Hause ist.« Er warf einen kurzen Blick zum schwarzen Hengst hinuber, der sich unverdrossen das Gras schmecken lie?. Dann klopfte er entschlossen an die Tur. Als er sich noch einmal umsah, war Matty samt seinem Rad verschwunden.

Einige Augenblicke spater offnete sich die Tur. Sherlocks Blick war leicht nach oben gerichtet, in der Erwartung, Amyus Crowe vor sich stehen zu sehen. Verdutzt schaute er kurz ins Leere. Dann senkte er den Blick. Sein Herz stolperte vor Verwirrung und Aufregung, als er feststellte, dass er einem Madchen ins Gesicht sah. Es war genauso gro? wie er. Sie trug dunkle Kleidung und vor dem Hintergrund des finsteren Flures schien ihr Gesicht mitten in der Luft zu schweben.

»Ich … ah … ich suche MrCrowe«, brachte Sherlock hervor und wurde wegen seiner stockenden Stimme rot.

Verzweifelt wunschte er, er konnte sich so selbstbewusst und unberuhrt anhoren, wie Mycroft es scheinbar immer so muhelos zustande brachte.

»Mein Vater ist nicht zu Hause«, antwortete das Madchen. Ihre Stimme wies dasselbe Naseln auf, wie es bei ihrem Vater der Fall war, wodurch sich der Satz eher anhorte wie Meine Father is nikt su Haus. Ein amerikanischer Akzent? Was immer es auch war, es verlieh ihr jedenfalls etwas Exotisches. »Und wer, soll ich ausrichten, hat nach ihm verlangt?«

Sherlock merkte, dass er einfach nicht den Blick von ihrem Gesicht abwenden konnte. Sie war ungefahr so alt wie er. Ihr langes, rotlich-goldenes Haar fiel gelockt auf die Schultern herab … wie kupferfarbenes Wasser, das auf Steine herabplatscherte und zu allen Seiten davonspritzte. Ihre Augen wiesen einen leichten Violetton auf, den Sherlock bisher nur bei Wildblumen gesehen hatte. Ihre sommersprossige Haut war gebraunt, als ob sie einen gro?en Teil ihrer Zeit im Freien verbrachte.

»Ich bin Sherlock«, sagte er. »Sherlock Holmes.«

»Du bist das Kind, das er unterrichtet.«

»Ich bin kein Kind. Ich bin genauso alt wie du«, antwortete er mit so viel Bravour, wie er nur eben zustande brachte.

Sie trat nach vorn ins Sonnenlicht, und Sherlock sah, dass sie enganliegende braune Reithosen trug, die sich eher fur Jungen als fur Madchen schickten. Und eine Leinenbluse, die die Konturen ihrer Brust betonte.

»Ich werde meinem Vater sagen, dass du hier warst«, verkundete sie, als hatte er uberhaupt nichts gesagt. »Ich glaube, er ist ruber zu deinem Onkel gegangen, um sich mit dir zu treffen. Er ist davon ausgegangen, dass heute Unterricht ist.«

»Ich wurde aufgehalten.« Sherlock ertappte sich unversehens dabei, dass er sich rechtfertigte. Plotzlich brachten ihn die Reithose und das Pferd auf der nahen Weide auf einen Gedanken.

»Du hast mich beobachtet!«, platzte es unbedacht aus ihm heraus. Ein plotzliches Gefuhl von Verlegenheit und Verwundbarkeit ergriff ihn.

»Nun bilde dir mal nichts ein«, erwiderte sie. »Ich hab dich ein paar Mal gesehen, als ich ausgeritten bin. Das ist alles.«

»Wohin bist du denn geritten? Hinter Holmes Manor ist nichts au?er unberuhrter Wildnis.«

»Genau dahin bin ich geritten.« Sie hob eine Augenbraue. »Reitest du denn?«

Sherlock schuttelte den Kopf.

»Solltest du aber mal lernen. Es macht Spa?!«

Sherlock dachte wieder an die Gestalt, die er in der Ferne gesehen hatte. »Du reitest wie ein Mann«, sagte er.

»Wie meinst du das?«

»Die Frauen, die ich bisher Reiten gesehen habe, sitzen seitlich auf dem Sattel. Mit beiden Beinen auf einer Seite. Auf einem sogenannten Damensattel. Du reitest wie ein Mann und sitzt mit gespreizten Beinen gerade im Sattel.«

»So habe ich es eben gelernt.« Sie klang sauer. »Die Leute hier lachen uber mich, weil ich so reite. Aber wenn ich es so mache wie sie, falle ich vom Pferd, sobald ich mal schneller als im Trab reite. Dieses Land ist echt komisch. Es ist vollig anders als zu Hause.« Sie schob sich an ihm vorbei, wahrend die Tur hinter ihr zuschlug, und stolzierte von ihm fort auf die Koppel zu. Er starrte auf ihren Rucken.

»Wie hei?t du?«, rief Sherlock.

