THE AVAILABILITY BIAS

Warum Sie lieber einen falschen Stadtplan als gar keinen verwenden

»Er hat sein Leben lang jeden Tag drei Schachteln Zigaretten geraucht und wurde uber 100 Jahre alt. So schadlich kann Rauchen also nicht sein.« Oder: »Hamburg ist sicher. Ich kenne jemanden, der lebt mitten in Blankenese. Der schlie?t seine Tur nie ab, nicht einmal, wenn er in den Urlaub fahrt, und noch nie wurde bei ihm eingebrochen.« Solche Satze wollen irgendetwas beweisen – doch sie beweisen uberhaupt nichts. Leute, die so reden, sind dem Availability Bias verfallen.

Gibt es mehr deutsche Worter, die mit einem R anfangen oder mit einem R aufhoren? Antwort: Es gibt mehr als doppelt so viele deutsche Worter, die mit einem R enden, als solche, die mit einem R anfangen. Warum liegen die meisten, denen diese Frage gestellt wird, falsch? Weil uns Worter, die mit R beginnen, schneller einfallen. Anders ausgedruckt: Sie sind verfugbarer.

Der Availability Bias (auf Deutsch etwa: Verfugbarkeitsfehler) besagt Folgendes: Wir machen uns ein Bild der Welt anhand der Einfachheit, mit der uns Beispiele einfallen. Was naturlich idiotisch ist, denn drau?en in der Wirklichkeit kommt etwas nicht haufiger vor, nur weil wir es uns besser vorstellen konnen.

Dank dem Availability Bias spazieren wir mit einer falschen Risikokarte im Kopf durch die Welt. So uberschatzen wir systematisch das Risiko, durch einen Flugzeugabsturz, Autounfall oder Mord umzukommen. Und wir unterschatzen das Risiko, durch weniger sensationelle Arten zu sterben wie Diabetes oder Magenkrebs. Bombenattentate sind viel seltener, als wir meinen, Depressionen viel haufiger. Allem, was spektakular, grell oder laut ist, schreiben wir eine zu hohe Wahrscheinlichkeit zu. Allem, was stumm und unsichtbar ist, eine zu tiefe. Das Spektakulare, Grelle, Laute ist dem Hirn verfugbarer als das Gegenteil. Unser Hirn denkt dramatisch, nicht quantitativ.

Arzte fallen dem Availability Bias besonders haufig zum Opfer. Sie haben ihre Lieblingstherapien, die sie auf alle moglichen Falle anwenden. Es gabe vielleicht passendere Behandlungen, aber sie sind ihnen gedanklich nicht prasent. Also praktizieren sie, was sie kennen. Unternehmensberater sind nicht besser. Treffen sie auf eine vollig neue Situation, werden sie nicht die Hande uber dem Kopf zusammenschlagen und seufzen: »Ich wei? wirklich nicht, was ich Ihnen raten konnte.« Nein, sie werden einen der ihnen gelaufigen Beratungsprozesse in Gang setzen – ob er passt oder nicht.

Wird etwas oft wiederholt, machen wir es unserem Hirn sehr leicht, es wieder abzurufen. Dabei muss es nicht einmal wahr sein. Wie oft hat die Nazi-Fuhrung das Wort »Judenfrage« wiederholt, bis die Massen uberzeugt waren, dass ein ernsthaftes Problem vorliegt? Man muss die Worter UFO, Lebensenergie oder Karma nur oft genug wiederholen – plotzlich glaubt man daran.

In Aufsichtsratssesseln steckt der Wurm des Availability Bias tief drin. Die Herren diskutieren uber das, was das Management ihnen vorlegt – meistens Quartalszahlen –, statt uber Dinge, die ihnen das Management nicht vorlegt, aber wichtiger waren, zum Beispiel einen geschickten Schachzug der Konkurrenz, das Absacken der Motivation der Belegschaft oder eine unerwartete Veranderung des Kundenverhaltens. Ich beobachte es immer wieder: Menschen verwenden in erster Linie Daten oder Rezepte, die einfach zu beschaffen sind. Auf dieser Basis treffen sie Entscheidungen – mit oft verheerenden Resultaten. Beispiel: Seit zehn Jahren wei? man, dass die sogenannte Black-Scholes-Formel fur die Preisberechnung von derivativen Finanzprodukten nicht funktioniert. Aber man hat keine andere. Also verwendet man lieber eine Formel, die falsch ist, als gar keine. Dasselbe mit der »Volatilitat«. Sie als Risikoma?stab eines Finanzprodukts zu nehmen, ist falsch. Aber sie ist einfach zu berechnen. Also verwenden wir sie in fast allen Finanzmodellen. So hat der Availability Bias den Banken Milliardenschaden beschert. Es ist, als ware man in einer fremden Stadt ohne Stadtplan, doch in der Tasche findet man die Karte einer anderen Stadt, also verwendet man diese. Lieber eine falsche Karte als gar keine.

Wie hat schon Frank Sinatra gesungen: »Oh, my heart is beating wildly/And it’s all because you’re here./When I’m not near the girl I love,/ I love the girl I’m near.« Perfekter Availability Bias. Zur Gegensteuerung: Tun Sie sich mit Menschen zusammen, die anders denken als Sie, Menschen mit ganz anderen Erfahrungen. Denn allein haben Sie keine Chance, den Availability Bias zu besiegen.

