31. Rollende Kopfe

In Frankreich waren die Wahrheiten aus Amerika noch nicht angekommen.

Obwohl das riesige Finanzloch, das unter Sonnenkonig Ludwig XIV. in den Staatsbankrott gefuhrt hatte, auch unter seinen Nachfolgern nicht zu stopfen war, weigerte sich der Adel weiterhin, auf Privilegien zu verzichten. Unter Ludwig XVI. scheiterten daher alle halbherzigen Finanzreformen.

Die Unterstutzung der amerikanischen Siedler in ihrem Freiheitskampf, mit der Frankreich England zu schwachen suchte, geriet indes zum Damokles-Schwert: Zum einen war diese Politik wieder einmal recht kostspielig; zum anderen wurde der Gedanke von Freiheit und Unabhangigkeit ruckubertragen in die Kopfe derer, die in ihrem eigenen Land politisch vollig einflusslos waren, und das war die uberwaltigende Mehrheit des Volkes: der »Dritte Stand«, neben Adel und Klerus. Die Notwendigkeit von Reformen stand bald au?er Frage, aber niemand wusste den Weg dorthin.

In der Menschheitsgeschichte ist es oft die Natur, die in entscheidenden Augenblicken das Rad der Entwicklung in irgendeine Richtung sto?t. Was ware denn geworden, wenn die Mucke Alexander den Gro?en nicht gestochen hatte und er nicht schon mit 33 Jahren an Malaria verstorben ware? Was ware passiert, wenn der Klimawandel, der die Volkerwanderung ausloste, nicht stattgefunden hatte? Wenn Spaniens Armada 1588 nicht von Holzbohrwurmern befallen worden und in einen Sturm geraten ware? Oder der russische Winter Napoleon nicht uberrascht hatte? Auch in diesem Fall ist es ein au?ergewohnlich strenger Winter, der des Jahres 1788/89, der die Brotpreise in Paris ebenso in die Hohe treibt wie die Arbeitslosigkeit. Die Unzufriedenheit des Dritten Standes mit den Lebensverhaltnissen wachst von Tag zu Tag. Ludwig XVI. entschlie?t sich zu einer ungewohnlichen Ma?nahme: Seit gut zwei Jahrhunderten war es nicht mehr passiert, dass die drei Stande der franzosischen Gesellschaft zu Beratungen zusammengekommen waren. Nun erhofft sich Ludwig durch die Neubelebung dieser Standevertretung Rat und Hilfe. Das Problem freilich: Jeder Stand soll eine volle Stimme haben, so dass Adel und Klerus, pro Kopf gerechnet weit in der Minderheit, jederzeit den Dritten Stand bei Reformplanen uberstimmen konnen. Immer wieder kommt daher die Forderung auf, nicht nach Standen, sondern nach Kopfen abzustimmen, aber der Konig kann sich zu einer so innovativen Wahlreform nicht durchringen. Zudem tagen die Vertreter der Stande getrennt. Eine gemeinsame Meinungsbildung findet nicht statt.

Ein Vertreter des niederen Adels, Abbe Sieyes, ist es schlie?lich, der am 17. Juni 1789 den Dritten Stand kurzerhand zur Nation erklart. Beruhmt ist sein Flugblatt, das in Paris kursiert - »Was ist der Dritte Stand?« -, vor allem auch wegen seiner extrem pragnanten Werbewirkung: »Der Plan dieser Schrift ist ganz einfach«, schreibt Abbe Sieyes: »Wir legen nur drei Fragen vor: 1. Was ist der Dritte Stand? Alles. 2. Was ist er bis jetzt in der politischen Ordnung gewesen? Nichts. 3. Was verlangt er zu werden? Etwas. Der Dritte Stand ist eine vollstandige Nation!«

Das Volk jubelt. Der Konig verliert die Kontrolle. Als Soldaten den Zutritt zum Sitzungssaal des Dritten Standes behindern, weicht man erregt in das Versailler Ballhaus aus. Hier kommt es zum beruhmten »Ballhausschwur«, bei dem die Abgeordneten schworen, erst dann auseinanderzugehen, wenn eine neue Verfassung beschlossen sei. Statt zu agieren, kann Konig Ludwig jetzt nur noch reagieren und gibt gezwungenerma?en die Order, alle Stande mogen sich zur verfassunggebenden Nationalversammlung vereinen. Die Revolution hatte gesiegt.

Mit dieser Entscheidung konnte das Kapitel glucklich beendet sein. Aber ein Dampfkessel, der recht lange befeuert wird, braucht viel Zeit, bis er erkaltet. Und vor allem muss der Dampf heraus. Die Idee des Neuen, des Revolutionaren, entwickelt auf Menschen immer eine faszinierende Sogkraft, die plotzlich alles mitrei?t, was gestern noch hoch und heilig war. Wahrend die Nationalversammlung tagt, sturmt die aufgeregte Pariser Menge am 14. Juli 1789 das alte Symbol absolutistischer Herrschaft: die Bastille, das alte Staatsgefangnis. Und wenn es auch nur sieben Gefangene sind, die man dort findet und befreit, so ist dieser 14. Juli doch zum franzosischen Nationalfeiertag geworden, zum gro?en Symbol fur die Revolution und die Ubernahme der politischen Macht durch das Volk. Drei Tage spater entsteht ubrigens die Trikolore, die Flagge Frankreichs, als der Konig selbst nach Paris einfahrt und als Zeichen seiner Zustimmung an seinem wei?en Hut die blau-rote Pariser Kokarde tragt, jenes Schleifenband, das man im 17. Jahrhundert in Frankreich gerne am Hut trug, wenn man die Zugehorigkeit zu irgendeiner Gruppe zum Ausdruck bringen wollte.

