»Sie sind Rechtsanwalt, Herr Minos?«

»Jawohl.«

»Und sicher ein sehr guter, davon bin ich uberzeugt. Es uberrascht mich jedoch, dass sich unsere beruflichen Wege nicht schon fruher einmal gekreuzt haben. Die Anwaltsfirma, der ich angehore, befasst sich mit vielen Zweigen des Rechts. Vielleicht sind Sie einmal mit einem meiner Partner bei irgendwelchen unternehmensrechtlichen Verhandlungen zusammengekommen ?«

»Nein. Ich befasse mich nicht mit Unternehmensrecht.«

»Ich bitte um Entschuldigung. Dann vielleicht in einer Steuersache.«

»Ich bin kein Steueranwalt.«

»Oh.« Chotas zeigte sich ratlos und unbehaglich, als ob er sich selbst zum Narren hielte. »Vermogensanlagen?«

»Nein.« Minos begann, sich an der Blamage des Verteidigers zu weiden. Sein Gesicht nahm einen selbstgefalligen Ausdruck an, und Peter Demonides wurde unruhig. Wie oft hatte er

diesen Ausdruck schon auf den Gesichtern von Zeugen gesehen, die Napoleon Chotas schlachtreif machte.

Chotas kratzte sich verwirrt den Kopf. »Ich gebe auf«, sagte er treuherzig. »Worauf haben Sie sich denn spezialisiert?«

»Scheidungsfalle.« Die Antwort war ein mit Widerhaken versehener Pfeil, der ins Schwarze traf.

Ein reuiger Ausdruck trat auf Chotas' Gesicht. Er schuttelte den Kopf. »Ich hatte wissen sollen, dass mein guter Freund Demonides mit einem Experten aufwarten wurde.«

»Vielen Dank.« Alexis Minos gab sich keine Muhe mehr, seine Selbstgefalligkeit zu verbergen. Nicht jedem Zeugen wurde die Chance geboten, sich gegenuber Chotas durchzusetzen, und in Gedanken schmuckte Minos schon die Geschichte aus, die er an diesem Abend in seinem Klub erzahlen wollte.

»Ich habe nie einen Scheidungsfall bearbeitet«, gestand Chotas mit verlegenem Ton, »darum muss ich mich wohl Ihrer Sachkenntnis beugen.«

Der alte Anwalt fiel vollig in sich zusammen. Die Geschichte wurde sogar noch besser werden, als Minos erwartet hatte.

»Ich nehme an, Sie sind sehr beschaftigt«, sagte Chotas.

»Ich habe so viele Falle, wie ich erledigen kann.«

»So viele, wie Sie erledigen konnen?« Offene Bewunderung lag jetzt in Chotas' Stimme.

»Manchmal noch mehr.«

Peter Demonides blickte auf den Boden, war unfahig, den Vorgang weiter zu beobachten.

Chotas' Stimme nahm einen ehrfurchtigen Klang an. »Ich mochte mich nicht in Ihre personlichen Angelegenheiten einmischen, Herr Minos, aber aus beruflicher Neugier wusste ich gern, wie viele Klienten im Lauf eines Jahres in Ihre Kanzlei kommen.«

»Das lasst sich sehr schwer sagen.«

»Aber ich bitte Sie, Herr Minos. Seien Sie nicht bescheiden. Schatzen Sie doch.«

»Nun, ich wurde sagen, zweihundert. Das ist aber eine grobe Schatzung, verstehen Sie.«

»Zweihundert Scheidungen im Jahr! Die schriftlichen Arbeiten allein mussen uberwaltigend sein.«

»Nun, es sind nicht wirklich zweihundert Scheidungen.«

Chotas rieb sich uberrascht das Kinn. »Wie?«

»Es sind nicht alles Scheidungen.«

Ein verwirrter Ausdruck trat auf Chotas' Gesicht. »Sagten Sie nicht, dass Sie nur Scheidungsfalle bearbeiten?«

»Ja, aber« Minos Stimme klang unsicher.

»Was aber?« fragte Chotas verwundert.

»Also, ich wollte sagen, es kommt nicht in allen Fallen zur Scheidung.«

»Aber um eine Scheidung zu erreichen, suchen Ihre Klienten Sie doch auf?«

»Ja, aber manche – also – aus dem einen oder andern Grund geben sie ihre Absicht auf.«

Chotas nickte plotzlich verstandnisvoll. »Ah, Sie meinen, es kommt zu einer Versohnung oder etwas Derartigem?«

»Genau das«, stimmte Minos zu.

