lass es sein. Lass die Arzte und Behorden sich darum kummern. Es gibt da eine nutzliche Lebensregel, die sinngema? besagt, dass man nicht alle Kampfe ausfechten sollte, die einem begegnen. Entscheide dich fur die wichtigen Kampfe und uberlass den Rest jemand anderem. Und in diesem Fall ist es nicht dein Kampf.«

Sherlock spurte, wie sich Frustration in ihm breitmachte, aber er sagte nichts. Er hatte das starke Gefuhl, dass dies doch sein Kampf war. Und wenn auch nur, weil niemand sonst den Mann in der Kutsche gesehen hatte und nur er das gelbe Pulver fur wichtig hielt. Doch eventuell hatte Amyus Crowe in einer Hinsicht ja doch nicht ganz unrecht. Crowe zu uberreden, dass da etwas vor sich ging, gehorte vielleicht nicht zu den Kampfen, denen Sherlock sich stellen sollte. Vielleicht wurde sich irgendwo noch ein anderer Weg ergeben.

»Also gut, was steht denn heute auf dem Plan?«, fragte er stattdessen.

»Mir ist so, als waren wir der Sache mit den essbaren Pilzen noch nicht auf den Grund gegangen«, erwiderte Crowe. »Lass uns eine kleine Wanderung machen und sehen, was wir so finden. Auf dem Weg werde ich dir au?erdem einige Wildpflanzen zeigen, die man roh und gekocht essen kann. Aus einer lasst sich sogar ein schmerzlindernder Teeaufguss bereiten.«

»Toll«, sagte Sherlock.

Zusammen verbrachten sie die nachsten paar Stunden damit, durch die Landschaft zu streifen und alles zu essen, was genie?bar und in Reichweite war. Fast gegen seinen Willen lernte Sherlock eine Menge daruber, wie man in der Natur nicht nur uberlebte, sondern auch gut zurechtkam. Crowe zeigte ihm sogar, wie man sich ein bequemes Bett machte. Hierzu musste man Farnkraut bis auf Schulterhohe ubereinander schichten und dann auf den Haufen klettern. Durch das Korpergewicht wurde der Haufen zusammengepresst, bis er so dick und bequem wie eine Matratze war.

Als er anschlie?end mit dem Rad zuruck nach Holmes Manor fuhr, wollte sich Sherlock eigentlich wieder auf die beiden Toten, den abgebrannten Lagerschuppen, das gelbe Pulver und die mysteriose Todeswolke konzentrieren. Aber immer wieder landeten seine Gedanken bei Virginia. Mal bei ihren roten Haaren, die sich uber ihre Schultern ergossen, mal bei ihrem stolzen geraden Rucken, dann wieder bei ihren eng anliegenden Reithosen und schlie?lich bei ihrem Korper, wie er beim Davonreiten anmutig auf- und abwippte. Dann fielen ihm plotzlich wieder das gelbe Pulver und die Probe ein, die er im Wald eingesammelt hatte und im Umschlag aufbewahrte.

Wenn die Schlagertypen aus dem Lagerhaus recht hatten, stand der Tod der beiden Manner mit irgendetwas Ansteckendem oder Giftigem in Verbindung. Oder zumindest mit etwas, das bei Beruhrung gesundheitliche Probleme zur Folge hatte. Angenommen es handelte sich dabei um das gelbe Pulver, dann musste er nur noch herausfinden, was genau es war, ungeachtet Amyus Crowes kaum verhullter Warnung. Er selbst verfugte definitiv weder uber das Wissen noch uber die Ausrustung, um es selbst zu erledigen. Er brauchte einen Chemiker oder einen Apotheker oder etwas in der Art, der das Pulver analysieren konnte, und es war unwahrscheinlich, so jemanden in Farnham zu finden. Auf dem Weg nach Holmes Manor war er mit seinem Bruder durch Guildford gekommen. Und wenn das die nachste gro?ere Stadt war, dann wurde Sherlock vielleicht dort jemand Geeigneten finden. Einen geschulten Naturwissenschaftler, der ihm sagen konnte, worum es sich bei dem Pulver handelte. Amyus Crowe hatte einen Experten erwahnt, der dort lebte. Professor Winchcombe. Warum sollte er ihn nicht einfach aufsuchen?

Jetzt musste er nur noch irgendwie nach Guildford kommen.

7

Am nachsten Tag spurte Sherlock Matty auf dem Markt auf. Allmahlich war er in der Lage, Mattys Bewegungen vorherzusagen. Es war bereits fast Mittag, und die Handler waren schon seit dem fruhen Morgen auf den Beinen gewesen. Infolgedessen wurde ihnen mittlerweile der Magen knurren. Da war es nicht unwahrscheinlich, dass sie sich im Wechsel etwas zu essen besorgten. Einer wurde dann auf zwei Stande zugleich aufpassen mussen, wahrend der andere unterwegs war, um sich ein Stuck Brot, etwas Fleisch, eine Pastete oder vielleicht einen Krug Bier zu genehmigen. Das bedeutete, dass der Mittag zu den Tageszeiten gehorte, wahrend denen die Aufmerksamkeit der Marktleute geteilt war. Das bot Matty die Chance, vom Rand eines Standes unbemerkt ein paar Fruchte oder etwas Gemuse zu stibitzen. Vermutlich sollte Sherlock Diebstahl missbilligen. Aber wenn Menschen verhungerten oder Kinder eingefangen und ins Armenhaus verschleppt wurden, war das ebenfalls zu missbilligen. Also handelte es sich vermutlich um ein ethisches Dilemma, das sich die Waage hielt, und um ehrlich zu sein, missgonnte er Matty den einen oder anderen wurmstichigen Apfel keineswegs. Es wurde das Britische Empire nicht in den Untergang sturzen.

