»Bienenpollen?«, wiederholte Sherlock, nicht sicher, ob er richtig verstanden hatte.

»Hast du jemals Bienen studiert?«, fragte der Professor und lehnte sich in seinem Stuhl zuruck. »Faszinierende Kreaturen. Ich empfehle sie dir als ernsthaftes Forschungsobjekt.« Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. »Sie sammeln Pollen von Bluten und transportieren sie in ihren Stock.«

»Was genau ist Pollen?«, fragte Sherlock, der ein merkwurdiges Gefuhl der Enttauschung verspurte. »Ich habe das Wort schon einmal gehort, war aber nie so sicher, was es bedeutet.«

»Pollen«, erklarte der Professor, »ist ein Pulver, das aus Microgametophyten besteht, die sich wiederum zu den mannlichen Gameten – beziehungsweise Reproduktionszellen – von Samenpflanzen entwickeln. Der Pollen wird von den Staubblattern, den mannlichen Fortpflanzungsorganen einer Blute, produziert. Durch den Wind oder nahrungssuchende Insekten gelangt der Pollen zum Stempel, also dem weiblichen Fortpflanzungsorgan einer anderen Blute der gleichen Pflanzenart. Dort verschmelzen sie miteinander und bilden einen Samen.« Er musterte seine Brillenglaser und setzte sich dann das Gestell wieder auf die Nase.

Sherlock versuchte verzweifelt, die Ausfuhrungen des Professors zu verarbeiten, aber dann merkte er, dass der Mann schon wieder weitersprach. »Was die Bienen anbelangt, so sammeln sie Pollen aus Bluten und formen ihn zu einer ballartigen Masse. Diesen Ball transportieren sie dann auf ihren Hinterbeinen in den Bienenstock. Der Nutzen fur die Pflanze besteht naturlich darin, dass die Biene bei ihrer Reise von Blute zu Blute etwas Pollen vom Staubblatt einer Blute auf den Stempel einer anderen fallen lasst. Auf diese Weise wird die Pflanze bei der Fortpflanzung unterstutzt. Soweit so gut, nun zum Bienenpollen: Bienen haben auf der Oberseite der Hinterbeine winzige Harchen, die sozusagen als Korb fungieren. Dort hinauf rollen sie die Pollenkorner und vermischen sie mit Blutennektar, um einen Ball daraus zu formen. Und das nennt man dann ›Bienenpollen‹.«

»Und ist der harmlos?«

»Fur die meisten Menschen ja. Obwohl es in der Tat ein paar Ungluckliche gibt, bei denen der Kontakt mit Bienenpollen unangenehme korperliche Reaktionen auslost.« Er lehnte sich zuruck und dachte einen Augenblick lang nach. »Konnte das vielleicht die beulenartigen Schwellungen verursacht haben, die MrCrowe in seinem Brief beschrieben hat? Hm, ich bezweifele es. Unvertraglichkeiten gegen Bienenpollen tendieren dazu, sich in Form von Hautausschlagen zu au?ern. Und dass es zufallig zwei Menschen mit einer solch extremen Sensibilitat kurz hintereinander getroffen hat, ist eher unwahrscheinlich.« Plotzlich knallte er mit der Hand auf den Tisch. Sherlock fuhr erschrocken hoch. »Naturlich! Die naheliegende Losung habe ich vollig ubersehen!«

»Naheliegend?« Sherlock zermarterte sich das Gehirn. Was konnte die naheliegende Erklarung fur beulenartige Schwellungen sein, wenn Bienen involviert waren? Und dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitzschlag. »Stachel!«, rief er.

»Gut gemacht, mein Junge. Ja, Bienenstachel. Au?erst giftige Bienenstachel zudem. Die meisten Bienen hierzulande haben Stachel, die Schmerzen und leichte, punktartige Schwellungen verursachen. Aber nicht so etwas wie die Beulen, die MrCrowe beschrieben hat.«

Er blickte Sherlock an. »Du musst sie auch gesehen haben. Wie gro? waren sie?«

Sherlock hielt die rechte Hand empor. »Ungefahr die Gro?e meines letzten Daumengliedes«, erwiderte er.

»Das deutet auf eine au?erst starke Giftform hin. Und vermutlich auf eine au?erst aggressive Bienenart.«

»Woher wissen Sie so viel uber Bienen?«, fragte Sherlock.

