»In der Tat«, stimmte der Seelord zu und fixierte den Generalinspekteur mit scharfem Blick. »Nach allem, was man hort, handelt es sich um eine ehrenwerte Familie. Und konnten Sie dem Admiral und mir bitte naher erklaren, warum Hawkwood seinerzeit in die Berge fluchtete?«
James Read fing Blomefields um Unterstutzung heischenden Blick auf und nickte nach kurzem Zogern.
Thomas Blomefield sammelte seine Gedanken und sagte: »Die ganze Geschichte trug sich wahrend der Schlacht bei Talavera zu.«
»Das 95. Rifles Regiment unterstand damals doch Crauford, nicht wahr? Ich dachte, die Marschkolonne hatte an dem Kampf nicht teilgenommen, weil sie erst einen Tag spater dort eintraf.«
»Das stimmt«, bestatigte Blomefield nickend. »Aber Hawkwood gehorte nicht zum Haupttrupp. Wellington hatte eine Hand voll Scharfschutzen angefordert und sie dem Vorauskommando zugeteilt. Wellington wollte wohl wissen, ob das Rifles Regiment seinem Ruf gerecht wurde. Und Hawkwood war unter den Auserwahlten.« Blomefield fugte grinsend hinzu: »Er scheint die irritierende Angewohnheit zu haben, immer im richtigen Augenblick am richtigen Ort zu sein.«
»Offensichtlich«, bemerkte der Seelord sarkastisch. »Und was ist dann passiert?«
»Es geschah nach dem Angriff der Franzosen unter dem Kommando von Lapisse und Sabastiani, den Sherbrooks Division abgewehrt hat. Das Gardekorps und die Deutschen hatten sich beinahe uberrannt und haben hintereinander den Fluss uberquert. Erinnern Sie sich daran, Mylord?«
Der Seelord nickte nur wortlos. In den Zeitungen war ausfuhrlich uber diese Schlacht berichtet worden, ohne allerdings Hawkwoods Beteiligung daran zu erwahnen. Zum Gluck.
»Captain Hawkwood hat dem Major der Garde geraten, am Ufer zu bleiben und die Flanke zu sichern, weil es zu riskant sei, den Fluss zu uberqueren und so vom Haupttrupp abgeschnitten zu werden. Und dieser Major war Delancey, der Neffe von … na, Sie wissen schon. Hawkwood hatte genauso gut einem Stier eine Muleta vor die Augen halten konnen. Ein Major und kunftiges Mitglied des britischen Hochadels lasst sich von einem Captain doch nicht sagen, was er tun oder lassen soll. Naturlich hat Delancey die Warnung in den Wind geschlagen, und es ist genau das eingetreten, was Hawkwood prophezeit hat. Kaum hatte die Garde den Fluss uberquert, gingen die Franzosen zum Gegenangriff uber.
Die Katastrophe war vorprogrammiert. Die Franzosen haben unsere Linie durchbrochen, und die Garde hat mehr als ein Viertel ihrer Manner verloren. Hatte Wellington nicht Mackenzies Brigade vorgeschickt, um die Lucke zu schlie?en, waren wir alle verloren gewesen.«
Blomefield schuttelte den Kopf, ehe er fortfuhr: »Mackenzie ist ebenso gefallen wie Lapisse, was meiner Meinung nach nur eine Art Gerechtigkeit war. Aber wir sind nur knapp mit einem blauen Auge davongekommen.
Wie auch immer, jedenfalls hat Captain Hawkwood am Ende dieses Tages Delancey zur Rede gestellt und ihm vorgeworfen, auf leichtfertige Weise das Leben seiner Manner aufs Spiel gesetzt zu haben. Kurz gesagt, er hat ihn einen verdammten Idioten und eine Schande fur das Militar genannt und behauptet, dass es ein Segen gewesen ware, wenn er wie die von ihm geopferten armen Kerle gefallen ware. Und da diese Konfrontation nicht unter vier Augen stattfand, was schlimm genug gewesen ware, sondern in Anwesenheit von Delanceys Freunden, blieb ihm nichts anderes ubrig, als Hawkwood zum Duell herauszufordern.«
Als der Seelord zum Sprechen ansetzte, fugte Blomefield schnell hinzu: »Ja, die Vorschriften. Duellieren ist streng verboten, aber fur Delancey war es ein Ehrenhandel. Eine Beleidigung des Familiennamens und so weiter.«
»Und Hawkwood hat ihn getotet«, konstatierte der Seelord.
»Ja. Mit einem Schuss direkt ins Herz. Offensichtlich ist unser Mann nicht nur ein exzellenter Scharfschutze, sondern er trifft auch mit einer Pistole.«
»Hat denn niemand versucht, das Duell zu verhindern?«
Blomefield schuttelte den Kopf. »Fur Delanceys Freunde stand der Ausgang des Duells wohl von vornherein fest. Was sich als fataler Irrtum erwies. Naturlich gab es nur eine Konsequenz: Hawkwood hatte in Ketten nach London zuruckgebracht und wegen Mordes vors Kriegsgericht gestellt werden mussen. Doch daraus wurde nichts.« Mit gesenkter Stimme fugte Blomefield hinzu: »Ich habe gehort, Wellington habe in dieser Sache personlich interveniert.«
»Wie das?«, fragte Dalryde.
