Wohltatigkeitsveranstaltungen, gastierte in Kinderkrankenhausern und Wohlfahrtseinrichtungen – er war bereit, fur jeden an jedem Ort und zu jeder
Zeit aufzutreten. Das Publikum war sein Herzblut. Er brauchte seinen Applaus und seine Liebe. Er war voll und ganz dem Showgeschaft ergeben. Bedeutende Dinge ereigneten sich in der ganzen Welt, aber fur Toby waren sie lediglich Mahlgut fur seine Nummer.
Als im Jahre 1951 General MacArthur entlassen wurde und den Ausspruch tat: »Alte Soldaten sterben nicht – sie schwinden dahin«, sagte Toby: »Himmel – wir mussen dieselbe Wascherei haben.«
Als im Jahre 1952 die Wasserstoffbombe getestet wurde, war Tobys Kommentar: »Das ist gar nichts. Sie hatten meine Premiere in Atlanta erleben sollen.«
Als Nixon seine »Checkers«-Rede hielt, meinte Toby: »Ich wurde ihn sofort wahlen. Nicht Nixon – Checkers.«
Ike war Prasident, und Stalin starb, und Jung-Amerika trug Davy-Crockett-Mutzen, und es gab einen Bus- Boykott in Montgomery.
Und alles wurde in Tobys Nummer verarbeitet.
Wenn er seine scharfen Witze mit der gro?augigen Miene verbluffter Unschuld zum Besten gab, brullten die Zuhorer und lachten, bis ihnen die Tranen kamen. Sein Publikum liebte ihn, und er lebte von dieser Liebe, weidete sich daran und stieg auf der Erfolgsleiter immer hoher.
Aber eine tiefe, ziellose Rastlosigkeit beherrschte ihn. Er suchte immer etwas anderes, etwas Neues. Er konnte sich nie richtig amusieren, weil er stets furchtete, er konnte irgendwo eine bessere Party versaumen oder vor einem besseren Publikum auftreten oder ein hubscheres Madchen kussen. Er wechselte die Madchen so haufig wie seine Hemden. Nach seiner Erfahrung mit Millie furchtete er den
Gedanken, an irgendjemanden gekettet zu werden. Er erinnerte sich an die Zeit, als er auf »Klo-Tour« gewesen war und die Stars mit den prachtigen Limousinen und den schonen Frauen beneidet hatte. Jetzt hatte er es geschafft, und er war ebenso einsam, wie er damals gewesen war. Wer hatte doch gesagt: »Wenn du dorthin kommst, gibt es kein Dort…«
Es war ihm bestimmt, Nummer eins zu werden, und er wusste, dass er es schaffen wurde. Nur eines bedauerte er: dass seine Mutter es nicht mehr miterlebte, wie sich ihre Voraussage bestatigte.
Die einzige Erinnerung an sie war sein Vater.
Das Altersheim in Detroit befand sich in einem hasslichen Backsteinbau aus dem vergangenen Jahrhundert. Seine Mauern bargen den su?lichen Gestank nach Alter und Tod. Toby Temples Vater hatte einen Schlaganfall erlitten und vegetierte nur noch dahin, ein Mann mit teilnahmslosen, apathischen Augen, und Toby stand in der schmutzig-grun ausgelegten Halle des Heimes, das jetzt seinen Vater beherbergte. Die Schwestern und Insassen drangten sich bewundernd um ihn.
»Ich sah Sie letzte Woche in der Harold-Hobson-Show, Toby. Sie waren einfach wunderbar! Wie kommen Sie nur auf all die klugen Sachen, die Sie sagen?«
»Meine Texter kommen darauf«, sagte Toby, und sie lachten uber seine Bescheidenheit.
Ein Pfleger kam den Gang herunter und schob einen Rollstuhl vor sich her: Tobys Vater. Er war frisch rasiert und hatte das Haar ordentlich gekammt. Er hatte sich zu Ehren des Besuches seines Sohnes einen Anzug anziehen lassen.
»Hallo, das ist ja Beau Brummel!« rief Toby, und jeder sah bewundernd Tobys Vater an und wunschte sich, auch einen so wundervollen, beruhmten Sohn wie Toby zu haben, der ihn besuchen kame.
Toby trat zu seinem Vater, beugte sich zu ihm hinunter und umarmte ihn. »Wem willst du etwas vormachen?« fragte Toby. Er zeigte auf den Pfleger. »Du solltest ihn herumschieben, Pop.«
Alle lachten, behielten die geistreiche Bemerkung im Gedachtnis, um ihren* Freunden berichten zu konnen, was sie von Toby Temple gehort hatten. Neulich war ich mit Toby Temple zusammen, und er sagte… Ich stand so dicht neben ihm wie jetzt neben dir, und ich horte ihn…
Er stand herum und unterhielt sie, zog sie auf, und sie waren geradezu verruckt danach. Er hanselte sie mit ihrem Liebesleben und ihrer Gesundheit und ihren Kindern, und eine kleine Weile konnten sie uber ihre eigenen Probleme lachen. Schlie?lich sagte Toby klaglich: »Ich verlasse Sie ungern, Sie sind das bestaussehende Publikum, das ich seit Jahren gehabt habe« – sie wurden sich auch daran bestimmt erinnern -, »aber ich muss auch ein wenig mit Pop allein sein. Er hat versprochen, mir ein paar neue Witze zu liefern.«
Sie schmunzelten und lachten und bewunderten ihn.
