die leere Augenhohle war ein Krater aus zerfetztem Fleisch und der Kiefer sah aus, als hatte jemand ein Brandeisen darauf gedruckt.

Nachdem sich Hawkwood wieder gefasst und sich gezwungen hatte, den Blick nicht abzuwenden, horte er sich Lomax’ Schilderung der Ereignisse in jener Nacht an.

Es sei nur einem Zufall und der unwetterbedingten Verspatung der Postkutsche zu verdanken, dass seine Patrouille wahrend ihrer Streife durch das Heideland den Uberfall bemerkt und eingegriffen habe, erklarte der Major. Er habe zwei seiner Manner bei der Kutsche postiert und mit dem Rest seines Trupps die Rauber verfolgt, ihre Spur jedoch wegen des heftigen Regens nach circa einer Meile in der Gegend von Bermondsey im Norden der Hauptstadt verloren. Das bedeutete, dass die Rauber jeden der etwa ein Dutzend Wege hatten einschlagen konnen.

Hawkwood unterdruckte seine Enttauschung uber die wenig aufschlussreichen Hinweise – obwohl er nicht viel mehr hatte erwarten konnen – und bedankte sich bei Lomax.

Da sprach der Exmajor ihn, nach Worten ringend, noch einmal an. »Da gibt es etwas, das Sie wissen sollen. Ich war in Talavera, beim 23. Regiment der Leichten Brigade unter Anson. Ich … das hei?t … wir …« Lomax holte tief Luft, ehe er fortfuhr: »Ich meine … dieser Delancey war ein schlechter Offizier. Niemand hat ihn gemocht, und dieser idiotische Angriff hat vielen tapferen Mannern das Leben gekostet. Nur Sie haben ihm gesagt, was gesagt werden musste, und getan, was getan werden musste. Viele Kameraden waren der Meinung, dass Sie Besseres verdient hatten.« Lomax zuckte verlegen mit den Schultern. »Wie auch immer, jedenfalls wollte ich, dass Sie das wissen.«

Dann schwieg Lomax und senkte den Blick. Offensichtlich waren ihm seine Worte peinlich.

In dieser Schlacht wurde er also derart entstellt, dachte Hawkwood.

Viele Soldaten waren damals im Kampf gefallen, doch an jenem Tag hatte noch ein anderer, erbarmungsloser Feind fast alles vernichtet, was sich ihm in den Weg gestellt hatte.

Das Feuer.

Vielleicht hatte der Zundfunke einer Muskete oder Kanone das verdorrte Gras in Brand gesetzt. Vom Sommerwind angefacht, hatte sich das Feuer mit unheimlicher Geschwindigkeit und Heftigkeit ausgebreitet und war uber verwundete und tote Soldaten hinweggefegt. Noch Monate spater hatte Hawkwood die Schreie der brennenden Manner gehort und den Geruch von verbranntem Fleisch in der Nase gehabt.

Lomax musste einer dieser Manner gewesen sein, die auf dem Schlachtfeld eingeschlossen waren. Wie durch ein Wunder, aber um welch entsetzlichen Preis hatte er uberlebt.

»Ich war verwundet und lag unter meinem Pferd«, sagte Lomax, als wurde er Hawkwoods Gedanken lesen. »Und es war ein verdammter Franzose, der mich rausgezogen hat, sonst waren ich und mein Pferd verbrannt.« Kopfschuttelnd wiederholte Lomax: »Ausgerechnet einem verdammten Franzosen verdanke ich mein Leben. Wer hatte das gedacht?«

Dann hob Lomax den Arm. Seine rechte Hand sah wie eine schwarz verfarbte Klaue aus. »Damit konnte ich naturlich nicht weiterkampfen. Reiten kann ich zwar noch, aber ein Kavallerist muss auch gleichzeitig eine Waffe ziehen konnen.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen und fugte hinzu: »Wenn ich mir Muhe gebe, kann ich gerade noch in der Nase bohren.«

Hawkwood bewunderte Lomax’ Offenheit, denn er wusste, wie schwer es dem Exmajor fiel, uber diese fur die Leichten Dragoner so verheerende Schlacht zu sprechen. Fehlentscheidungen und ungluckselige Umstande hatten dazu gefuhrt, dass uber die Halfte des Regiments gefallen war.

Doch trotz Lomax’ wohlgemeinter Worte konnte die Vergangenheit nicht neu geschrieben werden. Hawkwood hatte seine militarische Laufbahn beendet und musste jetzt zum Rhythmus einer anderen Trommel marschieren. Und dieser Trommelwirbel schickte ihn nun auf einen Weg, den er nicht gern einschlug. Er hatte sich wie ein Pilger fuhlen konnen, ware der Name fur diesen Ort, den er aufsuchen musste, nicht der reinste Hohn: Denn dieser Sundenpfuhl, in dem es von Gesetzlosen aller Art nur so wimmelte, hie? Holy Land – Heiliges Land.

