Geigenbauer. Eine Zeit lang dachte er an nichts, nur an seine Arbeit, die sein ganzer Stolz war. Er hatte sogar den Hunger vergessen, und seine Augen glanzten vor Anspannung und Hingabe. Mit geschickten Fingern bestrich er vorsichtig nach und nach den Rand des Risses auf beiden Seiten und massierte den Leim mit kreisenden Bewegungen in die Decke ein. Er prufte das Ergebnis mit dem Blick eines Kenners – er war ja sozusagen mit Geigen aufgewachsen – und befand es fur gut. Die Maserung des Holzes fugte sich ineinander, der kleine Riss wurde sich tadellos verschlie?en. Fur eine gewisse Zeit jedenfalls. Er suchte nach den Zwingen, setzte zwei Keile darunter, achtete darauf, dass sie nicht festklebten, und schraubte sie dann mit dem richtigen Druck an. Er wischte sich den Schwei? ab und dachte nach.

Abermals betrachtete er sein Werk: Ein wenig Leim war auf die Decke geflossen; er durfte nicht riskieren, dass er eintrocknete. Also erhitzte er Wasser, tauchte einen feinen Pinsel ein und reinigte jene Stelle der Decke mit aller Sorgfalt. Jetzt musste er nur noch abwarten. Diese heikle Arbeit hatte ihm ziemlich viel Zeit gekostet, und er wusste, dass der Leim nun mindestens vier Stunden benotigte, um ausreichend zu trocknen, vor allem bei dieser feuchten Witterung.

Der Kapo schlief. Daniel wagte es nicht, ihn zu wecken, aus Furcht, Prugel abzubekommen, gerade jetzt, wo der Beneidenswerte gut eingehullt in seinem Wollmantel ruhte. Er durfte ihn nicht aufwecken oder gar daran denken, die Werkstatt zu verlassen, sonst ware seine schemenhafte Gestalt mit Sicherheit Zielscheibe fur das Maschinengewehr eines Wachpostens. Um sich angesichts der schlechten Nacht, die ihm bevorstand, zu trosten, dachte er fur einen kurzen Moment: Ich werde die Geige bewachen, damit ihr nichts passiert, denn es steht fur mich zu viel auf dem Spiel!

Als ihn abermals gro?er Hunger zu qualen begann, bemerkte er, dass dem Aufseher ein Stuck Apfel auf den Boden gefallen war. Gerauschlos rieb er es mit einem Tuch sauber und verschlang es gierig. Er nahm sich vor zu schlafen oder sich wenigstens auszuruhen; er warmte sich die Hande an dem Kocher, bevor er ihn ausmachte, und legte sich dann auf den Boden, an eine Stelle, wo ihn die Hobelspane ein bisschen schutzten. Er versuchte zu schlafen, wurde aber immer wieder wach. Es regnete nicht, die Nacht war kalt und einsam, seine Traume unruhig; mit geringer Uberzeugung murmelte er ein Gebet und bat den schweigenden Gott darum, dass seine Arbeit gutgehei?en werden moge. Er wachte fruh auf und setzte sich, um nicht mehr einzunicken, auf einen Holzsto?, denn er wollte weder zum Appell zu spat kommen noch auf das Fruhstuck verzichten mussen. Heute war er nicht mit dem Duschen an der Reihe, also wusch er sich mit ein wenig Wasser aus der Schussel und trat, sobald die Sirene schrillte, ins Freie.

Als er wieder in die Tischlerei zuruckkehrte, zeigte er dem Tagesaufseher das Papier vom Vorabend, doch dieser musste schon Anweisungen erhalten haben.

»An die Arbeit, rasch«, herrschte er ihn an, schlug ihn aber nicht. »Ich gebe dir Bescheid, wann du dich beim Sturmbannfuhrer einfinden sollst.«

Daniel machte sich an die Arbeit, doch von Zeit zu Zeit wanderte sein Blick heimlich zu seiner Geige hinuber. Als der Kapo auf die Uhr sah und ihm befahl, sie zum Kommandanten zu bringen, vermischte sich seine Freude mit Angst.

Mit dem Papier lie?en sie ihn hinein. Diesmal lie? Er sich dazu herab, ihn direkt anzusprechen, wobei er ihn mit nur einem einzigen Satz zu degradieren wusste: »Ja, der kleine Tischler.«

Er streichelte seinen Hund, und Daniel richtete sich unwillkurlich auf. Eigentlich war er gro?, aber der andere uberragte ihn um ein gutes Stuck. Au?erdem gingen die Haftlinge stets gebuckt. Wahrend Sauckel das Instrument prufte, lie? er ihn schier endlose Sekunden im Ungewissen.

Daniel schien Er schlechter Laune zu sein, Falten durchfurchten seine Stirn; vielleicht war er verkatert. Dem Anschein nach ma? er der Geige keinen besonderen Wert bei, aber schlie?lich setzte er den Bogen auf die Saiten und spielte ein paar Takte. Seine Miene hellte sich auf, und er sagte lachelnd: »Ist in Ordnung. Du kannst in die Werkstatt zuruckgehen, aber weh dir, wenn du dich dort auf die faule Haut legst! Ich behalte die Geige einstweilen. Hau ab!«

Er wandte sich an einen Adjutanten, sprach aber absichtlich ziemlich laut, damit der Geigenbauer ihn horen konnte, und mit grausamer Genugtuung sagte er: »Ich habe den Geiger fur seine Nachlassigkeit bestraft. Wir werden ihm das Instrument zuruckgeben, wenn er aus der Zelle herauskommt. Was machst du noch hier? Verschwinde!«

