ihn, und er spurte, wie er eine Gansehaut bekam. Was ging hier vor sich?

Matty hielt sich im Hintergrund und wartete an der Pforte, wahrend Sherlock durch den Vorgarten auf das Haus zusteuerte. Kurz vor der Tur wandte er sich um und blickte Matty fragend an.

»Ich bleib hier«, verkundete der Junge mit finsterer Miene.

»Was ist denn los?«

»Ich kenn den Kerl nicht. Vielleicht passt ihm meine Nase nicht.«

»Ich sag ihm, dass du in Ordnung bist und man dir vertrauen kann. Dass du mein Freund bist.«

Als ihm das Wort »Freund« uber die Lippen kam, verspurte er einen plotzlichen Anflug von Uberraschung. Vermutlich war Matty tatsachlich sein Freund, aber der Gedanke verwirrte Sherlock. Noch niemals zuvor hatte er so etwas wie einen Freund gehabt. Definitiv nicht in der Schule und nicht einmal an ihrem Familiensitz, dem Ort, der fur ihn als Zuhause galt. Die Kinder, die dort in der Gegend lebten, hatten das Haus der Holmes gemieden. Denn in ihren Augen waren sie gesellschaftlich hoher Stehende, Angehorige des Landadels, die sich in unerreichbaren Spharen bewegten. Infolgedessen hatte Sherlock die meiste Zeit alleine verbracht. Selbst Mycroft war kaum uber die Rolle einer trostlichen Prasenz hinausgelangt. Er hatte den ganzen Tag in der Familienbibliothek gehockt und sich dort durch die riesige Buchersammlung gearbeitet, die die Familie uber Generationen hinweg erworben hatte. Nicht selten kam es vor, dass Sherlock Mycroft nach dem Fruhstuck in der Bibliothek allein lie? und ihn dann zur Mittagessenszeit noch in genau derselben Position wiederfand wie am Morgen. Der einzige Unterschied bestand lediglich darin, dass der Stapel ungelesener Bucher geschrumpft war, wahrend sich der Stapel gelesener Bucher vergro?ert hatte.

»Trotzdem«, sagte Matty. »Ich warte lieber drau?en.«

Sherlock schoss ein Gedanke durch den Kopf. »Drau?en?«, wiederholte er nachdenklich. »Du haltst dich gerne unter freiem Himmel auf, stimmt’s? Ich hab dich noch nicht einmal drinnen in einem Raum gesehen.«

Mattys finsterer Blick verdusterte sich noch mehr und er wandte den Blick ab. »Mag eben keine Mauern«, brummte er. »Kann’s nicht haben, wenn ich nur durch eine enge Tur abhauen kann. Vor allem wenn ich nicht wei?, mit wem ich es drinnen zu tun habe.«

Sherlock nickte. »Ich verstehe«, sagte er sanft. »Ich wei? nicht, wie lange ich brauche. Vielleicht wartest du ja, bis ich wieder rauskomme.« Er blickte sich zur Tur um. »Das hei?t, vorausgesetzt, dass uberhaupt jemand zu

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