Das Elendsviertel von St. Giles war eine Welt fur sich. Von der Great Russell Street im Norden, der Oxford Street im Westen und der Broad Street im Suden begrenzt, umfasste das Viertel etwa vier Hektar und glich einem eitrigen Geschwur im Herzen der Stadt. In dem beinahe undurchdringlichen Gewirr schmaler Stra?en mit verfallenen Gebauden, Hinterhofen und Abwasserkanalen herrschten Armut, Laster und Kriminalitat. Hunderte Schleichwege durch Spelunken und Gassen um den Leicester Square, vom Haymarket und durch die nasskalten Tunnel der Regent Street fuhrten in diese Rattenlocher. Unter dem Holzplatz im Osten gab es angeblich einen bis nach High Holborn reichenden Gang.

Die ersten Bewohner des Viertels – gro?tenteils katholische Iren und Verfemte – hatten ihrem Zufluchtsort den Namen gegeben. Morder, Deserteure, Diebe, Bettler und Huren hatten zusammen mit den Armen und Hungernden dort Unterschlupf und Schutz vor Vertretern der Obrigkeit und vor Gendarmen gefunden. Losgelost von den Zwangen der konventionellen Gesellschaft hatten die Bewohner des Holy Land ein Konigreich mit eigenen Gesetzen, Gerichten und Selbstjustiz errichtet. Deshalb handelte jeder behordliche Vertreter, der sich in das Elendsviertel St. Giles wagte, auf eigene Gefahr.

Jagos Botin hie? Jenny und war nur eines von tausenden elternlosen Stra?enkindern, die sich mehr oder weniger anstandig durchs Leben schlugen oder wie Jenny ihre Korper, ihren einzigen Besitz, verkauften.

Hawkwood spurte die misstrauischen Blicke der halb hinter maroden, schiefen Turen verborgenen Beobachter geradezu korperlich. Er sah, wie teilnahmslose graue Gesichter aus mit Lumpen verhangten Fenstern spahten, wahrend er und das Madchen durch den Dreck neben der uberquellenden Kloakenrinne stapften. Menschliche und tierische Exkremente, verrottender Abfall und Faulnis boten ein Bild volliger Verwahrlosung.

Aus einer der trostlosen Gassen drang der schrille Angstschrei einer Frau, ein Mann fluchte obszon, dann ein dumpfer Schlag, und der Schrei verkam zu einem klaglichen Wimmern. Jenny klammerte sich an Hawkwoods Armel, denn trotz ihrer zur Schau gestellten Dreistigkeit war sie noch ein Kind, das sich furchtete.

In einer offenen Tur lehnte eine Gestalt – eine Frau, wie Hawkwood erst bei naherem Hinsehen erkannte. Sofort riss sie sich ihr Umhangetuch von den Schultern, hob ihren zerlumpten Rock und entblo?te ihre Scham. Bruste und Beine waren fahl wie der Bauch eines Fisches und voller Schwielen. Sie warf den Kopf in den Nacken, lachte laut und rief: »Komm her, Su?er! Lass die Kleine sausen. Molly zeigt dir, was eine richtige Frau draufhat!«

Jenny presste sich dichter an Hawkwood, als ihnen das raue Gelachter der Hure durch die Gasse folgte.

Mittlerweile waren sie tief in das Elendsviertel vorgedrungen. Hawkwood hatte vollig die Orientierung verloren, denn das Madchen hatte ihn absichtlich in die Irre gefuhrt. Er bezweifelte, ob er ohne ortskundige Fuhrung je wieder in die Zivilisation zuruckfinden wurde.

Die Gassen zwischen den eng aneinander stehenden Hausern wurden noch schmaler, und es wurde immer dunkler. Hawkwood fiel auf, dass sich kaum noch menschliche Wesen blicken lie?en, so als waren sie von den Schatten verschluckt worden. Ob sie die Gassen meiden, weil ich hier aufgetaucht bin?, wunderte er sich.

Plotzlich zerrte Jenny ihn durch einen niedrigen Torbogen und ein paar steinerne Stufen nach unten. Dort blieb sie vor einer massiven Holztur stehen. Dahinter horte er Stimmen und andere Gerausche, kehlig und undeutlich, das Ganze vom Quietschen einer Fiedel ubertont. Als Jenny an die Tur klopfte, spurte Hawkwood ein Prickeln im Nacken. Dann wurde die Tur aufgerissen, und Hawkwood stolperte hinter dem Madchen blindlings ins Dunkle.

5

Es dauerte mehrere Sekunden, bis sich Hawkwoods Augen an das trube Licht in dem gro?en, verraucherten Kellergewolbe gewohnt hatten. Am hinteren Ende fuhrte eine Holztreppe zu einer Ebene, die durch ein Gelander vom Schankraum getrennt war. An einer Wand erstreckte sich die aus leeren Fassern und blanken Brettern konstruierte Theke.

An groben Tischen sa?en Manner und Frauen, andere standen, Flaschen oder Kruge in den Handen, am Tresen. Die Gaste waren ausnahmslos armlich gekleidet, ihre Gesichter vom Hunger ausgezehrt oder vom Alkohol verwustet. In der Ecke hockte ein Fiedler, und ein paar Manner grolten betrunken unflatige Lieder.

Zwanzig Gaste oder mehr standen um den Hunde-Pit. Etwa ein halbes Dutzend stammige Bullterrier,

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