vorsichtig erhitzt, damit der Leim in alle Poren eindringen konnte. Jetzt war einer der Arbeitsschritte an der Reihe, der ihm, obwohl er zu den schwierigsten zahlte, am besten gefiel: namlich die Vorgabe der exakten Form, die das Instrument erhalten sollte. Er hatte eine klare Vorstellung davon, wie der Corpus auszusehen habe, und er vertraute darauf, dass ihm seine langjahrige Erfahrung dabei helfen wurde, diese – allen Hindernissen zum Trotz – umzusetzen.
Bevor er damit begann, die Holzer zu bearbeiten, roch er an ihnen. Nach einer guten Weile fuhlte er sich erschopft, konnte aber zufrieden auf das Ergebnis blicken. Die Linienfuhrung war genau, und trotz seines schwachen Zustands zitterten seine Hande nicht, als sie die Schablone nachzeichneten: Die Umrisse waren sauber, prazis. Vermutlich hatte er allerdings mehr Zeit als notig dafur aufgewendet. Schlie?lich griff er nach der Laubsage, legte das Stuck so auf die Werkbank, dass es nur zum Teil auflag, murmelte fast instinktiv ein Gebet und begann zu sagen. Fur Anfanger stellte es im Allgemeinen eine gro?e Schwierigkeit dar, die kleine Sage genau anzusetzen, ohne die vorgezeichnete Linie zu beruhren, einen Millimeter auszusparen, den es danach abzuschleifen galt, damit die Rander so glatt wurden wie die eines mit der Schneidemaschine geschnittenen Papiers. Fur Daniel war es nicht schwierig. Er dachte an nichts anderes mehr als an diese exakt geschwungene Linie, jene schone Form, die dem Torso einer Frau glich. Seine gesamte Energie, alle Kraft, die ihm noch blieb, konzentrierte sich auf seine rechte Hand – er fand seine ursprungliche Geschicklichkeit wieder.
Die erste Halfte war geschafft; seine Kraftlosigkeit hatte ihm den Schwei? auf die Stirn getrieben. Er wischte ihn sorgfaltig ab, damit er nicht seinen Blick verschleierte. Der zweite Arbeitsgang ging ihm leichter von der Hand, und als die Umrisse des Holzes mehr und mehr dem Modell glichen und der idealen Form entsprachen, die er im Kopf hatte, durchstromte ihn gar ein Gefuhl von korperlichem Wohlbehagen, das er schon seit Monaten nicht mehr empfunden hatte. Hande konnen sich erinnern, davon war er uberzeugt, und auch die Musiker, die ihm Geigen oder Celli zur Reparatur anvertraut oder ihn mit dem Bau eines neuen Instruments beauftragt hatten, sprachen immer wieder davon. Er hatte es genossen, sich mit ihnen zu unterhalten und Einzelheiten aus ihrem Kunstlerberuf zu erfahren. Auch seine Geigenbauerfinger erinnerten sich, wie sie die heiklen Arbeiten, die seine Kunst erforderte, ausfuhren mussten.
Nein, diesmal schreckte er nicht aus dem Schlaf hoch, und man ruttelte ihn auch nicht aus einem Traum wach. Er widmete sich tatsachlich jeden Morgen dem Bau der Geige. Erst wenn die Sirene die Essensausgabe ankundigte, die Zimmerleute und Tischler hastig ihre Arbeit niederlegten und er plotzlich das stechende Hungergefuhl im Magen verspurte, wurde ihm bewusst, dass er sich nicht in seiner eigenen Werkstatt befand. Er baute die Geige im Lager, im Auftrag des Kommandanten.
Nachmittags wurden die lagerinternen Werkstatten geschlossen, nur jene der Fahrzeugreparatur nicht: Alle Haftlinge, die noch kraftig genug waren, wurden zur Arbeit in den Rustungsfabriken abgezogen, um Flugzeugteile und Panzerzubehor anzufertigen; standig gab es Bombardements der Alliierten, weshalb ein Teil der Haftlinge an der Errichtung unterirdischer Stollen fur eine neue Waffenfabrik schuften musste. Daniel schickte man in eine Zweigstelle der I.G. Farben, eine von vielen Fabriken, die die Arbeitskraft der
Als Daniel seinen Arbeitskollegen folgte und die Baracke verlie?, hatte er wie immer denselben Eindruck: Sobald er aus der Werkstatt trat, wo er das Gefuhl zu leben wiedergefunden hatte, schien es ihm, als wurde er sich bei vollem Bewusstsein in einen grenzenlosen Alptraum begeben, in die schlupfrigen Fangarme eines Ungeheuers. Statt ihn nachts heimzusuchen, begann der Alptraum nun schon mittags, das schwache seelische Gleichgewicht loste sich schlagartig auf, wieder und wieder schnurte ein Knoten seine Brust zusammen, und »seine Geige« kam ihm so absurd vor wie ein Rosenstrauch in einem Schweinestall. Eine Geige im
Er hatte sich nach und nach daran gewohnt, sich kaum uber irgendwelche unerwarteten Vorkommnisse zu wundern, denn sie waren fast immer abscheulich. Alles konnte geschehen: dass sie in der Baracke noch enger zusammenrucken mussten, weil fur weitere Haftlinge noch ein paar Pritschen hineingezwangt wurden, dass man ihnen wegen angeblich schlechter Arbeitsleistung am Vortag das Mittagessen strich oder dass man ihnen zusatzlich zur Rubensuppe eine rohe Mohre gab, auf Anordnung des neuen Lagerarztes – Rascher war namlich befordert worden. Dass man sie, meist dienstags oder freitags fruh am Morgen, auf dem gleichen Appellplatz, dort, wo Daniel ausgepeitscht worden war, antreten und strammstehen lie?, um steif vor Kalte und Entsetzen der Hinrichtung eines »subversiven Haftlings« beizuwohnen, eines als Kommunisten oder Spion angeklagten Mithaftlings.
