Und das war der Augenblick, in dem Noelle wirklich erkannte, dass sie die Partie gewonnen hatte. Schach. Schachmatt.

Jetzt sa? Napoleon Chotas an dem langen Verteidigertisch und dachte an den bevorstehenden Kampf. Chotas ware es viel lieber gewesen, wenn der Prozess in Ioannina statt in Athen stattfande, doch das war unmoglich, da nach griechischem Recht ein Prozess nicht dort stattfinden durfte, wo das Verbrechen begangen worden war. Chotas hatte nicht den geringsten Zweifel an Noelle Pages Schuld, aber das war fur ihn unwichtig, denn er war wie alle Strafverteidiger der Meinung, dass die Schuld oder die Unschuld eines Klienten unwesentlich war. Jeder hatte Anspruch auf einen fairen Prozess.

Bei dem Prozess, der jetzt beginnen sollte, war es jedoch etwas anders. Zum ersten Mal in seinem Berufsleben hatte Napoleon Chotas es sich erlaubt, sich an einen Klienten gefuhlsma?ig zu binden. Er liebte Noelle Page. Auf Veranlassung von Constantin Demiris hatte er sie aufgesucht, und obwohl Chotas das Image von Noelle Page bekannt war, traf ihn die Wirklichkeit vollig unvorbereitet. Sie hatte ihn empfangen, als ob er ein Gast ware, der ihr einen Besuch machte. Noelle hatte weder Nervositat noch Furcht gezeigt, und zunachst hatte Chotas dies auf ihr mangelhaftes Verstandnis ihrer verzweifelten Situation zuruckgefuhrt. Das Gegenteil hatte sich jedoch als richtig erwiesen. Noelle war die intelligenteste und faszinierendste Frau, der er je begegnet war, und ganz gewiss auch die schonste. Chotas war, wenn seine Erscheinung das auch verleugnete, ein Frauenkenner, und er zollte Noelles au?ergewohnlichen Gaben seine Anerkennung. Fur Chotas war es stets ein Vergnugen, sich mit ihr zu unterhalten. Sie diskutierten uber Recht und Kunst und Verbrechen und Geschichte, und sie uberraschte ihn standig von neuem. Er konnte Noelles Liaison mit einem Mann wie Constantin Demiris vollig verstehen, doch ihre enge Beziehung zu Larry Douglas war ihm ratselhaft. Er war der Meinung, dass sie Douglas weit uberlegen war, und dennoch vermutete Chotas, dass es eine unerklarliche Affinitat gebe, die Menschen veranlasste, sich in die unwahrscheinlichsten Partner zu verlieben. Brillante Wissenschaftler heirateten hohlkopfige Blondinen, gro?e Schriftsteller heirateten dummliche Schauspielerinnen, intelligente Staatsmanner heirateten Schlampen.

Chotas erinnerte sich an seine Begegnung mit Demiris. Gesellschaftlich kannten sie sich seit Jahren, aber die Anwaltsfirma von Chotas hatte nie fur ihn gearbeitet. Demiris hatte Chotas in sein Haus in Varkisa gebeten. Ohne jede Umschweife hatte er das Gesprach begonnen. »Wie Sie vielleicht wissen«, hatte er gesagt, »habe ich an diesem Prozess ein tiefes Interesse. Mademoiselle Page ist die einzige Frau in meinem Leben, die ich wirklich geliebt habe.« Die beiden Manner hatten sechs Stunden lang miteinander gesprochen, jeden Aspekt des Falles diskutiert, jede mogliche Strategie erwogen. Es wurde beschlossen, dass Noelle auf »nicht schuldig« pladieren sollte. Als Chotas aufstand, um zu gehen, hatten sie ein Geschaft abgeschlossen. Fur die Ubernahme von Noelles Verteidigung sollte Napoleon Chotas das Doppelte seines ublichen Honorars erhalten, und seine Firma sollte zum ersten juristischen Berater von Constantin Demiris' weltumspannendem Imperium werden, eine Rosine im Kuchen, die ungezahlte Millionen wert war.

»Wie Sie es machen«, hatte Demiris zum Abschluss grimmig gesagt, »ist mir gleichgultig. Nur sorgen Sie dafur, dass nichts schief geht.«

Chotas hatte angenommen. Und dann hatte er sich ironischerweise in Noelle Page verliebt. Chotas war zwar verheiratet, hatte sich jedoch immer eine Reihe von Geliebten gehalten, und als er jetzt die einzige Frau fand, mit der er allein hatte glucklich sein konnen, war sie unerreichbar fur ihn. Er sah Noelle an, die schon und gelassen auf der Anklagebank sa?. Sie trug ein einfaches schwarzes Wollkostum mit einer schlichten, hochgeschlossenen wei?en Bluse und sah aus wie eine Prinzessin aus einem Marchen.

Noelle drehte sich um, bemerkte, dass Chotas sie ansah, und erwiderte seinen Blick mit einem warmen Lacheln. Er lachelte zuruck, war aber in Gedanken schon bei der schwierigen Aufgabe, die vor ihm lag. Der Gerichtsschreiber kundigte das Gericht an.

Die Zuschauer erhoben sich, als zwei Richter in Zivil eintraten und ihre Platze einnahmen. Der dritte Richter, Prasident des Gerichtshofes, folgte ihnen und setzte sich auf den mittleren Sessel. Er verkundete: »I sinethriasis archete.«

Der Prozess hatte begonnen.