DIE ES-WIRD-SCHLIMMER-BEVOR-ES-BESSER-KOMMT-FALLE

Spricht jemand von einem »schmerzvollen Weg«, sollten Ihre Alarmglocken lauten

Vor einigen Jahren war ich auf Korsika im Urlaub und wurde krank. Die Symptome waren mir neu. Die Schmerzen wuchsen mit jedem Tag. Schlie?lich beschloss ich, mich untersuchen zu lassen. Der junge Arzt begann mich abzuhoren und abzutasten, druckte an meinem Bauch herum, dann an den Schultern, an den Knien. Er tastete Wirbel um Wirbel ab. Langsam vermutete ich, dass er keine Ahnung hatte. Doch ich war unsicher und lie? die Tortur uber mich ergehen. Als Zeichen, dass die Untersuchung nun zu Ende sei, zuckte er den Notizblock und sagte: »Antibiotika. Nehmen Sie dreimal taglich eine Tablette. Bevor es besser wird, wird es schlechter.« Froh, dass ich nun einen Befund hatte, schleppte ich mich ins Hotelzimmer zuruck.

Die Schmerzen wurden tatsachlich schlimmer – wie vorausgesagt. Dieser Arzt wusste also, wovon er sprach. Als die Pein nach drei Tagen nicht nachlie?, rief ich an. »Erhohen Sie die Dosis auf funfmal pro Tag. Es wird noch eine Weile schmerzen«, sagte er. Ich tat wie verlangt. Nach weiteren zwei Tagen rief ich den Flugrettungsdienst an. Der Arzt in der Schweiz konstatierte Blinddarm und operierte mich sofort. »Warum zum Teufel haben Sie so lange gewartet?«, fragte er mich nach der Operation. »Der Krankheitsverlauf entsprach genau der Vorhersage, also vertraute ich dem jungen Arzt.« »Sie sind der Es-wird-schlimmer-bevor-es-besser-kommt- Falle zum Opfer gefallen. Der korsische Arzt hatte keinen blassen Schimmer. Vermutlich ein Aushilfskrankenpfleger, wie sie in der Hochsaison in allen Touristenorten anzutreffen sind.«

Nehmen wir einen andern Fall, einen CEO, der weder ein noch aus wusste. Die Umsatze im Keller. Die Verkaufer unmotiviert. Marketingaktivitaten, die ins Leere liefen. In seiner Verzweiflung heuerte er einen Berater an. Fur 5.000 Euro pro Tag analysierte dieser die Firma und kam mit diesem Befund zuruck: »Ihre Verkaufsabteilung ist visionslos, und Ihre Marke nicht klar positioniert. Die Situation ist verzwickt. Ich kann das fur Sie zurechtrucken. Aber nicht uber Nacht. Das Problem ist komplex und die Ma?nahmen verlangen Fingerspitzengefuhl. Bevor es besser wird, werden die Umsatze nochmals zuruckgehen.« Der CEO heuerte den Berater an. Ein Jahr spater gingen die Umsatze tatsachlich zuruck. Auch im zweiten Jahr. Immer wieder unterstrich der Consultant, dass der Firmenverlauf genau seiner Vorhersage entsprach. Als nach dem dritten Jahr die Umsatze weiter krankelten, feuerte der CEO den Berater endlich.

Die Es-wird-schlimmer-bevor-es-besser-kommt-Falle ist eine Spielvariante des sogenannten Confirmation Bias. Ein Fachmann, der nichts von seinem Fach versteht oder unsicher ist, tut gut daran, in diese Trickkiste zu greifen. Geht es weiter bergab, bestatigt sich seine Vorhersage. Geht es unerwarteterweise hinauf, ist der Kunde glucklich, und der Fachmann kann die Verbesserung seinem Konnen zuschreiben. So oder so – er hat immer recht.

Angenommen, Sie werden Prasident eines Landes und haben nicht die geringste Ahnung, wie das Land zu fuhren sei. Was tun Sie? Prognostizieren Sie »schwierige Jahre«, fordern Sie Ihre Landsleute auf, den »Gurtel enger zu schnallen«, und versprechen Sie eine Verbesserung der Situation erst nach dieser »heiklen Phase« der »Reinigung«, »Entschlackung«, »Restrukturierung«. Lassen Sie es dabei bewusst offen, wie lange und wie tief das Tal der Tranen sein wird.

Der beste Beleg fur den Erfolg dieser Strategie liefert das Christentum: Bevor das Paradies auf Erden kommt, hei?t es, muss die Welt zugrunde gehen. Die Katastrophe, die Sintflut, das Weltfeuer, der Tod – sie sind Teil eines gro?eren Plans und mussen sein. Der Glaubige wird jede Verschlechterung der Situation als Bestatigung der Prophezeiung und jede Verbesserung als Geschenk Gottes erkennen.

Fazit: Sagt jemand: »Es wird schlimmer, bevor es besser wird«, sollten bei Ihnen die Alarmglocken lauten. Aber Vorsicht: Es gibt tatsachlich Situationen, bei denen es erst nochmals runter- und erst dann wieder raufgeht. Ein Karrierewechsel kostet unter Umstanden Zeit und ist mit Lohnausfall verbunden. Die Reorganisation eines Firmenbereiches braucht eine gewisse Zeit. Doch in all diesen Fallen sieht man relativ schnell, ob die Ma?nahmen greifen. Die Meilensteine sind klar und uberprufbar. Schauen Sie darauf, und nicht in den Himmel.

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