Die spate Zustimmung wird ihm aber nichts nutzen, auch wenn die Menge ihm jetzt noch zujubelt. Uberall im Land gerat das Revolutionsfeuer bald ganzlich au?er Kontrolle. Die staatliche Ordnung befindet sich in Auflosung. Die Notwendigkeit eines Konigs in der nunmehr konstitutionellen Monarchie wird immer fraglicher. Der Staatsbankrott treibt Teuerung und Arbeitslosigkeit ins Extrem, auch wenn jetzt, am 5. August, Adel und Klerus bereit sind, auf alle Privilegien zu verzichten.

Beispielhaft dafur, wie schwer es ist, eine Wirtschaftskrise in den Griff zu bekommen, ist der Versuch der Nationalversammlung vom 10. Oktober: Auf Antrag des Bischofs Charles de Talleyrand (1754-1838) wird aller Kirchenbesitz staatlich eingezogen. Mit dem Verkauf der Besitztumer und Grundstucke will man zu dringend benotigtem Geld kommen, denn selbst die geringen Steuereinnahmen versiegen in den allgemeinen Wirren. Um die Immobilien kon-vertibel zu machen, wird Papiergeld gedruckt, dessen Wert durch den eingezogenen Kirchenbesitz gedeckt sein soll. So weit, so gut. Aber das plotzliche Uberangebot an Grundstucken und Hausern lasst den Markt uber Nacht zusammenbrechen. Die Preise sturzen in den Keller und mit ihnen der Wert der bunten Papierfetzen, die man Geld nennt. Eine ungebremste Inflation ist die Folge, die direkte Verwandte des Chaos.

Der sehr fortschrittliche und in seinem Aufklarungswillen selbst Friedrich den Gro?en uberflugelnde Sohn und Nachfolger der osterreichischen Kaiserin Maria Theresia, Joseph II. (1741-1790), der sofort nach Regierungsantritt 1780 in Osterreich die Leibeigenschaft der Bauern aufhob, die Todesstrafe abschaffte, ein weitreichendes religioses Toleranzedikt erlie? und daruber hinaus in seiner relativ kurzen Regierungszeit gut 6000 (!) Edikte verfasste, um den Vielvolkerstaat Osterreich in ein modernes Land zu verwandeln, hatte bereits 1777 seiner Schwester Marie Antoinette, die mit Ludwig XVI. verheiratet war, fast prophetisch ins Gewissen geredet: »So kann es auf Dauer nicht fortgehen, und die Revolution wird furchtbar sein, wenn du ihr nicht vorbeugst.«

Die Mahnung stie? auf taube Ohren. Auf den alarmierenden Hinweis, die Pariser Burger hatten kein Brot mehr, soll Marie Antoinette den ultimativen Satz vollendeter Herrschafts-Ignoranz gesprochen haben: »Dann sollen sie doch Kuchen essen!« Aber das ist nur erfunden, wenn auch gut. Denn damit ist treffend die gesellschaftliche Kluft beschrieben, die sich zu diesem Zeitpunkt uber fast zwei Jahrhunderte hinweg zu einer unuberbruckbaren Schlucht vertieft hatte.

So wartet am 21. Januar 1793 der Henker auf ihren Gemahl, der als »Burger Louis Capet« offentlich unter die Guillotine gelegt wird. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass in dieser Phase der Revolution Konig und Konigin gleichsam das Opfer einer konzertierten Rettungsaktion werden. Denn die Drohung eines preu?ischen Feldherrn, Paris dem Erdboden gleichzumachen, wenn die Revolutionare es wagen sollten, das konigliche Schloss zu sturmen, geht nach hinten los. Die preu?ische Drohgebarde stempelt Ludwig XVI., ob er will oder nicht, zum Verbundeten Preu?ens und damit zum Staatsfeind Nummer 1. Zumal da Preu?en tatsachlich im Verbund mit Osterreich gefahrlich nah an das revolutionare Paris heranruckt. In dem Moment, da die Monarchie in ihren Grundfesten erschuttert wird, verbrudern sich die ehemaligen Erzfeinde, um dem ehemaligen Erzfeind Frankreich zu Hilfe zu eilen.

Denn der revolutionare Angriff auf die Monarchie wird vom herrschenden Adel europaweit als Generalangriff auf die gottgewollte Weltordnung verstanden. Und da im Herbst 1791 bereits die radikalen Anhanger einer monarchiefreien Republik, die sich nach ihrem ursprunglichen Treffpunkt im Kloster St. Jakob »Jakobiner« nennen, in der Nationalversammlung die Oberhand gewinnen, gehen die europaischen Adelshauser jetzt aufs Ganze. Ein Krieg ganz neuer Art bricht aus, der nun nicht mehr uber Gebietsanspruche unterschiedlicher Lander entscheiden soll, sondern der uber 23 Jahre hinweg in ganz Europa die Frage zu klaren sucht, wer denn nun das Recht zu herrschen hat: der Adel oder das Volk.

Mit nur einer Stimme Mehrheit entscheidet sich der Nationalkonvent am 20. September 1792, die radikale Demokratie zu verwirklichen und dem Konig den Kopf abzuschlagen. Von Frankreich aus solle »die Freiheit und das

Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату