und bedienst die Ruderpinne. Wenn wir auf die Flussmitte hinaustreiben, steuerst du wieder zuruck in Ufernahe. Falls dir kalt wird, kannst du die Decke nehmen, die an Deck liegt. Ist nur ’ne alte Pferdedecke, aber sie halt genauso warm wie so’n Nobelteil.«
Das Boot trieb auf dem Fluss davon. Das im regelma?igen Rhythmus gegen die Planken platschernde Wasser versetzte Sherlock allmahlich in einen schlafrigen, fast hypnotischen Zustand. Abgesehen von gelegentlich vorbeischwimmenden Enten oder Gansen lag der Fluss einsam und verlassen vor ihnen.
»Was hast du uber den Mann rausgefunden, der gestorben ist?«, rief Sherlock nach einer Weile nach vorne. »Den ersten Mann. Den aus dem Haus.«
»War ’n Schneider«, rief Matty zuruck. »Hat fur ’ne Firma gearbeitet, die Uniformen fur die Armee in Aldershot herstellt. War offenbar ’n riesiger Auftrag, denn die Firma hat alle Leute in der Umgebung angeheuert, die Tuche zuschneiden oder Teile zusammennahen konnen.«
»Wie hast du das herausgefunden?«
Matty lachte. »Hab gesagt, dass ich sein Sohn bin und meine Mom rauskriegen will, ob er noch von irgendeinem Arbeitgeber Geld zu bekommen hat. Wie’s aussieht, hatte er tatsachlich noch ausstehenden Lohn zu bekommen, aber sein Vermieter hat da schon den Daumen drauf, weil er ihm noch Miete schuldete.«
»Wo ist der Firmensitz?«, rief Sherlock zuruck.
»Das Hauptburo befindet sich in der Nahe des Marktes. Aber sie haben auch einen Lagerschuppen am Stadtrand. Und da hat der Kerl auch gearbeitet. Ist vermutlich der, den die Schlagertypen abgefackelt haben.«
Wahrend das von Albert gezogene Boot weiter auf dem Fluss dahinglitt, grubelte Sherlock uber das nach, was er von Matty erfahren hatte. Der Tote war ein Schneider gewesen und hatte Uniformen hergestellt. Der Lagerschuppen, in dem er gearbeitet hatte, hatte voller Kisten gestanden. Kisten, die die Schlagertypen auf einen Wagen geladen hatten.
Kisten voller Uniformen? Das war nicht ganz unwahrscheinlich. Aber das erklarte immer noch nicht, wie und warum der Mann gestorben war. Und den Tod des zweiten Mannes im Wald erklarte es ebenfalls nicht.
Der Himmel im Osten hatte eine dunkelviolette Farbe angenommen, die an eine frische Quetschwunde erinnerte. Die Baume, die das Flussufer saumten, waren lediglich dunkle Schemen vor einem noch dunkleren Hintergrund. Dicht uber dem Horizont leuchtete ein einzelner heller Stern. Vor sich konnte Sherlock einen schwarzen Bogen erkennen, der ihren Weg kreuzte. Vermutlich eine Brucke. Vielleicht sogar die Brucke, auf der Matty und er nur wenige Tage zuvor bereits einmal gesessen hatten, um Fische im Fluss zu beobachten.
Plotzlich gab Albert ein kurzes Wiehern von sich, als ob ihn etwas erschreckt hatte. Sherlock starrte ans Ufer und versuchte, vor dem Hintergrund der dunklen Hecken, die das Ufer saumten, die Konturen des Tieres auszumachen. Der Klang der Hufe auf dem Pfad anderte sich. Fur Sherlock horte es sich an, als wollte das Pferd vor etwas ausweichen, das ihm zu nahe kam.
Matty rief dem Tier etwas Beruhigendes zu – eher trostliche Laute als richtige Worte –, aber Sherlock konnte am Tonfall erkennen, dass Matty beunruhigt war. Was war los? Hatte Albert vor einem verwilderten Hund Angst, der sich dort irgendwo herumtrieb, oder hatte er nur etwas Unerwartetes gewittert?
Sherlock wollte gerade nach Matty rufen und fragen, was es fur ein Problem gabe, als er hinter den schwarzen Konturen von Mattys Kopf und Schultern eine Bewegung auf der Brucke wahrnahm.
Sherlock wandte den Blick auf die dunklen Umrisse der Brucke, die vor ihnen den Fluss uberspannte.
Etwas storte plotzlich den sanften Verlauf des Bruckenbogens: ein massiger Schatten, nicht ganz in der Bruckenmitte. Nein,
Burger aus Farnham, die fruh unterwegs waren? Wilderer vielleicht?
Im nachsten Augenblick wurden Sherlocks Theorien auch schon uber den Haufen geworfen, als auf einmal ein Streichholz auf der Brucke aufflammte. Fur einen Moment fiel der Lichtschein auf zwei Gesichter, die er augenblicklich erkannte.
Es waren Clem und Denny, die beiden Schurken aus dem Lagerhaus.
Im nachsten Augenblick hatte sich das aufflammende Streichholzlicht in ein warmes Leuchten verwandelt, das sich uber das Backsteinmauerwerk ergoss. Clem hielt eine Lampe in die Hohe. Ihr Schein fiel auf das sich nahernde Boot herab. Als sie auf die Brucke zutrieben, konnte Sherlock sehen, wie sich Clems Mund zu einem grausamen Lacheln verzog. Der Schein der Lampe umriss Mattys Gestalt, als er sich am Bug aufrichtete. Es schien so, als wollte Matty etwas sagen. Aber Clem schwang die Lampe uber seinem Kopf und tauchte die Umgebung fur einen Moment in wild flackernde Schatten. Dann schleuderte er sie auf Mattys Kopf zu.