Blomefield zuckte mit den Schultern. »Niemand kennt die Hintergrunde genau. Hawkwood wurde unehrenhaft aus der Armee entlassen, aber nicht nach England zuruckgeschickt.«
Er sah den Obersten Richter von der Seite an.
»Und was ist aus ihm geworden?«
Blomefield schurzte die Lippen. »Damals wurde gemunkelt, er sei geflohen und habe sich den
»Er ist zu den Spaniern ubergelaufen?«, fragte der Seelord entgeistert.
»Er hat mit ihnen in den Bergen gekampft. Hawkwood spricht angeblich nicht nur Spanisch, sondern auch Franzosisch.« Wieder warf Blomefield James Read einen Blick zu.
»Ob das mit Wellingtons Einverstandnis geschehen ist, kann ich nicht sagen. Es hie? nur, es sei besser, einen Mann mit Hawkwoods Erfahrungen im Kampf gegen die Franzosen einzusetzen, als ihn nach England zuruckzuschicken. Vielleicht wollte Wellington mit ihm eine Art Verbindungsmann
schaffen – womit wir bei Colquhoun Grant waren.« Stirnrunzelnd fuhr der Generalinspekteur fort: »Es kursiert ein weiteres Gerucht um einen Sergeant und mehrere ausgewahlte Manner, die aus Hawkwoods Kompanie desertiert und ihm in die Berge gefolgt sind. Wie auch immer, jedenfalls war Captain Hawkwood wie vom Erdboden verschluckt und blieb verschwunden – bis jetzt.«
Es folgte ein langes Schweigen. Der Admiral musterte James Read ernst, bevor er sagte: »Was fur eine Geschichte! Und trotzdem vertrauen Sie diesem Hawkwood? Ich darf Sie daran erinnern, dass es hierbei nicht um die simple Aufklarung eines Verbrechens, sondern um die Sicherheit des gesamten Konigreichs geht.«
»
Trotz der Skepsis, die der Seelord auch in den Augen von Blomefield und Dalryde wahrnahm, seufzte er und gab klein bei. »Na gut, Read. Wie es scheint, bleibt uns nichts anderes ubrig, als Ihre Entscheidung zu akzeptieren. Mal sehen, ob sich Ihr Mann bewahrt. Ich erwarte jedoch, dass dem Ministerium jeden Tag Bericht erstattet wird. Ist das klar?«
»Wie Sie wunschen!« Read deutete eine Verneigung an.
Worauf der Seelord mit dem Finger auf James Reads Brust deutete und drohend hinzufugte: »Hoffentlich behalten Sie Recht, Sir. Denn Gott moge Ihnen helfen, sollte Ihr Mann versagen – oder vielmehr: Gott steh uns allen bei.«
Das Madchen war schmutzig und konnte nicht alter als zwolf oder dreizehn sein, aber ihre Augen waren die einer alten Frau. Mit einem verschlagenen Gesichtsausdruck hatte sie zu ihm hochgesehen, sich aufreizend uber die Lippen geleckt und dann einfach gesagt: »Jago schickt mich.«
Dann ging das verwahrloste Kind in dem zerschlissenen Kleid neben Hawkwood her. Ihm entging nicht, wie die Leute beim Anblick dieses seltsamen Paars reagierten: die spottischen Blicke, die anzuglich grinsenden Gesichter, das sich gegenseitige Ansto?en und Zuzwinkern. Naturlich bemerkte auch das Madchen, welche Aufmerksamkeit sie erregten, doch es schien ihr gleichgultig zu sein. Zweifellos war sie daran gewohnt.
Die Great Earl Street entlang, vorbei an der Kreuzung Seven Dials, zur Kirche St. Giles fuhrte sie ihn durch ein finsteres Gassengewirr, wohl aus Vorsicht, um eventuelle Verfolger abzuschutteln.
An einer Stra?enecke, im Schatten des Kirchturms, hatte das Madchen ihn am Armel gepackt und mit dunner Stimme gewarnt: »Bleib dicht bei mir.«
Einen ganzen Tag hatte Hawkwood darauf gewartet, dass Jago auf seine Nachricht reagierte, und diese Zeit genutzt, um mit dem Offizier der berittenen Patrouille, die die Wegelagerer in die Flucht geschlagen hatte, Kontakt aufzunehmen.
Weil Hawkwood den Exmajor der Dragoner Lomax bisher noch nicht personlich kannte, war er schockiert, als er den Mann traf. Die rechte Seite seines Gesichts bestand von der Braue bis zum Hals nur aus Narbengewebe,