»Sie wollen damit also sagen, dass – nun, wie viel? – zehn Prozent sich nicht zu einem Scheidungsprozess durchringen?«

Minos rutschte unbehaglich auf seinem Platz hin und her. »Der Prozentsatz ist etwas hoher.«

»Um wie viel hoher? Funfzehn Prozent? Zwanzig?«

»Naher an vierzig.«

Napoleon Chotas starrte ihn verblufft an. »Herr Minos, wollen Sie damit sagen, dass nahezu die Halfte der Leute, die Sie aufsuchen, sich nicht zu einer Scheidung entschlie?en?«

»Ja.«

Winzige Schwei?perlen traten Minos auf die Stirn. Er drehte sich nach Peter Demonides um, aber Demonides konzentrierte sich fest auf eine Ritze im Fu?boden.

»Nun, ich bin sicher, es ist nicht auf mangelndes Vertrauen in

Ihre Fahigkeiten zuruckzufuhren«, sagte Chotas.

»Bestimmt nicht«, antwortete Minos abweisend. »Sie kommen sehr oft auf einen dummen Impuls hin zu mir. Mann und Frau haben sich gestritten und glauben, dass sie sich hassen, und wollen sich scheiden lassen, doch wenn man den Dingen auf den Grund geht, andern sie in den meisten Fallen ihre Absicht.«

Er brach jah ab, als er die volle Bedeutung seiner Worte erkannte.

»Vielen Dank«, sagte Chotas freundlich. »Sie waren mir eine gro?e Hilfe.«

Peter Demonides verhorte die Zeugin. »Ihr Name, bitte.« »Kasta. Irene Kasta.« »Frau oder Fraulein?« »Frau. Ich bin verwitwet.« »Was sind Sie von Beruf, Frau Kasta?« »Haushalterin.« »Wo arbeiten Sie?« »Bei einer reichen Familie in Rafina.«

»Das ist ein Ort am Meer, etwa hundert Kilometer nordlich von Athen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Wurden Sie bitte die beiden Angeklagten ansehen, die dort druben sitzen. Haben Sie die beiden schon jemals gesehen?«

»Jawohl. Sehr oft sogar.«

»Wurden Sie uns schildern, unter welchen Umstanden?«

»Sie wohnen in dem Haus neben der Villa, wo ich arbeite. Ich habe sie haufig am Strand gesehen. Sie waren nackt.«

Aus den Reihen der Zuschauer war ein Keuchen zu vernehmen und dann kurz eine schnelle, summende Unterhaltung. Peter Demonides blickte zu Chotas hinuber, um zu sehen, ob er Einspruch erheben wurde, doch der alte Anwalt sa? mit einem traumerischen Lacheln auf dem Gesicht an seinem Tisch. Das Lacheln machte Demonides nervoser als alles andere. Er wandte sich wieder der Zeugin zu.

»Sind Sie sicher, dass es diese beiden Personen waren, die Sie gesehen haben? Sie stehen unter Eid, wie Sie wissen.«

»Es waren die beiden, ohne jeden Zweifel.«

»Wenn sie zusammen am Strand waren, verhielten sie sich dann freundschaftlich zueinander?«

»Nun, sie benahmen sich nicht gerade wie Bruder und Schwester.«

Lachen bei den Zuschauern.

»Vielen Dank, Frau Kasta.« Demonides wandte sich an Chotas. »Ihre Zeugin.«

Napoleon Chotas nickte liebenswurdig, stand auf und schlurfte zu der stattlichen Frau im Zeugenstand.

»Wie lange arbeiten Sie schon in dieser Villa, Frau Kasta?«

»Sieben Jahre.«

»Sieben Jahre! Sie mussen sehr tuchtig sein.«

»Darauf konnen Sie sich verlassen.«

»Vielleicht konnten Sie mir eine gute Haushalterin empfehlen. Ich denke daran, mir am Strand bei Rafina ein Haus zu kaufen. Das Problem ist, dass ich ungestorte Ruhe zum Arbeiten brauche. Aber wenn ich mich recht entsinne, liegen diese Villen alle sehr dicht beieinander.«

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