Toby war allein mit seinem Vater in dem kleinen Besuchszimmer. Selbst dieser Raum roch nach Tod. Doch andererseits: Dazu war dieses Heim da, nicht wahr? dachte Toby. Tod? Es war voll von verbrauchten Muttern und Vatern, die im Weg waren. Sie waren aus kleinen Schlafkammern herausgeholt worden, aus den Esszimmern und Wohnzimmern, wo sie nach und nach zu einer Last geworden waren, wenn man Gaste hatte. Sie waren von ihren Kindern, von Nichten und Neffen in dieses Altenheim gebracht worden. Glaube mir, es ist zu deinem Besten, Vater, Mutter, Onkel George, Tante Bess. Du wirst mit einer Menge sehr netter Leute deines Alters zusammen sein. Du wirst die ganze Zeit Gesellschaft haben. Verstehst du, was ich meine? Was sie wirklich meinten, war: Ich schicke dich dahin, damit du wie all diese anderen nutzlosen Leute stirbst. Ich habe es satt, dich am Tisch dummes Zeug reden und dieselben Geschichten x-mal wiederholen zu horen und die Kinder plagen zu lassen. Ich habe es satt, dass du ins Bett machst. Die Eskimos waren in dieser Hinsicht viel ehrlicher. Die schickten ihre Alten in die eisige Polarnacht hinaus und uberlie?en sie dort ihrem Schicksal.
»Ich freue mich sehr, dass du gekommen bist«, sagte Tobys Vater. Er sprach stockend. »Ich wollte mit dir reden. Ich habe eine gute Nachricht fur dich. Der alte Art Riley von nebenan ist gestern gestorben.«
Toby starrte ihn an. »Das nennst du eine gute Nachricht?«
»Es bedeutet, dass ich sein Zimmer bekommen kann«, erklarte sein Vater. »Es ist ein Einzelzimmer.«
Und darum drehte es sich im Alter: Uberleben, sich an die paar leiblichen Genusse klammern, die noch ubriggeblieben waren. Toby hatte hier Leute gesehen, fur die der Tod eine Erlosung gewesen ware. Aber sie klammerten sich ans Leben. Alles Gute zum Geburtstag, Mr. Dorset. Was empfinden Sie, da Sie heute funfundneunzig Jahre alt geworden sind?… Wenn ich an die andere Moglichkeit denke, fuhle ich mich gro?artig.
Schlie?lich war es Zeit fur Toby zu gehen.
»Ich besuche dich wieder, sobald ich kann«, versprach Toby. Er gab seinem Vater etwas Bargeld und verteilte gro?zugig Trinkgelder an die Schwestern und Pfleger. »Sie kummern sich gut um ihn, ja? Ich brauche den alten Herrn fur meine Nummer.«
Und fort war er. In dem Augenblick, als er durch die Tur trat, hatte er sie alle vergessen. Er dachte an seinen Auftritt an diesem Abend.
Wochenlang sprachen sie im Heim uber nichts anderes als uber seinen Besuch.
17.
Mit siebzehn war Josephine Czinski das schonste Madchen in Odessa. Sie hatte einen goldbraunen Teint, ihr langes schwarzes Haar zeigte im Sonnenlicht einen Anflug von Kastanienbraun, und ihre tiefbraunen Augen waren mit Goldtupfen gesprenkelt. Sie hatte eine phantastische Figur mit einem vollen, runden Busen, einer schlanken Taille, sanft geschwellten Huften und langen, wohlgeformten Beinen.
Josephine verkehrte nicht mehr mit den Ol-Leuten. Sie ging jetzt mit den anderen aus. Nach der Schule arbeitete sie als Kellnerin im Golden Derrick, einem beliebten Drive-in-Restaurant. Mary Lou und Cissy Top-ping kamen mit ihren Freunden dorthin. Josephine begru?te sie immer hoflich, aber es war eben doch alles anders als fruher.
Josephine war erfullt von einer Rastlosigkeit, einer Sehnsucht nach etwas, das sie noch nicht kennengelernt hatte. Es war namenlos, aber es existierte. Sie wollte weg aus dieser hasslichen Stadt, wusste aber nicht, wohin sie gehen oder was sie tun wollte. Wenn sie zu lange daruber nachdachte, bekam sie Kopfschmerzen.
Sie ging mit einem Dutzend Jungen und Mannern aus. Ihrer Mutter gefiel Warren Hoffmann am besten.
»Warren ware der richtige Mann fur dich. Er geht regelma?ig in die Kirche, hat als Klempner ein gutes Einkommen und ist verruckt nach dir.«