gab es nun mal diese Stelle, im Buch Josua 10, 12, wo Gott der Sonne und dem Mond befiehlt stillzustehen. »Aber wie kann Gott denn der Sonne Stillstand befehlen, wenn sie ohnehin schon im Zentrum der Planeten stillsteht, wie es Galilei behauptet?«, so die berechtigte Frage der bibelfesten Wahrheitshuter. »Lugt Gott oder lugt Galilei?« Vor das Gericht der heiligen Inquisition gezerrt und mit dem Tode bedroht, nahm der bald siebzigjahrige Wissenschaftler dann auch im Jahre 1633 seine »furchtbare Irrlehre« zuruck.
Aber die Niederlage Galileis konnte den Siegeszug des neuen Zeitgeschmacks nicht stoppen. Und die Meinungsfuhrerschaft der Kirche in Sachen Naturkunde und Welterklarung brockelt in diesem Jahrhundert unaufhaltsam. Die Naturwissenschaft, die bislang hinter Theologie, Philosophie und Bibelkunde nur ein Schattendasein fuhrte, erlebt einen geradezu explosionsartigen Boom. Immer neue bahnbrechende physikalische Erkenntnisse verandern das Weltbild und bringen die Autoritat der alten Rezepte ins Wanken. In der Kuche der Vernunft brodelt es gewaltig. Die Entwicklung verlauft europaweit und ergreift das gesamte Abendland. In England ist es Francis Bacon (1561-1626), der dazu anregt, durch reine, vorurteilslose Betrachtung der Natur den Dingen auf den Grund zu gehen. Und in Frankreich macht Descartes sogar den Zweifel zum Mittelpunkt seiner Erkenntnis. Nur eine einzige Gewissheit will er anerkennen, namlich die Realitat seines eigenen zweifelnden Seins: »Cogito ergo sum« - Ich denke (indem ich zweifele), also bin ich!
In Italien, damals der Zeit noch immer ein Stuckchen voraus, hatte bereits Niccolo Machiavelli (1469-1527) die kuhle Vernunft zum politischen Prinzip erhoben. In seinem Leitfaden fur Polit-Manager, den er einfach »Der Furst« nennt, redet er einem eiskalten, vernunftgesteuerten Pragmatismus das Wort. Das merkwurdige Modewort »zielfuhrend«, das wir neuerdings dauernd benutzen, wurde sicherlich auch seinem Wortschatz entsprungen sein, wenn er nicht gerade Italienisch gesprochen hatte. Denn zielfuhrend muss nach Machiavelli jede politische Ma?nahme sein, und aus Grunden der Staatsrason darf sie dabei auch gegen alle kirchlichen Dogmen und gegen alle Gesetze versto?en. Der Furst musse in der Verfolgung seiner Interessen die Rolle eines guten Menschen ebenso kaltblutig spielen konnen wie die einer Bestie. Einzig die politische Vernunft und die kuhle Berechnung wurden daruber entscheiden, ob eine politische Tat erfolgreich sei oder nicht, mag sie auch noch so abscheulich sein.
Der Niederlander Hugo Grotius (1583-1645) vertrat die Ansicht, dass jeder Mensch mit seiner Vernunft die Gesetze Gottes erkennen konnte. Damit versuchte er versohnlich eine Brucke zu schlagen zwischen biblischer Offenbarung und der Vernunft. An die Seite der Bibel und der Kirche tritt bei ihm als bekraftigende Autoritat die Macht des Denkens hinzu, die es allen Menschen ermogliche, die naturliche, von Gott gesetzte Ordnung richtig zu erkennen. Dieser rational-religiose Schmusekurs - gottgewollt und zugleich vernunftbegrundet - wird das gesamte Jahrhundert und noch die Zeit danach pragen, manchmal bis in unsere Tage hinein: Besonders bei politischen Vorhaben bringt man auch heute neben dem Hinweis auf das Vernunftgebotene immer mal wieder den Willen Gottes oder die Vorsehung Allahs ins Spiel.
Die Rationalisten machen sich gleichwohl immer mehr von der Frage nach Gott los. Wir kennen das aus unserer modernen, sakularen Welt: Je mehr der Mensch auf seinen Verstand setzt, umso mehr scheint er Gott zu verlieren. »Verfall abendlandischer Kultur« nennen das die einen, »geistige Befreiung von alten Zopfen« die anderen. Im spaten 17. Jahrhundert darf es tatsachlich eher als »geistige Befreiung« gelten. Und die tragt im Ergebnis schlie?lich einen gro?en Namen: Isaac Newton (1643-1727). Er ist der erste wirklich moderne Naturwissenschaftler, der all seine Erkenntnisse in nachprufbare mathematische Formeln uberfuhrt, also in die Sprache der
Welche Konsequenzen hat dieses gro?artige neue Denken fur Gesellschaft und Politik?
Zunachst einmal diejenige, von der wir wissen, dass sie das ubliche Ergebnis jeder gro?en Erfindung ist: die Hochschatzung unserer menschlichen Gro?e, die meist in Uberschatzung mundet.
