solche Spanne ware zum Beispiel 20 und 70. Das hei?t, Sie schatzen, dass Katharina nicht weniger als 20 und nicht mehr als 70 Liebhaber hatte.

Nassim Taleb, der mir genau diese Aufgabe einmal gestellt hat, hat Hunderte von Leuten auf diese Weise befragt. Mal hat er sie nach der Lange des Mississippi, mal nach dem Kerosinverbrauch eines Airbus, mal nach der Anzahl Einwohner von Burundi gefragt. Dabei durften sie die Spanne frei wahlen, und zwar wie gesagt so, dass sie zu hochstens 2 % falschliegen. Das Ergebnis war erstaunlich. Statt 2 % der Befragten lagen 40 % der Befragten mit ihrer geschatzten Spanne falsch. Die beiden Forscher Marc Alpert und Howard Raiffa, die zuerst auf dieses erstaunliche Phanomen gesto?en sind, haben es Overconfidence – also Selbstuberschatzung – genannt.

Dasselbe gilt fur Prognosen. Schatzungen des Borsenkurses in einem Jahr oder der erwarteten Umsatze im Dreijahresplan Ihrer Firma unterliegen genau demselben Effekt: Wir uberschatzen systematisch unser Wissen und unsere Fahigkeit zu prognostizieren – und zwar massiv. Beim Overconfidence-Effekt geht es nicht darum, ob eine einzelne Schatzung stimmt oder nicht. Der Overconfidence- Effekt misst den Unterschied zwischen dem, was Menschen wirklich wissen, und dem, was sie denken zu wissen. Wirklich uberraschend ist das: Experten leiden noch starker am Selbstuberschatzungseffekt als Nichtexperten. Ein Okonomieprofessor liegt bei einer Funfjahresschatzung des Olpreises genauso falsch wie ein Nichtokonom. Nur tut er es mit einer ungeheuren Selbstuberschatzung.

Der Overconfidence-Effekt spielt auch in Bezug auf andere Fahigkeiten eine Rolle: In Befragungen geben 84 % der franzosischen Manner an, uberdurchschnittlich gute Liebhaber zu sein. Ohne Overconfidence-Effekt mussten es genau 50 % sein – logisch, denn »Durchschnitt« bedeutet ja gerade, dass 50 % daruber und 50 % darunter liegen.

Unternehmer sind wie Heiratswillige: uberzeugt, von der Statistik ausgenommen zu sein. Die wirtschaftliche Aktivitat lage tiefer, wenn es den Overconfidence-Effekt nicht gabe. Jeder Restaurantbesitzer traumt davon, die nachste Kronenhalle oder das nachste Borchardt zu etablieren – und die meisten machen schon nach drei Jahren wieder dicht. Die Eigenkapitalrendite im Restaurantgeschaft liegt chronisch unter null. Anders ausgedruckt: Die Restaurantunternehmer subventionieren systematisch ihre Gaste.

Es gibt kaum ein Gro?projekt, das schneller und billiger fertiggestellt wird als vorgesehen. Legendar sind die Verzogerungen und Kostenuberschreitungen beim Airbus A400M, beim Opernhaus in Sidney, bei allen drei Gotthardtunneln. Die Liste ist beliebig verlangerbar.

Warum ist das so? Hier spielen zwei Effekte zusammen. Zum einen die klassische Overconfidence. Zum anderen eine »incentivierte« Unterschatzung der Kosten durch Leute, die ein direktes Interesse am Projekt haben. Consultants erhoffen sich Folgeauftrage, Bauunternehmer und Lieferanten ebenso, die Bauherrschaft fuhlt sich von den optimistischen Zahlen gestarkt, und Politiker holen sich damit Wahlerstimmen. Wir werden diese Incentive-Superresponse-Tendenz in einer anderen Kolumne beleuchten. Wichtig ist der Unterschied: Overconfidence ist nicht incentiviert, sondern auf eine naturliche Art naiv und angeboren.

Drei Details zum Schluss: A) Das Gegenteil, einen Underconfidence-Effekt, gibt es nicht. B) Bei Mannern ist der Overconfidence-Effekt ausgepragter als bei Frauen – Frauen uberschatzen sich weniger. C) Nicht nur Optimisten leiden unter dem Overconfidence- Effekt. Auch selbst erklarte Pessimisten uberschatzen sich – nur weniger.

Fazit: Seien Sie allen Vorhersagen gegenuber skeptisch, besonders wenn sie von sogenannten Experten stammen. Und gehen Sie bei allen Planen immer vom pessimistischen Szenario aus. Damit haben Sie eine wahre Chance, die Situation einigerma?en realistisch zu beurteilen.

