vorbereitet habe. Wie bei fast allen Lagerinsassen rief der Hunger zu dieser Stunde Erinnerungen und Phantasien wach, die mit den Mahlzeiten vergangener Zeiten zusammenhingen. Wenn Daniel langer als ublich warten musste, hatte er stets das Bild eines schon gedeckten Tisches mit leckerem, koscheren Essen vor Augen, das seine Mutter so gut zuzubereiten verstand. Oder gar das Nachtmahl an den zwei Osterfeiertagen mit den Verwandten, Onkeln und Cousins, der Korb mit der Terrine Charoset, die bitteren Krauter, die er jetzt kostlich gefunden hatte, das ungesauerte Brot, die hartgekochten Eier, das strahlend wei?e Seidentuch mit den blauen Streifen, das sie zudeckte … Was hatte er blo? heute dafur gegeben, ein hartes Ei zu essen oder ein wenig Lammfleisch! Er dachte an den Geschmack der Mazze und an die Freude, das versteckte Stuck Brot zu entdecken, das dem Finder unter den Kindern eine Belohnung einbrachte. Er wollte nicht an die Lieder denken und auch nicht an die drei Trinkspruche. Er ware schon mit ein paar Loffeln voll Tscholent zufrieden gewesen, jener aus Reis, Bohnen und Fleisch bestehende Eintopf, der eine ganze Nacht lang im Ofen der Gemeinde kochelte und den er als Junge des Ofteren holen gegangen war …
Unbarmherzig losten sich diese Bilder angesichts der kargen Suppe auf, die es taglich gab, au?er donnerstags, wenn die Kartoffeln seinen Magen etwas mehr fullten. Er wusste: Der Nachmittag wurde kommen, und die funf oder sechs Stunden Arbeit in der Fabrik, mit nichts weiter als einer wassrigen Suppe im Magen, wurden ihn wie jeden Abend an den Rand der Erschopfung, in eine dumpfe Hoffnungslosigkeit treiben; oft hatte er das Gefuhl, nicht mehr die notige Kraft aufbringen zu konnen, um am nachsten Tag aufzustehen. So glich sein Tag jenen Gesichtern, die einen Unfall erlitten hatten, die eine Seite war beinahe unversehrt und schon, verbrannt und voller Narben die andere.
Er konnte sich jedoch nicht immer den ganzen Vormittag dem Bau der Geige widmen: Manchmal brachten sie ihm auch ein Instrument zur Reparatur, denn die
Zunachst war es fur ihn sehr zeitaufwendig gewesen, sorgfaltig alles Material auszuwahlen, das er benotigte; man hatte ihm namlich am ersten Tag ausdrucklich befohlen, die Dinge, die er nicht brauchen wurde, auszusortieren. Vermutlich wollen sie den Rest verkaufen, dachte er. So achtete er darauf, dass ihm, sollte er etwas verderben oder fur kunftige Reparaturen brauchen, genugend Stucke und Holzer ubrig blieben. Er fand einige bereits zugeschnittene, edle Fichten- und Ahornholzer vor und ein paar Ebenholzwirbel. Er behielt auch zwei Bogen zuruck – den einen, um ihn herzurichten, der andere war offensichtlich funkelnagelneu -, ebenso einige umsponnene Saiten und Leisten aus Maulbeerund Ebenholz. Au?erdem bewahrte er eine Anzahl schon zurechtgeschnittener Holzstreifen fur die Zargen auf und das gesamte Werkzeug, das vorhanden war, man konnte nie zu viel davon haben. Auch drei schon vorgefertigte Stimmstocke behielt er; besser es blieb einer ubrig, sie wurden ihm Arbeit ersparen. Das Ordnen der Tiegel mit Leim, Grundierung, Lacken und Granulaten hatte ihm viel Muhe bereitet, doch nun waren sie feinsauberlich aufgereiht und mit leserlichen Schildern versehen. Er hatte letztlich nur auf wenig Material verzichtet, aber zum Gluck machte man ihm daraus keinen Vorwurf. Seiner Einschatzung nach musste all das Zubehor aus der Werkstatt eines hervorragenden Geigenbauers stammen.
An dem Tag, als er die Decke der Geige vorbereitete, um sie nachher abzuschleifen, fiel es ihm schwer, sich auf die viel eintonigere Arbeit in der Fabrik zu konzentrieren; sein Instrument begann ihn zu fesseln, das war ihm bislang noch bei jedem Instrument so ergangen. Aber er durfte nicht geistesabwesend sein, sonst lief er Gefahr, sich zu verletzen, und er musste sich dem vorgegebenen Rhythmus anpassen, nicht schneller, nicht langsamer sein als die anderen seiner Abteilung. Zwar hatte der Kapo, auch ein Haftling aus der Ukraine, nicht den Ruf, besonders grausam zu sein, was allerdings die Arbeitsleistung betraf, so achtete er mit aller Strenge auf die erforderliche Quote.
Ab und zu erschienen das
In anderen Fallen, wenn sie ihr Pensum nicht erfullen konnten, schaffte man sie eine halbe Stunde fruher zu ihren Arbeitsstatten, und das Mittagessen wurde gestrichen. Also arbeitete er tuchtig den ganzen Nachmittag, stets darauf bedacht, sich die Hande nicht aufzuschrammen, und er zwang sich dazu, bis zum Abend nicht an seine uber alles geliebte Geige zu denken.