Noch heute sichtbarer Ausdruck davon ist das Schloss des franzosischen Sonnenkonigs Ludwig XIV. (1638- 1715), das seit 1668 in dem kleinen, nahe Paris gelegenen Dorfchen Versailles innerhalb von 21 Jahren unter Beteiligung von 30 000 Arbeitern aus einem bescheidenen Jagdschloss heranwachst. Die Selbstfeier menschlicher Gestaltungs- und Leistungskraft findet ihren Hohepunkt in dem 73 Meter langen Spiegelsaal, in dem sich der kulturell veredelte Mensch (und das hei?t damals: der von Adel) gleich in 17 gewaltigen Spiegelbogen selbst betrachten kann, und in der gigantischen Gartenanlage, in der samtliche Baume, Straucher und Blumen dem Diktat der gestaltenden Vernunft unterworfen sind. Baume sind da nicht mehr wild wuchernde, ungezugelte Naturereignisse, sondern vernunftig domestizierte Kegel, Kugeln oder Rechtecke. Spiegelungen des menschlichen Geistes und seiner gestaltenden Uberlegenheit. Der Herrscherwille, der sich hier machtvoll in Szene setzt, besteht auf Exaktheit, Berechenbarkeit und glanzvoller Reprasentation, kurz: Der Mensch, der hier wandelt, ist davon uberzeugt, dass sein uberlegener Geist die Welt im Ganzen zu veredeln vermag, die primitive Natur vor allem. Ein Regent, der mit einem solchen Anspruch auftritt, regiert »absolut«. Man nennt daher diese Herrschaftsform treffend Absolutismus.
Und so ist es auch kein Wunder, dass dieser absolutistische Ludwig XIV. am Ende den Staatsbankrott Frankreichs nicht allein dadurch herbeifuhrt, dass er am prachtvollen Hofe wahrend seiner Weltrekord- Regierungszeit von 72 Jahren fortwahrend etwa tausend gaumenverwohnte adelige Mu?igganger samt ihrer gefra?igen 20 000-kopfigen Entourage durchfuttert. Sondern vor allem dadurch, dass er ohne jede Hemmung sein vernunftiges Regierungskonzept zum Ma?stab aller Dinge macht, sprich: durch kostspielige Kriege seine absolute Macht uber alle Grenzen hinweg auszudehnen sucht. Und spatestens zum Ende seines Lebens 1715 scheitert. Ludwigs allzu hochfliegende Vision einer absoluten Vormachtstellung Frankreichs in Europa wird nie Realitat.
Die zweite Konsequenz bringt politische Unruhe und gesellschaftliche Feuersbrunste, die, nur kurzzeitig geloscht, immer wieder aufflackern und durch das gesamte Jahrhundert schwelen: Im Ruckzugsgefecht der Religionen bleibt die Frage unbeantwortet, warum und inwieweit die gottliche Offenbarung jetzt noch Autoritat besitzt. Die Vernunft soll regieren, gewiss. Aber die Kirche will es doch auch. Und Gott ist in dieser Zeit noch langst nicht »tot«, wie es im Hinblick auf das 19. Jahrhundert Friedrich Nietzsche behaupten wird. Spatestens da, wo die Vernunft nicht mehr weiterwei?, kommt in diesen Tagen immer noch Gott ins Spiel. Oft freilich mit recht unklaren und wankelmutigen Absichtserklarungen. Denn was denn nun wirklich gottgewollt sei, wird im weiteren Verlauf der Weltgeschichte sehr unterschiedlich beantwortet werden, je nach Standpunkt und Truppenstarke.
So ist es kein Wunder, wenn sich die zwei bedeutenden Machtmenschen dieser Zeit, die sich gegensatzlicher kaum denken lassen, doch in einem Punkt gleichen. Beide berufen sich gleicherma?en bei all ihrem Tun auf den Willen Gottes: der Franzose Ludwig XIV. und der Englander Cromwell.
Oliver Cromwell (1599-1658) ist ein beinharter Puritaner, ein »Reiner«, wie sich die fuhrenden englischen Protestanten selbstbewusst nennen. Tieffromm, willensstark, arbeitsam und schlicht, aber durch den langen Kampf der Religionen auf Unerbittlichkeit und Rucksichtslosigkeit getrimmt. Ihm ist jeder Luxus und jede Adelsschwelgerei ein Dorn im Auge. Nicht nur gegen die katholischen Iren, die benachbarten Glaubensfeinde, geht Cromwell mit gro?ter »gottgewollter Harte« vor, sondern auch gegen die schottischen Presbyterianer, die Gemeindealtesten, die den vielen schottischen Gemeinden nach urchristlichem Vorbild vorstehen, aber in ihrer Eigenstandigkeit sowohl der herrschenden anglikanischen Staatskirche missfallen wie auch Cromwell.
Cromwell handelt mit der Entschlossenheit eines Mannes, der Gott hochstpersonlich im Gepack hat. Als Fuhrer des englischen Parlaments lasst er 1649 sogar den auf konigliche Rechte pochenden Karl I. kurzerhand kopfen. Konig Karl darf immerhin fur sich in Anspruch nehmen, der erste Herrscher Europas gewesen zu sein, der vor einem ordentlichen Gericht nach nachvollziehbaren, rationalen Gesetzen zum Tode verurteilt wurde. Die wirklich bewiesene Anklage lautete, Karl habe vorsatzlich gegen die
Aber Karl hatte es wissen konnen und mussen: Angesichts der Starke des englischen Adels, angesichts des angestammten parlamentarischen Rechts auf Steuererhebungen und angesichts des Hardliners Cromwell war in England ein Absolutismus a la francaise von vornherein nicht realisierbar. Der Kampf zwischen Konigtum und Parlament geht hier zugunsten des Letzteren aus, und spatestens mit der parlamentarisch verfugten Ernennung des fortschrittlichen Statthalters der Niederlande Wilhelm III. von Oranien zum englischen Konig im Jahre 1688 ist das Kapitel »Absolutismus« in England endgultig abgehakt.
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