Der Professor lachelte. »Ich habe dir erzahlt, dass ich ein paar Jahre in China verbracht habe. Die Chinesen halten Bienen bereits seit Tausenden von Jahren, und bei meinem Aufenthalt habe ich festgestellt, dass dort Honig wegen seiner medizinischen Wirkung sehr geschatzt wird. Laut den Aufzeichnungen des gro?en medizinischen Werkes Ben cao gang mu oder auch Das Buch heilender Krauter, das vor ungefahr dreihundert Jahren von einem Mann namens Li Shi Zhen verfasst wurde, wirkt Honig stimmungsaufhellend, schmerzlindernd, entgiftend, beruhigend, sehkraftverbessernd und lebensverlangernd.« Er wandte den Blick von Sherlock ab und starrte an die Wand. Sherlock hatte den Eindruck, dass er sich an Dinge erinnerte, die vor vielen Jahren geschehen waren. »Hier in Gro?britannien sind wir an die eher gutmutige Europaische Honigbiene, Apis mellifera, gewohnt. Die in Asien vorkommende Riesenhonigbiene, Apis dorsata, ist betrachtlich aggressiver, und ihr Stich ist viel schmerzhafter. Trotzdem wird sie von den Chinesen wegen ihres Honigs in Bienenstocken gehalten. Im Gegensatz zu unseren Stocken, die wie Glocken geformt sind, benutzen die Chinesen ausgehohlte Baumstamme oder zylinderformige Webkorbe zur Bienenhaltung.

Manchmal konnte man die chinesischen Bauern dabei beobachten, wie sie ihre Bienenstocke hinauf in die Berge trugen. Zwei auf einmal, jeweils befestigt am Ende einer Bambusstange, die sie auf der Schulter balancierten. Ich erinnere mich daran, wie beim Klettern die Bienen wie eine Rauchwolke um sie herumgeschwirrt sind.«

Wie eine Rauchwolke. Die Worte trafen Sherlock wie ein Schlag.

»Das war es«, hauchte er.

»Was war was?«

»Ich hab gesehen, wie sich von einer der Leichen ein Schatten entfernt hat. Und mein Freund hat das Gleiche aus einem Fenster kommen sehen. In der Wohnung, in der die andere Leiche entdeckt wurde. Das mussen Bienen gewesen sein!«

Der Professor nickte. »Sie mussten dann ziemlich klein sein. Andernfalls hattest du den Schwarm nicht mit einem Schatten verwechselt. Und vermutlich hatten sie nicht die auffallige gelb-schwarze Korperfarbung einer typischen Hummel, sondern waren eher dunkel. Ich habe irgendwo mal gelesen, dass es afrikanische Bienen gibt, die klein und au?erdem nahezu schwarz sind. Und daruber hinaus auch sehr aggressiv.«

»Wurden Sie mir einen Gefallen tun?«, fragte Sherlock.

»Naturlich.«

»Konnten Sie Amyus Crowe einen Brief schreiben, in dem Sie erklaren, was Ihrer Meinung nach die beiden Manner umgebracht hat? Ich nehme ihn dann fur MrCrowe mit nach Farnham.« Er wandte den Blick vom Professor ab und spurte, dass er rot wurde. »Ich glaube, ich bekomme Schwierigkeiten mit meiner Tante und meinem Onkel, wenn ich zuruck bin. Und vielleicht werde ich dann nicht bestraft.«

Der Professor nickte. Er schuttete das gelbe Pulver – das harmlose gelbe Puder, wie Sherlock sich noch einmal in Erinnerung rufen musste – vom Pergamentbogen auf das Loschpapier. Er zog einen Federkiel aus einem Tintenfass und begann, auf dem Pergament zu schreiben. Die Handschrift war etwas krakelig, aber Sherlock konnte die Worter gerade noch entziffern.

Werter MrCrowe,

heute hatte ich das unerwartete Vergnugen, die Bekanntschaft Ihres Schulers …

»Wie ist dein Name, mein junger Freund?«, fragte er und wandte sich Sherlock zu.

»Holmes, Sir. Sherlock Holmes.«

Master Sherlock Holmes zu machen. Er hat mir eine Probe eines gelben Puders gebracht, das, wie er sagt, bei den unter so tragischen Umstanden verstorbenen Mannern gefunden wurde. Den Mannern, deren Todesumstande Sie mir in Ihrem Brief beschrieben haben, welcher heute Morgen eingetroffen ist. Nach eingehender Untersuchung des Pulvers kann ich es als simplen Bienenpollen identifizieren und daraus schlie?e ich, dass die beiden Manner nicht an der Beulenpest oder einer vergleichbaren Krankheit gestorben sind, sondern durch Bienenstiche. Wenn Sie einen ortsansassigen Arzt darum bitten, die vermeintlichen »Beulen« zu untersuchen, wage ich zu behaupten, dass er in jeder »Beule« kleine Stachel finden wird … oder zumindest Male, die von Stacheln stammen.

Ich muss diesem jungen Mann ein gro?es Lob dafur aussprechen, dass er mir die Pulverprobe gebracht hat. Ware das nicht geschehen, hatten die Geruchte uber ein sich im Land ausbreitendes todliches Fieber eine gro?e Panik auslosen konnen.

Ich wurde mich sehr freuen, wenn wir unsere Bekanntschaft zu einem Ihnen genehmen Zeitpunkt erneuern.

Hochachtungsvoll

Arthur Winchcombe, (Privatdozent)

Er faltete den Bogen zusammen und lie? ihn in einen Umschlag gleiten, den er aus einer

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