Das lie? sich Daniel nicht zweimal sagen. Er lief so schnell hinaus, dass er beinahe gesturzt ware. Sein Mut der Verzweiflung hatte also dem gro?artigen Musiker die Strafe nicht erspart. Kein einziges Wort hatte er hervorgebracht, als er vor dem Kommandanten gestanden hatte, der schon seinen Hund auf ihn hetzen wollte. Niedergeschlagen kehrte er zu seiner Tischlerbank zuruck, wo es ihm nie an Arbeit mangelte. Er war so vermessen gewesen – und in Grausamkeiten noch nicht erfahren genug – zu glauben, das Monster wurde sich mit der Reparatur der Geige seines Leib-Musikers Bronislaw zufriedengeben, dass er diesen nicht fur einen Zwischenfall bestrafen wurde, an dem er keinerlei Schuld trug. Er wusste doch nur zu genau, dass im Dreiflusselager keine Logik herrschte und noch viel weniger Gnade.

Um sich nicht seiner Kraftlosigkeit hinzugeben, ausgelaugt und todmude wie er war, versuchte er an die dicken Scheiben Brot mit Butter zu denken, die Eva zu essen bekam. Aber sofort nahm er den vorherigen Gedanken wieder auf; er hatte seine Angst uberwinden und den Kommandanten darauf aufmerksam machen mussen, dass die Reparatur provisorisch war und vermutlich eine weitere, grundlichere notwendig sei: das Instrument aufmachen, von innen die Decke mit geeigneten, dunnen Holzleisten verstarken. Es war ihm jedoch nicht moglich gewesen, auch nur ein einziges Wort hervorzubringen, sein Mut hatte sich am Vortag erschopft, Schlingen aus Eis und Furcht hatten seine Lippen verschlossen. Was wurde geschehen, sollte der Riss wieder auftreten? Was wurde dann mit ihm und dem Musiker passieren? Diese eine Frage ging ihm den ganzen Tag, die gesamte Arbeitszeit von elfeinhalb Stunden durch den Kopf und horte nicht auf, ihn zu qualen.

Bei der mittaglichen Suppenausgabe sprach er mit seinem Bekannten, dem Mechaniker, der erleichtert aussah. Da Daniel die Nacht uber fortgeblieben war, hatten die Kameraden befurchtet, man hatte ihn wieder in die Zelle gebracht. Er hingegen hatte, wahrend er versunken an der Geige gearbeitet hatte, gar nicht an die anderen gedacht. Nicht, dass er vergessen hatte, wo er sich befand, aber er hatte es im hintersten Winkel seines Gehirns verstaut: alles, die Schlage, den Schlamm, den Raureif, den feuchten Nebel, den Schatten des Galgens, die Schreie und die Demutigungen. All das war erst wieder an die Oberflache zuruckgekehrt, als er Sauckels Worte »Ich habe den Geiger bestraft …« gehort hatte. Und mit ihnen waren auch Daniels Erinnerungen plotzlich wieder da gewesen, so als zappelten sie wie ein gefra?iger Fisch an einem todlichen Angelhaken.

Wenigstens hatten sie Bronislaw nicht gezuchtigt, zumindest nicht offentlich: Sie mussten nicht antreten, aber moglicherweise war er unter Ausschluss der Offentlichkeit im Keller geschlagen worden, wie es des Ofteren geschah. Wenn man selbst Bronislaw auf solche Weise misshandelt hatte, wurden sie fruher oder spater alle einmal dran glauben mussen.

Es war besser, nicht weiterzugrubeln, sondern sich auf hoffnungsvollere Aussichten zu konzentrieren: Sie werden mich bald wieder zu Arbeiten ins Haus abkommandieren. Ich habe gehort, dass das Schwein noch ein weiteres Regal will. Vielleicht wird mir die Kochin irgendwelche Essensreste zustecken. Jedenfalls ist morgen Donnerstag, der einzige Tag, an dem es statt der wassrigen Rubensuppe Pellkartoffeln gibt. Unter Umstanden erwische ich eine gro?e …

Wie ein zu langer Mantel, der langsam uber den Boden schleift, vergingen die Stunden dieses Tages, der ihm, weil er in der Nacht kaum geschlafen hatte, unendlich vorkam, langer als jeder andere, abgesehen von den vieren, die er wie ein geprugelter Hund im Arrest verbracht hatte. Am Abend wurde in der ganzen Baracke getuschelt. Der Mechaniker wusste wieder Neues zu berichten. Aber Daniel wollte es weder horen noch wissen, denn er fiel fast um vor Mudigkeit und las in den Augen der Kameraden, dass es schlechte Nachrichten waren. Er war sich sicher, er wurde danach kein Auge mehr zutun konnen, und er spurte auch, dass er krank werden wurde, reif fur die »Krankenstation«, fur die halb im Verborgenen stattfindenden Transporte, fur das Todeslager, wenn er nicht schlief.

Morgen, sagte er sich, morgen.

Das undeutliche Gemurmel um ihn herum wiegte ihn in den Schlaf. Es gab nichts – au?er der Zeit, au?er dem Lebensfluss -, das nicht warten konnte. Er befand sich im Traum in einer riesigen, kalten, verqualmten Wartehalle. Endlos lange Zuge fuhren an den Bahnsteigen vorbei, man sah sie nur zur Halfte durch die Fensterscheiben, Guterzuge, Viehwaggons, und sie hielten nicht an. Dann gingen die Turen auf, Bekannte Daniels wurden auf den Bahnsteig getrieben, er aber verharrte reglos auf der gusseisernen Bank. Von der Decke des

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