Am nachsten Morgen bemerkte er zum ersten Mal – die ganze Zeit uber war er so vertieft in seine Arbeit gewesen -, dass die Tage schon langer wurden und es nicht mehr so kalt und dunkel war, wenn sie zum Appell antreten mussten. Inzwischen enthullte die Helle sogar schon zu Beginn eines neuen Tages die emporenden Zeichen ihrer langen Sklaverei: Er sah die abgezehrten Gesichter in den Reihen, die violetten Schatten unter den Augen, die abgetragene Kleidung mit den aufgenahten Winkeln in den verschiedenen beruchtigten Farben, vor allem die gelben, sah die Spuren der Schlage und die Narben in einigen Gesichtern. Hatte er das Zeitgefuhl verloren? Tage wie Jahre und Monate wie Tage, alles verschwamm zu einem einzigen Nebelband.
Au?erhalb des Lagers jedoch, au?erhalb jener Insel in einem monstrosen Archipel, war die Zeit nicht stehengeblieben. Er spurte einen Hauch lauer Luft, eine wohltuende Liebkosung im Reich des Hasses. In seine Gasse von fruher, in Krakau, wurden bald die Schwalben zuruckkehren. Der Fruhling, sagte er sich, wurde mehr denn je erbluhen. Er wird uber den Korpern tausender Toter erbluhen.
Das war kein trostlicher Gedanke, aber dennoch nicht zu verleugnen. Er fand den Kaffee bitterer, die Scheibe Brot winziger und karglicher, als hatte ihr diese Uberlegung das Gewicht genommen. Ein paar Minuten lang betrachtete er den Himmel – er hatte es sich schon abgewohnt, da er stets voller Wolken oder in Nebel gehullt war – und entdeckte erstmals gro?e blaue Stellen. Plotzlich verspurte er einen heftigen Stockschlag auf dem Rucken, er war im Strom der Arbeiter auf dem Weg zu den verschiedenen Werkstatten einfach stehen geblieben. Ja, dachte er erneut, wahrend er einen Aufschrei unterdruckte, der Fruhling naht. Er wird auf der mit unseren Toten gedungten Erde erbluhen.
Noch mit diesem Gedanken beschaftigt und mit schmerzendem Rucken betrat er die Werkstatt; nun nahm er sich zusammen und fing sofort damit an, ein letztes Mal die Kanten der Decke zu glatten. Er roch am Holz, nahm das Modell, das er schon vorbereitet hatte, und begann ganz selbstvergessen und mit der feinfuhligen Kunstfertigkeit eines Dichters das Innere der Decke mit dem kleinen Hohleisen abzunehmen. Der Schlag, der Gedanke an den Tod, die Aussicht auf die endlosen Stunden in der Fabrik, alles verschwand, als ware der Geruch des Holzes ein Wind, der samtliche schwarzen bedrohlichen Wolken vertreibt.
Der Aufseher fruhstuckte; er konnte sich also gefahrlos eine kleine Pause gonnen. Danach legte er sich die kleinen Wolbungshobel in den drei verschiedenen Gro?en bereit, die er brauchen wurde, um die richtige Starke der Decke zu erreichen. Nach reiflicher Uberlegung war er zu dem Entschluss gekommen, die Decke in der Mitte bei viereinhalb Millimetern zu belassen. Normalerweise veranschlagte er funf, doch es war ihm befohlen worden, ein Instrument nach den Ma?en einer Stradivari anzufertigen; also wurde er die Rander auf drei Millimeter abschleifen. Unter seinen Arbeitsbedingungen wollte er es nicht riskieren, die Decke noch dunner zu machen. Der Klang wurde trotzdem voll sein, ganz nach der alten Schule von Mateusz Dobrucki, der ebenso wie er selbst aus Krakau stammte. Geigen und Bratschen, deren Decken zu dick waren, konnte er nicht ausstehen, denn sie klangen in seinen Ohren dumpf. Das Hohleisen glitt sicher uber das Holz, stets gegen den Verlauf der Holzfasern, so wie es ihm sein Vater – Friede sei mit ihm – beigebracht hatte. Kein langerer Span splitterte ab, das durfte ihm auch nicht passieren. Er arbeitete schlie?lich seit seinem vierzehnten Lebensjahr in diesem Beruf!
Die Tage wurden mit jedem Morgen heller, und an der Arbeit gemessen, die er bereits verrichtet hatte, rechnete er sich aus, dass der Mittag nicht mehr fern war. Er hielt einen Augenblick inne, dann nahm er noch einmal Ma? und freute sich uber seine Genauigkeit. Er war schon bei sechs Millimetern angelangt. Jetzt musste er mit dem kleineren Hobel beginnen, der ihm die Arbeit sehr erleichtern wurde und mit dem er bei der Rohbearbeitung der Wolbung noch nie Probleme gehabt hatte.
Da plotzlich wurde die Tur aufgerissen, er drehte sich jedoch nicht um. Wer auch immer die Inspektoren oder Besucher sein mochten, sie mussten ihn arbeitend antreffen. Um ihn herum gingen die Hobelgerausche weiter, er roch die Spane, horte den einen oder anderen Hammerschlag in seiner Nahe.
Ohne es zu wollen, lie? er plotzlich seinen Hobel sinken. Er blickte nicht auf, das war auch gar nicht notig; denn inmitten der ublichen Gerausche, die ihn in der Werkstatt umgaben, hatte er zwei Stimmen wiedererkannt, die sich durch das Entsetzen, das sie einflo?ten, unverwechselbar in sein Gehor eingepragt hatten, so wie ein