Peter Demonides, der Staatsanwalt, erhob sich nervos, um seine Eroffnungsansprache an die Geschworenen zu halten. Demonides war ein erfahrener und fahiger Anklagevertreter, aber er hatte schon fruher Napoleon Chotas gegenubergestanden – viele Male sogar -, und das Ergebnis war unveranderlich stets das gleiche gewesen. Der alte Schuft war unschlagbar. Fast alle Strafverteidiger schuchtern gegnerische Zeugen ein, aber Chotas umwarb sie. Er hegte sie und liebte sie, und noch ehe er mit ihnen zu Ende war, widersprachen sie sich selbst in allen Punkten und versuchten, ihm zu helfen. Er hatte es im Griff, aus harten Beweisen Vermutungen zu machen und aus Vermutungen reine Phantasiegebilde. Chotas besa? den brillantesten Juristenverstand und die gro?ten Kenntnisse der Jurisprudenz, denen Demonides je begegnet war, doch das war nicht seine Starke. Seine Starke war seine Menschenkenntnis. Ein Reporter hatte ihn einmal gefragt, wo er so viel uber die menschliche Natur gelernt hatte.

»Von der menschlichen Natur verstehe ich uberhaupt nichts«, hatte Chotas geantwortet. »Ich kenne mich nur mit den

Menschen aus.« Und diese Bemerkung war oft und gern zitiert worden.

Zu allem anderen war dies ein fur Chotas geradezu ma?geschneiderter Prozess: Er strotzte von Glanz, Leidenschaft und Mord. Von einem war Demonides uberzeugt: Napoleon Chotas wurde sich durch nichts abbringen lassen, den Prozess zu gewinnen. Aber das galt auch fur Demonides. Er wusste, dass der Fall auf starken Beweisen gegen die Angeklagten fu?te, und wenn es Chotas auch gelange, die Geschworenen zu betoren, uber die belastenden Beweise hinwegzugehen, so konnte er die drei Richter des Gerichtshofes doch nicht beirren. Mit Entschlossenheit, gemischt allerdings auch mit Besorgnis, begann der Anklagevertreter mit seiner Eroffnungsansprache.

Mit gewandten breiten Strichen umriss Demonides die Anklage. Aufgrund des Gesetzes war der Obmann der Geschworenen ein Jurist, darum wandte er sich mit allen juristischen Argumenten an ihn und richtete sich in den allgemeinen Punkten an die ubrigen Geschworenen.

»Ehe dieser Prozess abgeschlossen ist, wird die Anklage beweisen, dass diese beiden Personen sich zu der kaltblutigen Ermordung von Catherine Douglas verschworen haben, weil sie ihren Planen im Wege stand. Ihr einziges Verbrechen war, dass sie ihren Ehemann liebte, und dafur wurde sie getotet. Die beiden Angeklagten hielten sich am Ort der Tat auf. Sie sind die einzigen, die ein Motiv und eine Gelegenheit zur Tat hatten. Wir werden uber jeden Schatten eines Zweifels hinaus beweisen ...«

Demonides fasste sich in seiner Ansprache kurz und sachlich, und dann waren die Verteidiger der Angeklagten an der Reihe.

Die Zuschauer beobachteten Naooleon Chotas, wie er ungeschickt seine Papiere zusammenraffte und sich fur seine Eroffnungsansprache vorbereitete. Langsam naherte er sich der Geschworenenbank, sein Auftreten war zogernd und umstandlich, so, als ob er von seiner Umgebung eingeschuchtert ware.

William Fraser, der ihn beobachtete, konnte seine Geschicklichkeit nur bewundern. Wenn er bei einer Party in der Britischen Botschaft nicht einen Abend mit Chotas verbracht hatte, ware er durch dessen Auftreten getauscht worden. Er konnte sehen, dass die Geschworenen sich interessiert vorbeugten, um sich nicht eines der Worte entgehen zu lassen, die leise von Chotas' Lippen kamen.

»Der Frau, die hier angeklagt ist«, sagte Chotas zu den Geschworenen, »wird nicht wegen Mordes der Prozess gemacht. Es gab keinen Mord. Wenn es einen Mord gegeben hatte, bin ich uberzeugt, dass mein brillanter Kollege von der Anklage so gutig gewesen ware, uns die Leiche des Opfers vorzuweisen. Er hat es nicht getan, deshalb mussen wir annehmen, dass es keine Leiche gibt. Und deshalb auch keinen Mord.« Er unterbrach sich, um sich auf dem Kopf zu kratzen, und blickte vor sich auf den Boden, als versuche er sich zu erinnern, wo er stehen geblieben war. Er nickte zu sich selbst und sah dann zu den Geschworenen auf. »Nein, meine Herren, darum geht es in diesem Prozess nicht. Meiner Klientin wird der Prozess gemacht, weil sie gegen ein anderes Gesetz verstie?, ein ungeschriebenes Gesetz, das besagt, du sollst nicht mit dem Mann einer anderen Unzucht treiben. Die Presse hat sie schon dieser Anklage fur schuldig befunden, und die Offentlichkeit hat sie fur schuldig befunden, und jetzt fordern sie ihre Bestrafung.«

Chotas hielt inne, um ein gro?es wei?es Taschentuch zu ziehen, starrte einen Augenblick darauf, als ob er sich wunderte, wie es dort hingeraten sei, schneuzte sich und steckte das Tuch wieder in die Tasche. »Sehr gut. Wenn sie ein Gesetz gebrochen hat, dann wollen wir sie bestrafen. Aber nicht wegen Mordes, meine Herren. Nicht wegen eines Mordes, den sie nicht begangen hat. Noelle Page hat sich schuldig gemacht, die Geliebte eines« – er machte eine delikate Pause – »eines prominenten Mannes zu sein. Sein Name ist ein Geheimnis, aber wenn Sie

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