Versprechen des »Freien Geleits« mir nichts, dir nichts zu brechen.
Aber auch Luther wurde 1521 vom 21-jahrigen Kaiser Karl V. vor den Reichstag zu Worms zitiert. Mit der Aufforderung, seiner Irrlehre abzuschworen. Denn die Angelegenheit war eskaliert, nachdem der aufmupfige Monch die »Rote Karte« des Papstes, die Bannandrohungsbulle, offentlich verbrannt hatte und darauf sogleich mit dem kirchlichen Bannfluch belegt worden war. Die heftige Reaktion Luthers auf den »Statthalter des Teufels«, wie er den Papst ab sofort nannte, war vor allem deswegen so provokant ausgefallen, weil es sich hier um eine wirkliche Liebesenttauschung handelte: Luther glaubte, der Heilige Vater wusste gar nichts von Amtsmissbrauch, Vetternwirtschaft und Ablassschacher. Mit der bitteren Erkenntnis, dass der Papst tatsachlich selbst hinter allem stecke, war Luthers fromme Ergebenheit in rabiaten Hass umgeschlagen.
Dass Luther schlie?lich sein - ebenfalls nur legendenhaft uberliefertes - »Hier stehe ich und kann nicht anders!« dem Kaiser in Worms entgegenschleudern konnte, ohne sogleich auf dem Scheiterhaufen zu landen, hat vor allem zwei Grunde: den Buchdruck und die Politik.
Durch den Buchdruck mittels metallener, beweglicher Lettern war um 1450 von Johannes Gutenberg (1400- 1468) das erste Massenmedium der Welt erfunden worden, das eine enorme Breitenwirkung entfaltete, vergleichbar dem heutigen Internet. Luther wusste von Anfang an alle Moglichkeiten des Mediums voll auszuschopfen. Was heute
Und politisch sympathisierten viele deutsche Fursten mit Luther. Vor allem sein Landesfurst Friedrich der Weise (1486 bis 1525), der dann ja auch den geachteten und vogelfreien Rebell auf die sichere Wartburg »entfuhren« lie?, um ihn aus der Schusslinie zu nehmen. Dabei hatte die Liebe zu Luther nicht immer nur religiose Grunde. Lange schon murrten die Fursten, dass mit den Ablassgeldern enorme Summen nach Rom flossen - und somit nicht in ihre eigenen Taschen. Au?erdem spekulierten sie heimlich darauf, dass ihnen bei einer erfolgreichen Reformation der reiche katholische Kirchenbesitz zuflie?en wurde.
Der Habsburger Karl V. war zudem ein junger ehrgeiziger Kaiser, der sich mit zahllosen Problemen herumschlagen musste. Er hatte von seinem Gro?vater Maximilian I. (1486-1519), den man oft den »letzten Ritter« genannt hat, ein Riesenreich in Zeiten des Umbruchs geerbt. Als geburtiger Burgunder sprach er kaum ein paar Brocken Deutsch, musste aber die selbstbewussten deutschen Fursten bandigen. Neben Deutschland, den Niederlanden, Spanien und Osterreich rechnete neuerdings auch Amerika zu seinem Imperium, in dem nun die Sonne nicht mehr unterging. Nur das gefestigte Frankreich und England entzogen sich seiner Befehlsgewalt. Mit Frankreich aber gab es standig kriegerische Reibereien, da sein Konig Franz I. Italien ebenso beanspruchte, wie Karl es tat.
Versetzen Sie sich einmal in die Situation des jungen Karl, und Sie werden verstehen, dass jeder Beruf besser ist als der des Kaisers in einem inzwischen diffusen Heiligen Romischen Reich Deutscher Nation. Karl befand sich ja sozusagen im Dauerclinch: im Kampf gegen die deutschen Fursten, die mit Luther sympathisierten und heimlich gegen den Papst Front machten; zeitweise auch im Kampf gegen den Papst, den er in Worms noch dadurch glucklich zu machen suchte, dass er uber Luther die Reichsacht verhangte; im Kampf gegen den Erzfeind Frankreich; vor allem aber gegen die Turken, die 1529 bis vor die Tore Wiens gefahrlich vorruckten, nachdem sie schon ganz Ungarn verheert hatten. Bei so viel Regierungsstress ist es kein Wunder, dass dieser Weltenherrscher sich 1556 frustriert ins spanische Kloster Yuste zuruckzog und die Herrschaft uber Spanien und die Niederlande seinem Sohn Philipp, die Kaiserkrone aber seinem Bruder Ferdinand uberlie?.
In Yuste soll er fast taglich an der Verbesserung einer technischen Innovation herumgebastelt haben: an Uhren, deren Mechanismus er in absoluten Gleichlauf zu setzen suchte. Letztlich vergeblich, was ihm aber als trostliches Symbol dafur galt, dass nichts auf dieser Welt in Einklang zu bringen sei - die Uhren nicht und schon gar nicht die Menschen.
Und wenn Sie sich noch tiefer in den Seelenzustand eines frustrierten Kaisers der Lutherzeit einfuhlen wollen, dann sollten Sie jetzt unbedingt in ein Musikgeschaft gehen. Da finden Sie unter der Rubrik »Moderne Klassik« etwas ganz Passendes, das der ungarische Komponist Gyorgy Ligeti 1962 unter dem Titel »Poeme Symphonique« veroffentlicht hat: ein Konzertstuck fur hundert unterschiedlich tickende Metronome. Genauso verruckt muss bereits die Welt in Karls Ohren »getickt« haben.