Matty duckte sich. Die Lampe prallte zweimal auf und zerbarst. Metalltrummer und Glassplitter fegten uber das Bootsdeck auf Sherlock zu und hinterlie?en dabei eine breite Spur von brennendem Ol. Winzige Flammenzungen leuchteten auf dem Holz und breiteten sich gleich darauf gierig auf dem Furnier aus. Sherlock blickte sich hilflos um. Herrgott nochmal, sie waren mitten auf einem Fluss, umgeben von lauter Wasser, und er hatte keine Ahnung, wie man es dahin befordern konnte, wo sie es brauchten!
Sein Blick blieb an der Pferdedecke hangen, von der Matty gesprochen hatte. Sie lag zusammengeknullt in der Ecke nahe der Ruderpinne. Sherlock packte sie und schleuderte sie nach vorne in Richtung der Flammen, wobei er darauf achtete, dass er einen Zipfel in der Hand behielt, damit sie nicht ins Wasser rutschte. Rauch stieg unter der Decke empor, aber keine Flammen. Sherlock zog die Decke wieder zu sich zuruck. Das Feuer war zur Halfte erloschen, erstickt vom dicken Stoff der Decke, doch in den Fugen der Bootskonstruktion tasteten sich immer noch hartnackige kleine Flammenzungen voran.
Matty stie? einen Schrei aus, als eine weitere Ollampe Sherlocks Kopf nur knapp verfehlte und auf den Bootsrand prallte. Von dort fiel sie in den Fluss, wo sie ein kurzes wutendes Zischen von sich gab, als der brennende Docht mit dem Wasser in Beruhrung kam und gleich darauf versank. Sherlock wirbelte herum und tauchte die Decke neben der Bootswand ins Wasser. Ehe sie zu viel Wasser aufgesogen hatte, zog er sie rasch wieder heraus und breitete sie erneut uber dem Holz aus. Dieses Mal horte er ein Zischen, als der wassergetrankte Stoff die letzten Flammen erstickte.
In der Erwartung, gleich eine dritte Ollampe auf sich zufliegen zu sehen, blickte Sherlock zur Brucke hoch, als das Boot darunter hindurchfuhr. Aber wie es schien, war ihren Angreifern die Munition ausgegangen. Stattdessen stellte er schockiert fest, dass ein Korper auf ihn hinuntersauste. Clem war von der Brucke gesprungen. Der Gangster landete auf dem Dach des Bootes. Unter seinen schweren Stiefeln brachte er das Holz zum Bersten und fiel ruckwarts aufs Deck. Doch rasch rappelte er sich wieder auf und kam mit zusammengebissenen Zahnen und wutend funkelnden Augen auf Sherlock zu. Mit der rechten Hand langte er an seinen Gurtel und zog ein ubel aussehendes Messer mit gekrummter Klinge heraus.
»Dachtest wohl, du kannst so mir nix dir nix in den Schuppen einbrechen und einfach so davonkommen, was?«, knurrte er. »Man hat dich gesehen, wie du vor den Flammen abgehauen bist. Wie eine dreckige Ratte. Und nichts anderes bist du.« Er langte mit der linken Hand nach Sherlocks Schulter. »Mach dich bereit, deinem Schopfer guten Tag zu sagen.«
Sherlock drangte sich auf dem winzigen Deck ruckwarts in eine Ecke. Er spurte den Luftzug, als Clems Finger unmittelbar vor seinen Augen ins Leere griffen. Der Mann stand so nah, dass Sherlock den widerlichen Schwei?geruch wahrnahm, der seiner groben, schmutzigen Kleidung entstromte, und muhelos den Dreck unter den abgekauten Fingernageln erkennen konnte.
Clem langte wieder nach vorne und diesmal hatte er mehr Gluck. Wie Schraubzwingen bohrten sich seine Fingerspitzen in Sherlocks Schulter. Einen Moment lang hielt er ihn bose grinsend einfach nur fest gepackt und verstarkte dabei genusslich langsam den Druck, als wollte er Sherlocks Schulter zerquetschen. Dann loste er plotzlich seinen Griff, nur um in der gleichen Sekunde seine Finger in Sherlocks Haare zu krallen und ihn an sich heranzuzerren. Gegen seinen Willen musste Sherlock vor Schmerz aufschreien, als sein Haar fast von der Kopfhaut gerissen wurde. Bizarrerweise hatte Sherlock einen winzigen Augenblick lang das Bild vor Augen, wie Albert am Flussufer Grasbuschel ausrupfte.
Clem hielt Sherlock dicht an sich gepresst und starrte in die Augen des Jungen hinab. Sherlock spurte, wie Clems rechte Hand, die das Messer hielt, nach oben glitt. Jeden Moment wurde ihm die Kehle aufgeschlitzt werden, und er wusste noch nicht einmal, warum!
Etwas traf Clem von hinten. Geschockt weiteten sich seine Augen und Sherlock fuhlte, wie sich der eiserne Griff in seinen Haaren loste. Er machte einen Schritt zuruck und stie? Clem mit beiden Handen von sich. Der Mann leistete keinen Widerstand, sondern vollfuhrte einen stolpernden Ruckwartsschritt. Mit schlurfenden, ubertrieben vorsichtigen Schritten drehte er sich langsam um.