Obwohl er sich mittlerweile an all diese permanenten Widerspruchlichkeiten gewohnt hatte, uberraschte es ihn, als er eines Tages den Befehl erhielt, eine Geige zu bauen – so vollkommen wie eine Stradivari, hatte der Untersturmfuhrer betont. Und noch mehr hatte es ihn gewundert, als man ihm eine Menge Werkzeug, Holzer und weiteres Material zur Verfugung stellte, damit er auswahlen konnte, was er davon benotigte. Er vermutete, dass es sich um beschlagnahmtes Gut aus der Werkstatt eines judischen Geigenbauers handelte, eines deutschen vielleicht, wahrscheinlich schon tot, ermordet. Aus seiner eigenen Krakauer Werkstatt jedenfalls konnte er kein Stuck wiedererkennen.
Es hatte sich, wie man ihm ubermittelte, um einen direkten Befehl des Sturmbannfuhrers gehandelt, doch war ihm, als er es unter strenger Einhaltung der Vorschriften gewagt hatte, das Wort an den Adjutanten zu richten, die Erlaubnis verweigert worden, irgendwelche Fragen zu stellen: Nachdem er salutiert und strammgestanden hatte, sagte er Folgendes:
»Nummer 389 bittet respektvoll um Erlaubnis, eine Frage stellen zu durfen.«
»Abgelehnt.«
Immerhin wurde die harsche Weigerung nicht von Schlagen begleitet. Der ausgestreckte Arm wies nur auf den Eingang zur Tischlerei, und Daniel begab sich unverzuglich dort hinein. Ein Teil der Tischlerei wurde ihm nun als Werkstatt zur Verfugung stehen.
Er arbeitete stets schweigend. Aus nachster Nahe wurde er vom ukrainischen Kapo beaufsichtigt. Irgendetwas zu fragen riskierte er nicht, er vermied es sogar, sich selbst weitere Fragen zu stellen oder uber seine Arbeit mit den Kameraden zu sprechen, um sich nicht unbeliebt zu machen. Den Kommandanten hatte er in der Werkstatt noch nicht zu Gesicht bekommen. Vielleicht konnte er zu einem spateren Zeitpunkt herausfinden, was genau sie von ihm erwarteten.
In den ersten Tagen war die Arbeit schleppend vorangegangen, weil er zunachst das beschlagnahmte Material, das mit Holzspanen vermischt war, ordnen und aussortieren musste. Und wohl auch, weil er an seine eigenen Hohleisen, Hobel und Raspeln von fruher gewohnt war, die sich der Form seiner Hande angepasst hatten, als waren sie mit ihnen zusammengewachsen. Er dachte an all jene Werkzeuge, die in der Werkstatt im Erdgeschoss seines Hauses so sauber vor sich hingeglanzt hatten. Wo war die Ruhe geblieben, die verlassliche Ordnung seiner Werkstatt, die an der Decke aufgehangten Geigen, die vertraute Umgebung, die Stimme seiner Mutter, die oben bei der Hausarbeit vor sich hintrallerte – die Mutter, die an Tuberkulose und Hunger im Ghetto gestorben war?
Er hatte nicht einmal in Erfahrung bringen konnen, wie viel Zeit sie ihm zugestanden, um die Geige fertigzustellen, ohne dass er eine Strafe befurchten musste. An den Vormittagen lie?en sie ihn wenigstens weitgehend in Ruhe. Der Aufseher schlug ihn nicht mehr, Rascher war nicht zuruckgekehrt, eine weitere Internierung in der Zelle war ihm erspart geblieben. Eines Morgens jedoch konnte er einer erneuten Zuchtigung nicht entgehen. Sie galt allen in seiner Baracke, da zwei versteckte Apfel gefunden worden waren. Danach hatte man sie aber wieder an die Arbeit geschickt.Von nun an widmete er sich mit mehr Zuversicht seiner Tatigkeit, und sein Tag schien wie mit der Klinge eines Schwertes in zwei Teile gespalten. Morgens, wenn der Appell ohne wesentlichen »Zwischenfall« vorubergegangen war, wenn die Hunde keinen Haftling wegen einer unschuldigen, fur sie verdachtigen Bewegung ins Bein gebissen hatten, wenn es nur die lauten Beschimpfungen hagelte, die an der Tagesordnung waren, fiel es ihm nicht schwer, sich gleich in die Arbeit zu vertiefen und all den Hass und Nebel, der sie umgab, in den hintersten Winkel seines Gehirns zu drangen. Manchmal kam ihm ein Bruchstuck einer Melodie oder ein Fragment der alten Gebete in den Sinn, fur gewohnlich verborgen in den unergrundlichen Tiefen seiner Erinnerungen, doch die Worte erstarben bald auf seinen Lippen:
Ja, heute Morgen ist es mir gelungen, dachte er, als er sich fur die mittagliche Suppe anstellte, trotz der schmerzenden Stiche im Magen beinahe glucklich zu sein – zumindest fur die Zeit, in der ich die Decke der Geige