»Warum willst du das wissen?«

»Damit du in Zukunft nicht blo? ›Amyus Crowes Tochter‹ fur mich bist.«

Sie blieb stehen und sprach, ohne sich umzudrehen. »Virginia«, sagte sie. »Das ist eine Gegend in Amerika. Ein Staat an der Ostkuste, um genau zu sein. In der Nahe von Washington DC.«

»Ich hab davon gehort. Ist das in der Nahe von Albuquerque?«

Sie wandte sich um. In ihrem Gesicht lag eine Mischung aus Verachtung und Belustigung. »Nicht im Geringsten. Tausende von Meilen entfernt. Virginia besteht gro?tenteils aus Waldern und Bergen. Albuquerque liegt mitten in der Wuste. Wenngleich es auch dort Berge gibt.«

»Aber du kommst aus Albuquerque.«

Sie nickte.

»Warum seid ihr von da fort?«

Virginia antwortete nicht. Stattdessen drehte sie sich erneut um und steuerte wieder auf die Koppel zu. Sherlock folgte ihr und konnte sich keinen Reim darauf machen, was mit ihm los war. Er kam sich vor, wie ein Hundewelpe an der Leine, der nicht mehr seinem eigenen Willen folgen konnte. Er blickte sich um und hoffte, dass Matty nicht noch irgendwo wartete und mitbekam, was los war. Aber der Junge und sein Rad waren nirgends zu sehen.

»Willst du nicht jemandem sagen, dass du fortgehst?«, fragte er, als Virginia mit einem Fu? in den Steigbugel stieg, den Sattelknauf mit der linken Hand ergriff und sich in den Sattel schwang.

»Es ist niemand zu Hause«, rief sie. »Mein Vater ist weg, wie du dich vielleicht erinnerst.«

»Was ist mit deiner Mutter?«, fragte er. Die Art, wie sich ihr Gesichtsausdruck veranderte und zugleich harte als auch verletzliche Zuge annahm, lie? ihn wunschen, die Worte nie ausgesprochen zu haben.

»Meine Mutter ist tot«, sagte Virginia brusk. »Sie ist auf dem Schiff gestorben, mit dem wir uber den Atlantik nach Liverpool gekommen sind. Deswegen hasse ich dieses Land, und ich hasse es auch, hier zu leben. Wenn wir nicht hergekommen waren, wurde sie noch leben.«

Mit einer kurzen Bewegung ihrer Zugel wandte sie das Pferd um. Sherlock starrte ihr nach, wahrend sie auf dem Pferd davontrottete. Er war verlegen und zugleich wutend auf sich, weil er ihr einen solchen Schmerz bereitet hatte.

Als er sich schlie?lich zum Gehen umwandte, sah er plotzlich Amyus Crowe vor dem Cottage stehen. Geduldig stutzte er sich auf seinen Gehstock und blickte Sherlock ruhig an.

»Wie ich sehe, hast du meine Tochter bereits kennengelernt«, sagte er. Er hatte den gleichen Akzent wie Virginia, so dass es sich eher anhorte wie Wie ik seh, hast du meine Tokter bareits kannengelarned.

»Sie schien nicht sehr von mir beeindruckt zu sein«, gestand Sherlock.

»Das ist sie von niemandem. Galoppiert in Jungenklamotten die meiste Zeit in der Wildnis herum.« Sein Gesicht verzog sich zu einem schiefen Grinsen. »Kann nicht sagen, dass ich ihr einen Vorwurf mache. Gegen den Willen aus Albuquerque hierher verschleppt zu werden ist genug, um einem Kind die Laune zu vermiesen, auch ohne dass …« Er brach abrupt ab. Sherlock hatte den Eindruck, dass Amyus Crowe eigentlich noch etwas hatte sagen wollen, bevor er es sich gerade noch anders uberlegt hatte.

»Wolltest du etwas Bestimmtes von mir oder ging es nur um die nachste Unterrichtsstunde?«

»Es geht tatsachlich noch um etwas anderes«, erwiderte Sherlock. Rasch schilderte er, was in Farnham passiert war. Er erzahlte von dem Mann mit dem gelben Puder, dem Lagerhaus und dem Feuer. Gegen Ende sprach er immer leiser und brach schlie?lich ab, als ihm bewusst wurde, dass er gerade etwas gestand, das man, von einer bestimmten Perspektive aus betrachtet, durchaus als kriminelles Vergehen hatte bezeichnen konnen. Unsicher, wie er Crowes Gesichtsausdruck nun deuten sollte und welche Reaktion gleich folgen wurde, blickte Sherlock auf seinen Lehrer.

Crowe jedoch schuttelte nur den Kopf und sah nachdenklich in die Ferne. »Dir ist ja anscheinend nicht langweilig geworden«, sagte er. »Aber ich bin nicht sicher, wie das Ganze zusammenpasst. Alles, was wir haben, sind zwei Leichen und die Moglichkeit, dass eine Seuche ausgebrochen ist. Wenn du meine Meinung horen willst,

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