Schreibtischschublade hervorholte. Dann nahm er einen Tropfen Wachs von der Kerze, die er fur die Beleuchtung des Mikroskops verwendet hatte, versiegelte damit den Umschlag und handigte Sherlock das Schreiben aus.

»Ich hoffe, dass dich das vor allzu schmerzhafter Bestrafung bewahren wird«, sagte er. »Bitte richte deinem Lehrer meine Empfehlungen aus.«

»Werde ich machen.« Sherlock rang kurz nach Worten, ehe er fortfuhr. »Danke.«

Professor Winchcombe lautete eine kleine Glocke, die neben dem Mikroskop auf dem Loschpapier bereitstand. »Mein Butler wird dich hinausbegleiten. Wenn du irgendwann noch mehr uber tropische Krankheiten oder die Bienenhaltung in China wissen willst, zogere nicht, mich wieder zu kontaktieren.«

Als Sherlock wieder auf der Stra?e stand, stellte er uberrascht fest, dass die Sonne ihre Position nicht mehr als um ein paar Grade verandert hatte. Dabei war es ihm so vorgekommen, als hatte er Stunden bei Professor Winchcombe verbracht.

Matty sa? auf der Gartenmauer und a? irgendetwas aus einer Papiertute. »Hast du erledigt, was du wolltest?«, fragte er.

Sherlock nickte. Dann wies er auf die Papiertute. »Was hast du da?«

»Muscheln und Schnecken«, kam die Antwort. Er hielt Sherlock die offene Tute hin. »Willste was?«

Sherlock blickte hinein und sah einen Haufen Meeresmuscheln. »Sind die gekocht?«, fragte er.

»Gesiedet«, erwiderte Matty knapp. »Bin einem Fischhandler begegnet, der sie an seinem Stand verkauft hat. Ist vermutlich heute Nacht aus Portsmouth rubergekommen. Hab ’ne Weile bei ihm ausgeholfen. Kisten sauber scheuern, mehr Eis besorgen und all so was. Im Gegenzug hat er mir die hier gegeben. Als Bezahlung.« Er langte in die Tute und fischte eine Muschel raus. Dann legte er die Tute auf der Mauer ab und holte ein Klappmesser aus seiner Tasche hervor. Mit der Klingenspitze stocherte er im Inneren der halb geoffneten Muschel herum, bis er das, was auch immer sich darin befand, aufgespie?t hatte. Sekunden spater zog er etwas Dunkles und Glibberiges heraus und steckte es sich in den Mund.

»Herrlich«, stohnte er genusslich und strahlte uber das ganze Gesicht. »Die kriegste nicht oft, wenn du nicht am Meer lebst. Ist dann jedes Mal fast so wie ein Festessen.«

»Ich glaube, ich verzichte«, sagte Sherlock. »Lass uns nach Hause gehen.«

Auf dem Weg zum Fluss ging es diesmal die High Street bergab. Unten angekommen, folgten sie dem Flussufer, bis sie wieder auf das Boot stie?en. Wie Matty vorhergesagt hatte, waren sowohl das Boot als auch das Pferd noch da.

Sherlock fragte sich, wie es ihnen gelingen sollte, das Boot in die andere Richtung zu drehen. Aber Matty fuhrte das Pferd in Stadtrichtung am Ufer entlang, bis sie zu einer Brucke kamen, auf der er mit Albert den Fluss uberquerte. Da Albert noch per Leine mit dem Boot verbunden war, schwang dabei dessen Bug herum, wahrend Sherlock mit dem Bootshaken dafur sorgte, dass der Kahn nicht gegen das Ufer stie?. Und dann ging es auch schon in gemachlichem Tempo auf die Ruckreise. Diesmal allerdings postierte Sherlock sich vorne an den Bug, um Albert in Bewegung zu halten, und Matty bediente hinten die Ruderpinne.

Wahrend das Boot langsam flussabwarts fuhr, berichtete Sherlock, was er erlebt hatte. Er erzahlte von Professor Winchcombe und dessen Schlussfolgerungen bezuglich der Bienen und Stiche. Matty war zunachst skeptisch, aber schlie?lich konnte Sherlock ihn davon uberzeugen, dass es keiner ubernaturlichen Erklarung fur die Todeswolke bedurfte. Matty schien in seinen Gefuhlen hin- und hergerissen zu sein. Einerseits war er erleichtert, dass Farnham nicht von einer Seuche heimgesucht wurde, andererseits irritierte es ihn, dass sich die Losung als so simpel herausstellte. Sherlock sagte nichts weiter, doch als sie so auf dem Fluss dahinfuhren, wurde ihm immer klarer, dass sie ein Geheimnis geluftet hatten, nur um jetzt vor weiteren Fragen und Ratseln zu stehen. Warum hatten die Bienen an zwei verschiedenen Orten diese beiden Manner gestochen, aber niemanden sonst? Und vor allem: Wie kamen afrikanische Bienen uberhaupt nach England? Und was hatte das alles mit dem Lagerschuppen, dem mysteriosen Baron und den Kisten zu tun, die von den Schlagertypen auf dem Wagen verstaut worden waren?