Die Marktstande waren auf einem kleinen Platz verteilt, der von drei Seiten von Gebauden umgeben war.

Es gab Stande mit Bergen von Zwiebeln, Pastinaken, Kartoffeln, Rote Bete sowie Gemusearten in den unterschiedlichsten Farben, die Sherlock nicht einmal kannte. An anderen Standen konnte man Schinken kaufen, die am Haken hingen und von Fliegen umschwirrt wurden, und Fisch, der auf Stroh ausgelegt war.

Einige Handler boten diverse Werkstoffe und Tuche aus Seide, Wolle oder Baumwolle an. In einem provisorischen Pferch war eine Schafherde zusammen mit zwei Schweinen untergebracht, die es sich auf dem Boden gemutlich gemacht hatten und unbeeindruckt von dem Radau ringsumher ein Nickerchen machten. Die zahlreichen Geruche und Dufte, die ihm in die Nase stiegen, waren fast uberwaltigend, jedoch noch nicht unangenehm. Doch bei Sonnenuntergang wurde es auf dem ganzen Platz, so Sherlocks Vermutung, nach fauligem Gemuse und vergammeltem Fisch riechen. Dann waren die meisten Kaufer jedoch schon wieder verschwunden, und nur die Armen der Stadt wurden noch zwischen den Standen umherstreifen, in der Hoffnung, dass die Handler ihre Preise reduzierten, um ihre Ware noch loszuwerden.

Eine gedampfte Atmosphare schien in der Luft zu liegen. Denn es ging nicht so lebhaft zu, wie es Sherlocks Erinnerung nach sonst der Fall war. Normalerweise war der Markt nicht einfach blo? ein Ort, an dem man die Dinge des taglichen Bedarfs besorgen konnte. Vielmehr stellte er fur die Leute auch ein wichtiges gesellschaftliches Ereignis dar. Aber heute war vom ublichen Trubel und Gedrange nicht viel zu merken. Die meisten Kaufer schienen gezielt die jeweiligen Stande anzusteuern, wo sie dann nicht mehr handelten als unbedingt notig, um anschlie?end gleich wieder zu verschwinden.

»War Crowe da?«, fragte Matty, als Sherlock ihn aufgestobert hatte. Er sa? auf einer umgedrehten Holzkiste und beobachtete gespannt, ob nicht irgendeiner der Handler einmal in seiner Achtsamkeit nachlie?.

»Zuerst nicht, aber ich habe seine Tochter kennengelernt.«

»Ja, die hab ich auch schon mal hier gesehen.«

»Du hattest mir ruhig von ihr erzahlen konnen«, beschwerte Sherlock sich. »Ich war vollig uberrascht, als sie so plotzlich vor mir stand. Ich muss wie ein Idiot ausgesehen haben.«

Matty musterte ihn rasch von oben bis unten. »Ja, so ziemlich«, sagte er dann.

Verlegen versuchte Sherlock, das Thema zu wechseln. »Mir ist da was eingefallen und …«

Er brach ab, als Matty plotzlich in die Menge davonflitzte. Wie ein Aal zwischen Felssteinen schlangelte er sich zwischen den Marktbesuchern hindurch, und Sekunden spater war er auch schon wieder zuruck. »Is von ’nem Stand gefallen«, verkundete er stolz, wahrend er den Dreck von einer Schweinefleischpastete abputzte. »Hab nur darauf gewartet, dass das passiert. Die haben viel zu viel von dem Zeugs aufeinandergeschichtet. Irgendwann musste einfach eine runterfallen.« Er nahm einen riesigen Bissen und reichte seine Beute dann an Sherlock weiter. »Hier, probier mal.«

Sherlock knabberte ein bisschen von der Kruste am Rand ab. Es schmeckte salzig und buttrig. Er biss noch einmal ab und erwischte diesmal etwas von dem rosafarbenen Fleisch und dem durchsichtigen Gelee. Das leckere Fleisch war mit kleinen Fruchtstucken gespickt, bei denen es sich Sherlocks Vermutung nach um Backpflaumen handelte. Aber was auch immer es war, die Geschmackskombination war einfach unglaublich.

Er gab Matty die Pastete wieder. »Ich hab schon ein paar Apfel und etwas Kase gehabt«, sagte er. »Iss du auf.«

»Du hast gesagt, dass dir was eingefallen ist.«

»Ich muss irgendwie nach Guildford kommen.«

»Mit dem Rad wird das einige Stunden dauern«, sagte Matty, ohne die Augen vom Marktgeschehen abzuwenden.

Sherlock dachte daran zuruck, wie er auf der Reise von der Deepdene-Schule nach Farnham durch Guildford

Вы читаете Death Cloud
Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату