war. Aber Sherlock ging einfach auf einen der Stande zu und verwendete etwas von dem Geld, das Mycroft ihm geschickt hatte, um ihnen beiden etwas zum Fruhstuck zu besorgen. Argwohnisch musterte Matty ihn. Sherlock hatte den Eindruck, dass Essen fur Matty irgendwie besser schmeckte, wenn man nicht dafur bezahlen musste. Doch was ihn selbst anbelangte, fand er jedenfalls keinen gro?eren Gefallen an Essen, das vorher durch den Dreck gerollt war oder um das man mit einem wutenden Hund hatte kampfen mussen.
Um ans Ziel zu kommen, mussten sie die halbe High Street hinaufmarschieren, und als die beiden Jungen endlich die Stelle erreichten, an der die Chaelis Road begann, waren sie au?er Atem. Die Stra?e fuhrte in einem Bogen von der High Street fort und verschwand nach wenigen Metern in einer Kurve. Sherlock setzte sich in Bewegung, blieb aber gleich wieder stehen, als er merkte, dass Matty ihm nicht folgte. Er drehte sich um und sah seinen Begleiter fragend an.
»Was ist los?«
Matty schuttelte den Kopf. »Nicht ganz mein Revier«, sagte er und beaugte misstrauisch die stattlichen Hauser und tadellos gepflegten Vorgarten, die die Stra?e saumten.
»Du gehst allein. Ich warte hier.« Er blickte sich um. »Jedenfalls irgendwo hier in der Nahe.«
Sherlock nickte. Matty hatte recht. Die Anwesenheit eines »dreckigen Gassenjungen« – wie MrsEglantine es wohl ausgedruckt hatte – wurde vermutlich Probleme bereiten. Sherlock klopfte sich, so gut es ging, den Dreck von der Kleidung und machte sich auf den Weg.
Das Haus, das er suchte, lag unmittelbar hinter der Kurve. Er druckte die Gartenpforte auf und ging auf die Eingangstur zu, die von einer Saulenhalle im griechischen Stil vor Wind und Wetter geschutzt wurde. An einer der Saulen war eine Messingplatte angeschraubt. »Professor Arthur Albery Winchcombe. Dozent fur Tropenkrankheiten« war dort auf eingravierten Lettern zu lesen.
Bevor ihn seine Nerven vollends im Stich lie?en, zog Sherlock kurz entschlossen am Klingelzug.
Ein Mann in strengem schwarzem Anzug und grauer Weste erschien an der Tur. Durch winzige Brillenglaser, die kaum seine Augen bedeckten, starrte er auf Sherlock hinab.
»Ist Professor Winchcombe zu Hause?«, fragte Sherlock.
Der Mann – Sherlocks Vermutung nach der Butler – schwieg einen Moment. »Wer, darf ich ausrichten, verlangt nach dem Professor?«, sagte er schlie?lich.
Sherlock offnete schon den Mund, um sich vorzustellen. Doch dann zogerte er. Vielleicht ware es schlauer, wenn er sich auf den Namen eines anderen berief. Auf jemanden, von dem der Professor schon mal gehort hatte. Mycroft, vielleicht? Oder Amyus Crowe? Was ware wohl am besten?
Am Ende entschied er sich aufs Geratewohl. »Bitte richten Sie dem Professor aus, dass ein Schuler von MrAmyus Crowe ihn zu konsultieren wunscht«, brachte er hervor.
Der Butler nickte. »Waren Sie so gutig, im Wohnzimmer zu warten?«, fragte er und offnete Sherlock die Tur. Zu Sherlocks Uberraschung wurde er nicht wie ein ziemlich abgerissen aussehender und nervoser Junge behandelt, sondern eher wie ein Angehoriger der koniglichen Familie. Mit vornehmer Geste bedeutete ihm der Butler, ihm durch die geflieste Halle zu einer nahen Tur zu folgen.
Die Tapete, die die Wande des Wohnzimmers bedeckte, war mit Bildern von hohen, dunnstieligen Pflanzen bedeckt, die wie riesige Graser aussahen. Noch nie hatte Sherlock solche Gewachse gesehen. Wie es aussah, zogen sich an den Stangeln in gleichma?igen Hohenabstanden zueinander so etwas wie Ringe herum. Die fremdartige Pflanze ubte eine solche Faszination auf Sherlock aus, dass er immer noch auf die Tapete starrte, als die Tur schlie?lich aufging und ein Mann das Zimmer betrat. Er war klein – noch kleiner als Sherlock –, und sein Bauchlein wolbte sich hervor, als hatte er ein Kissen unter sein Jackett gestopft. Auf dem Kopf trug er einen komischen kleinen Hut ohne Krempe, der einfach nur wie ein kurzer dicker Turm aus roter Seide aussah.
»Bambus«, sagte er.
»Pardon?«
»Die Pflanzen auf der Tapete. Bambus. Eine immergrune mehrjahrige Pflanze aus der Familie der Graser. Ich habe in meiner Jugend einige Zeit in China verbracht und mich damit ziemlich vertraut gemacht. Bambus ist das am schnellsten wachsende holzartige Gewachs der Welt, wei?t du. Unter bestimmten Bedingungen konnen die gro?eren Bambusarten uber 60 Zentimeter am Tag wachsen. Die Tapete stammt ubrigens aus China. Sie ist aus Reispapier.«
Sherlock war nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte. »Papier, das man aus
»Ein allgemein verbreitetes Missverstandnis«, erwiderte der Professor. »Tatsachlich wird Reispapier aus dem Saft eines kleinen Baumes hergestellt.
»Ja, Sir«, erwiderte Sherlock und kam sich merkwurdigerweise vor, als ware er wieder zuruck in der Schule.
»Ich habe heute Morgen einen Brief von MrCrowe bekommen. Seltsam. Wirklich sehr seltsam. Bist du deswegen hier?«
»Ging es in dem Brief um die zwei toten Manner?«
Der Professor nickte. »Darum ging es in der Tat.«
»Deswegen bin ich hier. Ich habe MrCrowe sagen horen, Sie seien ein Experte fur Krankheiten.«
»Ich bin auf Tropenkrankheiten spezialisiert. Aber ja, mein Fachgebiet deckt einen Gro?teil der schweren Infektionskrankheiten ab. Vom Tapanuli-Fieber und Schwarzer Formosa-Faulnis bis hin zu Cholera und Typhus. Wenn ich richtig verstehe, sind diese beiden Manner an einer unbekannten Krankheit gestorben.«
»Ich bin nicht sicher.« Sherlock wuhlte in seiner Jackentasche und zog den Umschlag hervor, in dem Mycrofts Brief gesteckt hatte und der nun eine Probe des gelben Pulvers enthielt. »Das hier habe ich in der Nahe einer der beiden Leichen eingesammelt. Aber ich wei?, dass beide Tote damit in Kontakt waren«, fugte er hastig hinzu. »Ich habe keine Ahnung, worum es sich handelt, doch ich glaube, dass es etwas mit den beiden Todesfallen zu tun hat. Es konnte giftig sein.«
Der Professor streckte die Hand nach dem Umschlag aus. »In diesem Fall werde ich es mit Vorsicht behandeln«, sagte er.
»Sie glauben mir also?«, fragte Sherlock.
»Du hast den ganzen weiten Weg auf dich genommen, um mit mir zu reden. Also vermute ich mal, dass du es ernst meinst. Das Mindeste, was ich tun kann, ist es genauso ernst zu nehmen wie du. Und au?erdem: Ich kenne Amyus Crowe und halte ihn fur einen integeren Mann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er sich mit einem Schuler abgibt, der sich gerne albernen Streichen hingibt.« Er lachelte plotzlich, was seinem Gesicht einen fast engelhaften Ausdruck verlieh. »So, und jetzt lass uns mal einen Blick auf die Probe werfen, die du mitgebracht hast.«
Sherlock folgte ihm durch die Eingangshalle in einen anderen Raum. Die Wande waren mit Buchern bedeckt, und vor dem Fenster – dort, wo es am hellsten war – stand ein riesiger Schreibtisch. Mitten zwischen wild verstreuten Papierbogen, Zeitschriften und einem Kerzenleuchter mit brennender Kerze sah Sherlock ein Mikroskop, das auf einem Blatt grunem Loschpapier stand.
Professor Winchcombe setzte sich auf einen mit Leder uberzogenen Stuhl an den Schreibtisch und forderte Sherlock mit einer Geste auf, sich ebenfalls einen Stuhl zu holen und neben ihm Platz zu nehmen. Er zog einen unbeschriebenen Pergamentbogen aus einer Schublade und legte ihn auf das Loschpapier neben das Mikroskop. Dann schlitzte er vorsichtig die Umschlagklappe mit einem Briefoffner auf und schuttete den Inhalt auf den Pergamentbogen. Innerhalb weniger Sekunden hatte er ein Haufchen gelben Pulvers vor sich. Mit der Spitze des Briefoffners nahm er ein paar Pulverkornchen auf und platzierte sie auf eine glaserne Platte, die bereits auf dem Mikroskoptisch – der flachen Platte unter dem Objektiv – eingespannt war.
Er justierte einen Spiegel so unter dem Mikroskoptisch, dass dieser das Kerzenlicht zunachst durch ein Loch im Mikroskoptisch, dann durch die Glasplatte und daraufhin weiter bis zur Linse reflektierte.
Wahrend Sherlock versuchte, nicht zu heftig zu atmen, um das Pulver nicht wegzupusten, beobachtete er, wie der Professor ins Mikroskop starrte, dabei erst am Radchen fur die Grobeinstellung und dann an dem fur die Feineinstellung drehte, bis die Pulverkornchen schlie?lich scharf gestellt waren.
»Ah«, sagte er, um dann gleich darauf ein »Hm« hinzuzufugen. Er nahm seinen roten Hut ab, kratzte sich am Kopf und platzierte die Kopfbedeckung wieder an exakt derselben Stelle, wo sie zuvor gesessen hatte.
»Was ist es?«, flusterte Sherlock.
»Bienenpollen«, sagte der Professor. »Ziemlich eindeutig.«