Nach einer Weile bemerkte Sherlock, dass sich am Flussufer ein weiteres Pferd zu Albert gesellt hatte. Es war ein Hengst mit schwarzem, glanzendem Fell und einem braunen Fleck am Hals. Und auf seinem Rucken sa? Virginia Crowe.

Sie hatte ihre enge Reithose an und trug au?erdem eine kurze Jacke uber der Bluse.

»Hallo!«, rief Sherlock. Sie winkte zuruck.

»Matty, das ist Virginia Crowe«, rief er uber seine Schulter nach hinten. »Virginia, das ist Matthew Arnatt. Matty.«

Matty nickte Virginia zu, und Virginia nickte zuruck. Aber keiner von ihnen sagte etwas.

Sherlock stellte sich auf die Bugkante, balancierte einen Moment lang unsicher auf der Stelle, wahrend die Bootsspitze unter ihm auf- und abdumpelte, und sprang dann ans Ufer. Er packte Albert am Seilhalfter und fuhrte ihn am Ufer entlang, wahrend er neben Virginia und ihrem Pferd herging.

»Das ist Albert«, brachte er schlie?lich hervor.

»Das ist Sandia«, erwiderte Virginia. »Du solltest wirklich reiten lernen, wei?t du.«

Er schuttelte den Kopf. »Hatte nie die Gelegenheit dazu.«

»Es ist ganz einfach. Aber ihr Jungs macht immer so ein Gewese darum, wie schwierig es doch angeblich ist. Fuhr’ das Pferd einfach mit den Knien, nicht mit den Zugeln. Nimm die Zugel nur, um das Pferd langsamer gehen zu lassen.«

Darauf fiel Sherlock beim besten Willen keine Antwort ein, die ihm passend erschien. In peinliches Schweigen versunken, gingen sie eine Weile nebeneinander her.

»Wo bist du gewesen?«, fragte sie schlie?lich.

»In Guildford. Ich musste da jemanden besuchen.« Plotzlich fiel Sherlock etwas ein. Er langte in seine Jacke und zog den Brief hervor, den Professor Winchcombe geschrieben hatte. »Den muss ich deinem Vater geben. Wei?t du, wo er ist?«

»Nach dir suchen zum Beispiel? Du solltest doch jetzt eigentlich Unterricht haben.«

Er blickte zu ihr hoch, unsicher, ob sie es ernst gemeint hatte. Doch auf ihren Lippen zeigte sich ein leises Lacheln. Sie sah ihn an, und er wandte den Blick ab.

»Gib mir den Brief«, sagte sie. »Ich sorge dafur, dass er ihn bekommt.«

Er hielt ihr den Brief entgegen, doch gleich darauf zog er die Hand auch schon wieder etwas zuruck. »Es ist au?erst wichtig«, sagte er mit zogernder Stimme. »Es geht um die beiden toten Manner.«

»Dann sorge ich dafur, dass er ihn sofort bekommt.« Sie nahm ihm den Brief aus der ausgestreckten Hand. Ihre Finger beruhrten ihn nicht. Aber Sherlock meinte fast, die Warme zu spuren, die von ihnen ausstrahlte, als sie so dicht an ihm vorbeistreiften.

»Die Manner sind an der Pest gestorben, nicht? Das sagen jedenfalls die Leute.«

»Es ist nicht die Pest. Es waren Bienen. Deswegen musste ich auch nach Guildford. Um mit einem Experten fur Krankheiten zu sprechen.« Er ertappte sich dabei, wie er immer schneller redete. Aber irgendwie schien er machtlos dagegen zu sein. »Ich habe ein gelbes Pulver bei einer der Leichen gefunden. Ich wollte, dass mir jemand sagt, was es ist, und so hab ich etwas davon nach Guildford gebracht. Es hat sich herausgestellt, dass es Bienenpollen sind. Deswegen sind wir auch zu dem Schluss gekommen, dass Bienen fur die Todesfalle verantwortlich sind.«

»Aber das hast du nicht gewusst, als du das Pulver gefunden hast«, stellte Virginia fest.

»Nein.«

»Oder als du es eingesammelt und den ganzen Weg nach Guildford transportiert hast.«

»Nein.«

»Bei dem, was du gewusst hast – oder besser gesagt, was du nicht gewusst hast –, hatte das Pulver auch genauso gut etwas sein konnen, das die Seuche verursacht. Etwas Ansteckendes.«

Sherlock kam sich vor, als wurde man ihn in die Ecke drangen. »Ja«, sagte er und dehnte dabei das Wort so auseinander, dass es eher klang wie »Jaa-haa.«

»Also hast du dein Leben aufgrund der Tatsache riskiert, dass du dachtest, alle anderen waren auf dem Holzweg und du konntest ihnen das beweisen.«

»Ahm, vermutlich.« Er fuhlte sich irgendwie verlegen. Sie hatte recht. Dem Geheimnis auf den Grund zu gehen, war fur ihn wichtiger gewesen als seine eigene Sicherheit. Er hatte sich auch irren konnen – schlie?lich wusste er nicht viel uber Krankheiten oder wie sie ubertragen wurden. Bei dem gelben Pulver hatte es sich um eine Substanz handeln konnen, die als Folge der Krankheit von den Korpern der Manner produziert worden war. Zum

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