Ubrigens hat auch Luther ganz ahnliche disharmonische Erfahrungen gemacht. Aber er hatte wohl die starkeren Nerven. Dauernd hatte er mit der Uneinigkeit seiner Protestanten zu kampfen.
Da waren die Taufer, die als »Wiedertaufer« verspottet wurden und denen Luthers Reform nicht weit genug ging. Sie forderten eine staatsfreie Kirche und lehnten die Sauglingstaufe als unbiblisch ab. Taufen lassen soll man sich erst als mundiger Erwachsener, meinten sie.
Luthers reformatorischer Kollege Ulrich Zwingli (1484 bis 1531) sorgte zwar in Zurich dafur, dass diese furchtbaren Ketzer sich nicht ausbreiteten, widersprach aber Luther seinerseits heftig in einem anderen Punkt: in der Abendmahlslehre.
In Genf gab es einen Reformator der zweiten Generation namens Johannes Calvin (1509-1564), der auf uberstrenge Kirchenzucht setzte, jeden Luxus und jede Leichtigkeit des Herzens als Sunde brandmarkte und au?erdem zur radikalen Ausrottung aller Hexen aufrief. Auch ihm war Luther viel zu lasch.
Selbst im heimischen Wittenberg begannen dessen radikale Anhanger, die schonen Kunstwerke aus den Kirchen herauszurei?en und damit revolutionare Freudenfeuer zu entfachen. Keine Kompromisse! So eine Reformation darf keine halbe Sache sein, meinten sie. Die leibeigenen, unzufriedenen Bauern wiederum missverstanden Luthers Lehre »Von der Freiheit eines Christenmenschen« als Aufruf zum gesellschaftspolitischen Umsturz. Genau wie die verarmten Reichsritter, die im beginnenden Kampfgetummel frische Morgenluft witterten und ihre sterbende Mittelalterwelt kriegerisch reanimieren wollten - fast ahnlich dem deutschen Adel zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als dieser dem Militarismus verhangnisvoll Vorschub leistete, weil das Kriegsspiel seine eigentliche Domane war und ihm seine Daseinsberechtigung verlieh.
Luther aber widerstand weitgehend jeder Radikalisierung seiner Bewegung. Das mag ein wesentlicher Grund dafur sein, warum er zuletzt im Bett starb und nicht auf dem Scheiterhaufen oder durch das Schwert. Das Rezept seines Erfolgs waren Verlasslichkeit und Standhaftigkeit, Bemuhung um Ausgleich, Authentizitat seiner Absichten, Abneigung gegen Gewalt - auch wenn er hier und da aus taktischen Grunden moralisch versagt hat, etwa wenn er gegen plundernde Bauern und »geldgierige« Juden Front machte. Oder wenn er dem fur ihn politisch wichtigen Landgrafen von Hessen die Ehe mit zwei Frauen erlaubte, wie bei Abraham in der Bibel. Der Leibarzt des Fursten ist mit dem Argument uberliefert, der potente Graf habe drei Hoden und benotige daher eine entsprechend reichliche Versorgung.
Am starren hierarchischen Herrschaftsprinzip seiner Zeit hat Luther, der Entdecker der »Freiheit eines Christenmenschen«, aber zeitlebens nie geruttelt. Ein Konig sei ein Konig, ein Knecht ein Knecht. Jeder an dem Ort, wo Gott ihn hinstellt. Und auch in Fragen der »richtigen« Religion lie? er nicht mit sich reden. Luther war ein Mann in der Mitte zwischen Mittelalter und Neuzeit. Tief religios, aber zugleich intellektuell erweckt. Das kritische Nachdenken uber die Verhaltnisse hat durch ihn einen ersten gro?en Schub erfahren. Aber universelle Menschenrechte und religiose Toleranz zahlen noch langst nicht zu seinen Erfindungen.
Ja, so etwas gibt es eben auch: Nicht nur Geld und Machtstreben verandern die Welt, wie man in unserer Zeit gern glaubt, manchmal sind es sogar redliche Gewissensgrunde. Man kann aber auch aus noch ganz anderen Motiven zum Protestanten werden. Dafur ist Heinrich VIII. von England (1491-1547) ein gutes Beispiel.
Der englische Konig wollte namlich nicht nur seine Eheschlie?ungen - sechs sollten es am Ende sein - papstlich genehmigt sehen, sondern sogar die Hinrichtungen seiner abgelegten Ehefrauen. Da der Papst jedoch die rabiate Ehepraxis von Konig Blaubart rugte, weil im Zuge der Gegenreformation auch in Rom die Sitten nun strenger wurden, loste Heinrich seine Kirche kurzerhand von der romischen ab. Er grundete 1533 seine eigene »Anglikanische Kirche«, eine Art Zwischending zwischen Katholizismus und Protestantismus. Der Papst schied als hochste Autoritat der englischen Kirche aus, und an seine Stelle trat der Staat, naturlich in Gestalt seines obersten Herrschers.
Aber in der Menschheitsgeschichte zieht ein Federstrich manchmal einen dicken Klecks hinter sich her, wenn auch nicht an der Wartburg-Wand. Die Krise der Kirche, die noch wenige Jahrzehnte zuvor als einheitsstiftende Macht in Europa gewirkt hatte, wurde bald zur gro?en Krise der europaischen Politik. In England begann unter der Tochter Heinrichs, der »jungfraulichen Konigin« Elisabeth I. (1533-1603), deretwegen ubrigens die erste englische