Lateinstudien investiert hast.«

»Ich wei?«, antwortete Sherlock. »MrCrowe und ich haben uns bisher auf … Mathematik konzentriert.«

»MrCrowes Zeit ist wertvoll«, fuhr Onkel Sherrinford in ruhigem und bedachtigem Ton fort. »Und dein Bruder hat einige Kosten auf sich genommen, um sich MrCrowes Dienste zu vergewissern. Vielleicht magst du ja einmal daruber nachdenken.«

»Das werde ich, Onkel.«

»MrCrowe wird morgen Nachmittag wiederkommen. Vielleicht kannst du ja fur mich ein bisschen was ubersetzen.«

Sherlock dachte an Mattys Prognose, dass sie nicht vor dem Abendessen zuruck sein wurden, und zuckte innerlich zusammen. Er konnte jedoch seinem Onkel unmoglich erzahlen, dass er nach Guildford fuhr. Er wollte nicht riskieren, sich ein Verbot einzufangen. Als er aufblickte, sah er, dass MrsEglantine ihn mit ihren kleinen funkelnden Knopfaugen musterte.

»Ich werde da sein«, versprach er und wusste schon, als er die Worte aussprach, dass er es wohl kaum rechtzeitig zuruck schaffen wurde. Doch uber eine Erklarung konnte er sich spater den Kopf zerbrechen, wenn es soweit war.

Als er das Abendessen beendet hatte, entschuldigte er sich und begab sich in die Bibliothek. Sein Onkel, der noch im Esszimmer speiste, hatte vor einem oder zwei Tagen gesagt, dass Sherlock die Bibliothek nutzen durfe, wenn er wolle. Aber dennoch kam er sich wie ein Eindringling vor, als er in die gedampfte Atmosphare des Raumes eintauchte, in dem es in jeder Ecke und jedem Winkel nach Leder und altem Papier roch und dessen Vorhange zum Schutz vor dem Sonnenlicht zugezogen waren. In der Hoffnung, etwas uber die ortliche Geographie zu finden, durchstoberte er die Regale. Er stie? auf verschiedene mehrbandige Enzyklopadien, in Lederbanden zusammengebundene Jahrgange von Kirchenzeitschriften, jede Menge kirchengeschichtliche Werke und auf unzahlige Sammelbande von Predigten, die mutma?lich von angesehenen Geistlichen vergangener Tage stammten. Schlie?lich fand er ein paar Regale mit Titeln uber lokale Geschichte und Geographie.

Er entschied sich fur ein Buch uber die Wasserwege in Surrey und Hampshire. Dann verlie? er die Bibliothek und kehrte auf sein Zimmer unter dem Dach zuruck.

Ungefahr eine halbe Stunde lang sa? er an der Nachricht, in der er mitteilen wollte, dass er fruh ausgegangen sei und erst spater am Tage wieder zuruckkehren wurde. Die ersten paar Versuche gerieten zu detailliert und enthielten diverse unwahre Angaben daruber, was er wo und wann zu tun beabsichtigte. Aber nach einer Weile erkannte er, dass seine Botschaft umso uberzeugender ausfiel, je einfacher sie war und je weniger nachprufbare Fakten sie enthielt. Als er die Nachricht verfasst hatte, legte er sich auf sein Bett und las das Buch, das er aus der Bibliothek mitgenommen hatte. Sherlock blatterte durch die Buchseiten und hielt Ausschau nach Stellen, in denen der Fluss Wey erwahnt wurde oder – besser noch – auf Landkarten verzeichnet war, die er sich einpragen konnte. Doch schon bald fand er mehr, als er erwartet hatte. Der Wey zum Beispiel war nicht nur einfach ein Fluss, sondern offensichtlich etwas, das man »Wasserstra?e« nannte. Flusse neigten dazu, sich in willkurlichen Windungen durch die Landschaft zu schlangeln. Die fur den Handelsverkehr zwischen den Stadten gebauten Kanale hingegen verliefen, wo es irgend moglich war, in gerader Richtung. Mit stufenartigen Konstruktionen, den »Schleusen«, konnte das Niveau des Wasserstandes je nach Form der Landschaft angehoben oder abgesenkt werden. Eine Wasserstra?e, so stellte er fest, war ein Fluss, den man durch Wehre und Schleusen schiffbarer gemacht hatte, wodurch sich der naturliche Fluss in etwas verwandelte, das mehr Ahnlichkeit mit einem Kanal hatte.

Sherlock brummte der Schadel vor lauter Details, mit denen auf die Meisterleistungen der Ingenieurskunst und die vielen Jahre Arbeit eingegangen wurde, die erforderlich gewesen waren, um den Fluss dem menschlichen Willen zu unterwerfen.

Da er wusste, dass ein langer Tag vor ihm lag, versuchte er schlie?lich zu schlafen, und obwohl ihm der Kopf vor lauter Ideen, Bildern und Fakten nur so schwirrte, glitt er, ehe er es sich versah, in einen traumlosen Schlaf. Als er wach wurde, war es immer noch dunkel, doch eine frische Brise wehte durchs Fenster, und die Vogel in den Buschen und Baumen hatten schon mit ihrem Fruhkonzert begonnen. Es war vier Uhr morgens.