SOCIAL PROOF

Wenn Millionen von Menschen eine Dummheit behaupten, wird sie deswegen nicht zur Wahrheit

Sie sind auf dem Weg in ein Konzert. An einer Stra?enkreuzung treffen Sie auf eine Gruppe Menschen, die alle in den Himmel starren. Ohne sich etwas zu uberlegen, schauen auch Sie hoch. Warum? Social Proof. Mitten im Konzert, an einer erstklassig gemeisterten Stelle, beginnt einer zu klatschen, und plotzlich klatscht der ganze Saal. Auch Sie. Warum? Social Proof. Nach dem Konzert stehen Sie an der Garderobe, um Ihren Mantel abzuholen. Sie beobachten, wie die Leute vor Ihnen eine Munze auf einen Teller legen, obwohl die Garderobe offiziell im Kartenpreis inbegriffen ist. Was tun Sie? Sie werden wohl auch ein Trinkgeld hinterlassen. Social Proof (manchmal unscharf als Herdentrieb bezeichnet) sagt: Ich verhalte mich richtig, wenn ich mich so wie die anderen verhalte. Anders ausgedruckt: Je mehr Menschen eine Idee richtig finden, desto korrekter ist diese Idee – was naturlich absurd ist.

Social Proof ist das Ubel hinter Blasen und Panik an der Borse. Man findet Social Proof in der Kleidermode, bei Managementtechniken, im Freizeitverhalten, in der Religion und bei Diaten. Social Proof kann ganze Kulturen lahmlegen – denken Sie an den kollektiven Selbstmord bei Sekten.

Das simple Solomon-Asch-Experiment – zum ersten Mal 1950 durchgefuhrt – zeigt, wie Gruppendruck den gesunden Menschenverstand verbiegt. Einer Versuchsperson werden Linien verschiedener Lange gezeigt. Dabei muss die Person angeben, ob eine Linie langer, gleich lang oder kurzer als eine Referenzlinie ist. Sitzt die Person allein im Raum, schatzt sie alle gezeigten Linien richtig ein, denn die Aufgabe ist wirklich einfach. Nun kommen sieben andere Leute in den Raum – alles Schauspieler, was die Versuchsperson aber nicht wei?. Einer nach dem anderen gibt eine falsche Antwort, sagt »kleiner«, obwohl die Linie offensichtlich gro?er als die Referenzlinie ist. Dann kommt die Versuchsperson dran. In 30 % der Falle wird sie dieselbe falsche Antwort liefern wie die Personen vorher – aus reinem Gruppendruck.

Warum ticken wir so? Weil dieses Verhalten sich in unserer evolutionaren Vergangenheit als gute Uberlebensstrategie erwiesen hat. Angenommen, Sie sind vor 50.000 Jahren mit Ihren Jager-und-Sammler- Freunden in der Serengeti unterwegs, und plotzlich rennen Ihre Kumpels davon. Was tun Sie? Bleiben Sie stehen, kratzen sich die Stirn und uberlegen, ob das, was Sie sehen, nun wirklich ein Lowe ist oder nicht vielmehr ein harmloses Tier, das nur wie ein Lowe aussieht? Nein, Sie spurten Ihren Freunden hinterher, so schnell Sie konnen. Reflektieren konnen Sie nachher – wenn Sie in Sicherheit sind. Wer anders gehandelt hat, ist aus dem Genpool verschwunden. Dieses Verhaltensmuster ist so tief in uns verankert, dass wir es noch heute anwenden, auch dort, wo es keinen Uberlebensvorteil bringt. Ein einziger Fall kommt mir in den Sinn, wo Social Proof von Nutzen ist: Angenommen, Sie haben Karten fur ein Fu?ballspiel in einer fremden Stadt und wissen nicht, wo das Stadion ist. Dann macht es Sinn, den Leuten hinterherzulaufen, die wie Fu?ballfans aussehen.

Comedy und Talkshows nutzen Social Proof, indem sie an strategischen Stellen Gelachter einspielen, was die Zuschauer nachweislich zum eigenen Lachen anstiftet. Einer der eindrucklichsten Falle von Social Proof ist die »Wollt ihr den totalen Krieg?«-Rede von Joseph Goebbels von 1943. Es gibt ein Video davon auf YouTube. Einzeln und anonym befragt hatte wohl kein Mensch diesem absurden Vorschlag zugestimmt.

Die Werbung nutzt unsere Schwache fur Social Proof systematisch aus. Sie funktioniert am besten, wo die Situation unubersichtlich ist (nicht uberblickbare Anzahl von Automarken, Reinigungsmitteln, Schonheitsprodukten etc. ohne offensichtliche Vor- und Nachteile) und wo Menschen »wie du und ich« vorkommen. Im Fernsehen werden Sie daher vergeblich eine afrikanische Hausfrau finden, die ein Putzmittel anpreist.

Seien Sie skeptisch, wann immer eine Firma behauptet, ihr Produkt sei das »meistverkaufte«. Ein absurdes Argument, denn warum soll das Produkt besser sein, nur weil es das »meistverkaufte« ist? Der Schriftsteller Somerset Maugham druckt es so aus: Wenn 50 Millionen Menschen eine Dummheit behaupten, wird sie deswegen nicht zu Wahrheit.

PS vom letzten Kapitel: Zarin Katharina II. von Russland hatte ca. 40 Liebhaber, 20 sind namentlich bekannt.

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