des Verstandes die Menschheit nicht eine neue Stufe des Daseins erklimmen? Eine neue Welt wurde entstehen, in der sich alle Widerspruche und Streitereien auflosen konnten und jeder Aberglaube und jeder Glaubenskrieg abgeschafft sei. Wo die alten Zopfe uberkommener Irrtumer, die den Fortschritt behinderten, ein fur alle Mal abgeschnitten waren.

Nie mehr wurde es so irrationale Dinge wie Hexenverbrennungen geben, denen im 17. Jahrhundert allein in Deutschland noch uber 100 000 vermeintliche Hexen und Hexer zum Opfer gefallen waren. Nie mehr so furchtbare Gewaltexzesse wie den Drei?igjahrigen Krieg. Nach dem Gesetz des Verstandes wurde eine einzige gesellschaftliche Regel Frieden und Gerechtigkeit stiften, der sogenannte kategorische Imperativ: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten konne.« Einfacher gesagt: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das fug auch keinem andern zu!«

Kant geht so weit, dass er den Willen jedes Menschen, nach dieser Regel zu leben, als »Eigenschaft des Willens aller vernunftigen Wesen« ausmacht - und sich darin offenbar tauschen sollte, wie uns der weitere Verlauf der Geschichte lehrt. Gut hundert Jahre nach Kant erkannte der Psychoanalytiker und Kulturpessimist Sigmund Freud (1856 -1939) nuchtern, dass leider die menschliche Vernunft nur den geringsten Teil unserer Handlungen bestimmt und dass es vielmehr das Unbewusste sei, das die Menschen unter einer eierschalendunnen Kulturhulle zu den irrationalsten Handlungen verleite. Der Zukunftsoptimismus der fruhen Aufklarer war damit in sein Gegenteil verkehrt. Und in der Spatphase der kapitalistischen Gesellschaftssysteme des 20. Jahrhunderts gerat allmahlich auch der zweite Imperativ Kants in Vergessenheit: »Handle so, dass du die Menschheit sowohl in deiner Person als auch in der Person eines jeden anderen jederzeit zugleich als Zweck, niemals blo? als Mittel brauchst.« Frei auf die moderne Arbeitswelt ubertragen: »Nicht der Mensch ist fur die Arbeit da, sondern die Arbeit fur den Menschen!«

Hat unsere heutige, okonomisch gepragte Lebenswelt diesen Imperativ wirklich noch auf der Rechnung? So wurde Kant uns wohl fragen, nachdem im 20. Jahrhundert die Entdeckung des Menschen als Konsumenten viele wesentliche Werte zur Seite geschoben hat.

Die Umsetzung des kantschen Imperativs in der politischen Wirklichkeit der Neuzeit klappt da schon besser: »Nicht die Menschen sind fur ihre Regierung da, sondern die Regierung fur die Menschen!« Gewiss, von dieser Forderung lebt eine Demokratie. Und das war es ja auch, was bereits der gro?e franzosische Denker Voltaire (1694 -1778) bei seinem Aufenthalt am preu?ischen Konigshof Friedrich dem Gro?en immer wieder eingescharft hatte.

Es war eine berauschende Entdeckung neuer gesellschaftlicher Werte wie Toleranz und Menschenwurde. Mit der Befreiung vom Aberglauben sowie von morschen Gesetzen und ungerechten Vorrechten des Mittelalters fand zugleich eine enorme Aufwertung des Individuums statt, die durchaus mit dem Kern der christlichen Botschaft harmoniert: mit der Idee der Nachstenliebe. Nachstenliebe kommt fur Aufklarer einer vernunftigen Selbstverwirklichung des freien Individuums gleich, dessen naturliches Bedurfnis es sei, seine Gemeinschaft mit anderen Menschen glucklich zu verwirklichen.

Trotz dieser Nahe zur Botschaft des Christentums hatte sich aber die Kirche als fortschrittshemmende Institution in den Augen der Aufklarer im Laufe der Jahrhunderte verdachtig gemacht. Und tatsachlich verharrt nach dem Fiasko der Glaubensspaltung insbesondere der Katholizismus in einer konservativen Schockstarre und einer bedenklichen Nahe zur politischen Macht. Letztlich scheint die Vernunft, so erkennen die Aufklarer, auch ganz gut ohne Gottesbegriff uber die Runden zu kommen. Es entstehen in dieser Zeit neuartige Ersatzbundnisse und rational gepragte Glaubensgemeinschaften, besonders die »Freimaurer«, die im fortschrittlichen London schon ab 1717 ganz ohne biblische Gesetze Menschen- und Naturrechte reklamieren. Friedrich der Gro?e ist spater ubrigens Mitglied einer solchen Loge geworden, desgleichen das Komponisten-Genie Mozart und die vielleicht gro?ten Dichter der Deutschen, Goethe und Schiller. Wenn Sie in diesen Kreisen mal nachgefragt hatten, was denn das hochste Ziel sei, das so ein Staat zu verwirklichen habe, dann hatte man Ihnen schon damals zur Antwort gegeben: die Freiheit!

Mit welch grenzenlosem Optimismus die Aufklarer ihre Vorstellung von einer neuen Weltordnung trieben, dafur ist der franzosische Denker Jean-Jacques Rousseau (1712 -1778) ein gutes Beispiel, der ubrigens wie Voltaire Mitarbeiter an der neuen franzosischen Enzyklopadie war, dem ersten Versuch einer methodischen Darstellung allen menschlichen Wissens. Rousseau ging von einem geradezu paradiesischen Naturbegriff aus, nach dem der Mensch und die Natur von Anfang an gut seien. Allein die kulturelle Entwicklung habe diesen Ursprung verdorben, und die Aufgabe einer neuen Gesellschaft musse es nun sein, an den unschuldigen Anfang zuruckzukehren.