Er hatte sich angezogen schlafen gelegt, und so glitt er schon wenige Augenblicke spater durch das dunkle Haus. Er schlupfte hinaus auf den Korridor und schlich die enge Holztreppe vom Dachgeschoss hinunter. Sorgfaltig achtete er darauf, dass er auf den au?eren Rand der Stufen trat, um ein Knarren zu vermeiden. Anschlie?end pirschte er sich vorsichtig auf dem Korridor im ersten Stock voran, wobei er versuchte, nicht zu schwer zu atmen. Er kam am Schlafzimmer seines Onkels und seiner Tante vorbei, am Ankleideraum und dem Badezimmer. Dann ging es die Haupttreppe hinunter, die im Bogen zur Eingangshalle im Erdgeschoss hinabfuhrte. Dicht an die Wand gedrangt machte sich Sherlock an den Abstieg. Er meinte das Gewicht der uber ihm hangenden Gemalde formlich auf den Schultern zu spuren, vor allem, wenn er an die mit uppigem Schnitzwerk verzierten machtigen Holzrahmen dachte, die die Bilder an sich zu relativer Bedeutungslosigkeit degradierten. Der einzige Laut, den er vernahm, war das Ticken der gro?en Uhr, die unten neben der Treppe in einem Winkel stand.

Als er die Halle erreicht hatte, blieb er stehen. Nun musste er noch die mit Fliesen bedeckte Weite bis zur Eingangstur uberqueren. Kein Entlanggeschleiche an der Wand mehr. Wenn jetzt jemand aus einer der Turen kam oder oben von der Galerie herabblickte, ware er auf der freien Flache schutzlos den neugierigen Blicken ausgesetzt. Er kniete sich einen Moment hin, um zu sehen, ob unter einer der Turen Licht hindurchschien. Aber es war alles dunkel. Schlie?lich nahm er all seinen Mut zusammen und huschte uber die Fliesen.

Als er die Eingangstur erreicht hatte, hatte er das Gefuhl, dass das Pochen seines Herzens doppelt so schnell war wie das Ticken der Uhr.

Die Tur war zugesperrt. Aber nachdem er den Riegel beiseite geschoben hatte, lie? sie sich problemlos offnen. Moglicherweise wurde jemandem in den Morgenstunden auffallen, dass sie nicht verriegelt war. Aber mit ein bisschen Gluck wurde der- oder diejenige einfach vermuten, dass schon jemand anderes aufgeschlossen hatte.

Sherlock hatte die Tur fast schon wieder zugedruckt, als ihm einfiel, dass er noch seine Nachricht hinterlassen musste. Er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tur und schob sie wieder auf. Dann glitt er rasch hinein. Neben dem Hutstander in der Halle, auf dem normalerweise die Morgen- und Abendpost deponiert wurde, stand ein kleiner Beistelltisch. Sherlock legte die Nachricht darauf und ging wieder hinaus.

Verglichen mit der stickigen Luft im Haus war es drau?en kuhl und erfrischend. Und dort, wo uber den Baumwipfeln das Blau der Morgendammerung die Dunkelheit der Nacht vertrieb, kundigte sich schon zaghaft der Schein der Morgensonne an. Sherlock sprintete, so schnell er konnte, uber den Zufahrtsweg. Er horte, wie die Kieselsteinchen auf dem Weg unter seinen Tritten knirschten, bevor er den Rasen erreichte und die weiche Grasflache seine Schritte verschluckte.

Er brauchte zehn Minuten, bis er mit Hilfe von Mattys Instruktionen das Flussufer erreicht hatte. Sherlock konnte eine lange schwarze Kontur auf dem silbrig glitzernden Wasser ausmachen. Trage dumpelte sie auf den Wellen hin und her. Das merkwurdige Gefahrt sah aus, als hatte man eine lange, zylinderformige Hutrohre einfach auf einen schmalen Schiffskiel gelegt. Die Rohre endete hinten abrupt kurz vor dem Heck und machte dort einer Plattform mit genugend Raum fur zwei Leute Platz, von denen einer die Ruderpinne bediente.

Vorn am Bug des Bootes war ein Tau festgeknupft. Sanft senkte es sich auf die Wasseroberflache hinab. Doch gleich darauf straffte es sich wieder etwas, als das Pferd, an dessen Geschirr das andere Tauende befestigt war, sich gemachlich und zufrieden weiter am grasigen Ufer entlangfra?. Im Gegensatz zu Virginia Crowes prachtigem schwarzem Hengst handelte es sich bei diesem Tier um eine schwere, gedrungene Kreatur mit stammigen Beinen und zotteliger Mahne. Ohne gro?es Interesse, hob es kurz den Kopf, um Sherlock zu beaugen. Dann fra? es unbeeindruckt weiter.

Matty stand vorne am Bug und wartete. Vor dem langsam heller werdenden Himmel sah seine dunkle Silhouette aus wie die Galionsfigur eines Schiffes oder eine Wasserspeierskulptur an einer Kathedrale. Er hielt einen Bootshaken, eine lange Holzstange mit einem Metallhaken am Ende.

»Dann mal los!«, sagte er, als Sherlock auf das Boot kletterte. »Ach ubrigens, das ist Albert.« Er machte einen schnalzenden Laut mit seiner Zunge, woraufhin sich das Pferd mit einem bedauernden Ausdruck auf dem langen Gesicht zu ihm umblickte und sich entlang des Uferrandes in Bewegung setzte. Das zwischen Boot und Pferd befestigte Tau straffte sich und, gezogen von Albert, setzte sich das Gefahrt langsam in Bewegung. Gleichzeitig stie? Matty mit dem Bootshaken den Kahn vom Ufer fort, damit er sich nicht im Schilf verfing.

»Wei? er eigentlich, wohin er geht?«, fragte Sherlock.

»Was muss er da denn schon gro? wissen? Er trottet einfach am Ufer entlang und zieht das Boot hinter sich her. Kommt er an ein Hindernis, bleibt er einfach stehen und ich kummere mich drum. Du bleibst hinten am Heck

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