Seit Rousseau sind zwei widerstreitende Naturbegriffe in der Welt, die sich noch heute in zwei politischen Lagern abbilden: Sind die Fortschrittsglaubigen davon uberzeugt, dass sich die Natur des Menschen dadurch erst vervollkommne, dass die Menschheit sich in geistiger und technologischer Hinsicht laufend weiterentwickle, so schworen die »Grunen« auf den unverdorbenen Ursprung und predigen wie Rousseau ein »Zuruck zur Natur!«. Was die einen »Fortschritt« nennen, nennen die andern »Perversion« - und andersherum. Und wenn Sie mit Ihren Mitmenschen dann und wann daruber streiten, wie man »richtig leben« soll, sollten Sie zuallererst prufen, welchem Naturverstandnis Sie den Vorrang einraumen.

Denn je nachdem gelangt man zu entsprechenden Konsequenzen. So wie Rousseau: Er fordert die Freiheit und Souveranitat jedes einzelnen Menschen, weil er die am Anfang der Menschheitsgeschichte als gegeben ansieht. Und nur die Demokratie, die Herrschaft des Volkes, garantiere, dass die ursprungliche Freiheit jedes einzelnen Menschen nicht eingeschrankt werde. Als Teilhaber an der Entscheidung aller gehorche namlich der Einzelne sich sozusagen selbst. Eine Regierung, die auf Grundlage der Entscheidung aller handle, brauche keinerlei Kontrolle oder Aufsicht, so Rousseaus recht blauaugige Uberzeugung.

Die optimistische Idee, dass das Spiel der Krafte, wenn es denn von Unterdruckung befreit sei, die Verhaltnisse automatisch zum Guten wende, hat bis heute vor allem auf unser okonomisches Denken nachhaltig eingewirkt. Der Schotte Adam Smith (1723 -1790) entwickelte fruh die Vorstellung, dass alles dann zum Besten gerate, wenn jeder die Freiheit hatte, sich um seine eigenen Belange zu kummern. Der ungebremste Eigennutz sei das eigentliche Schwungrad einer Gesellschaft. Wenn jeder fur sich sorge, sei fur alle gesorgt. Aus diesem radikalen Wirtschaftsliberalismus spricht der unbandige Optimismus und Fortschrittsglaube einer Epoche, die sich anschickt, unter dem Schlachtruf von Freiheit und Gleichheit die gesellschaftlichen Verhaltnisse radikal umzukrempeln. Was uns heute inzwischen als gefahrlich unsozialer »Kampf aller gegen alle« beangstigen wurde, galt dieser Zeit noch als ultimativer Freiheitsruf. Unsere freiheitshungrigen Vorfahren hatten eben noch keinen blassen Schimmer davon, dass Freiheit ein au?erst schwieriges Geschaft ist.

Beispiele fur eine freie Gesellschaft gab es ja schon vor der Franzosischen Revolution von 1789. Der Blick nach Amerika fuhrte den Menschen auch in Europa werbewirksam vor Augen, welch gedeihliche Bluten aus einer Kultur der Freiheit entsprie?en konnen. Was neue Gesellschaftsformen anging, so war das junge Amerika zugleich Experimentierstube wie auch Vorbild, und der Unabhangigkeitskampf der amerikanischen Siedler wurde in Europa mit hellwachem Interesse verfolgt.

In den »besseren Kreisen« allerdings auch mit Argwohn. Stein des Ansto?es, der schnell zum Konflikt mit England fuhrte, war zunachst weniger der Freiheitsgedanke an sich als, wie zumeist, die wirtschaftlichen Begehrlichkeiten. Besonders der Versuch der englischen Krone, von den Amerika-Siedlern Steuern zu erheben. Mit ihrem berechtigten Argument, man wurde aber nur solchen Politikern Steuern zahlen wollen, die man auch selbst wahlen durfe, verweigerten die Kolonisten kurzerhand die Zahlung ins ferne England.

Unter dem Tabakpflanzer und erfolgreichen Indianer-Bekampfer George Washington (1722-1799) siegten die hochmotivierten Truppen der US-Kolonisten uber das englische Heer; allerdings wohl auch nur, weil die Briten- feindlichen Franzosen die Sache unterstutzten. Am 4. Juli 1776 erklarten sich dreizehn Staaten zur unabhangigen Republik der Vereinigten Staaten von Amerika. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wurden in der Unabhangigkeitserklarung jene »Wahrheiten« verkundet, die dann als unverau?erliche Freiheitsrechte zur Grundlage aller modernen Gesellschaften geworden sind:

»Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverstandlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schopfer mit gewissen unverau?erlichen Rechten begabt sind; dass dazu Leben, Freiheit und Streben nach Gluck gehoren; dass zur Sicherung dieser Rechte Regierungen unter den Menschen eingerichtet werden, die ihre rechtma?ige Macht aus der Zustimmung der Regierten herleiten .«

Erinnern Sie sich bitte an die nachtliche Himmelskuppel zu Beginn des Kapitels. Dort konnen Sie das Wetterleuchten beobachten, das mit der amerikanischen Ausrufung von Freiheit und Gleichheit Richtung Europa zieht. Und Sie vergessen vielleicht fur einen Moment die Frage, warum die weltweite Durchsetzung dieser Rechte noch immer in den Sternen steht.

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