Sachkenner stimmten darin uberein, dass Stavros befahigt sein mochte, einen Routinefall erfolgreich zu vertreten, dass er hier aber hoffnungslos uberfordert war.

In den Zeitungen und im Bewusstsein der Offentlichkeit war Noelle Page und Larry Douglas schon der Prozess gemacht, und sie waren schuldig gesprochen worden. Niemand zweifelte auch nur einen Augenblick an ihrer Schuld. Professionelle Spieler wetteten drei?ig zu eins, dass die Angeklagten verurteilt werden wurden. Zu dem Prozess trat also zusatzlich die Spannung, zu beobachten, wie der prominenteste Strafverteidiger Europas seine magische Kraft gegen unuberwindliche Hindernisse einsetzen wurde.

Als bekannt gegeben wurde, dass Chotas Noelle Page, die Frau, die Constantin Demiris betrogen und der Lacherlichkeit preisgegeben hatte, verteidigen wurde, hatte die Nachricht gro?es Aufsehen erregt. Wie machtig Chotas auch war, Constantin Demiris war hundertmal machtiger, und niemand konnte sich vorstellen, was Chotas dazu getrieben haben mochte, sich gegen Constantin Demiris zu stellen. Die Wahrheit war sogar noch interessanter als die phantastischsten Geruchte.

Der Anwalt hatte die Verteidigung von Noelle Page auf Demiris' personliches Ersuchen ubernommen.

Drei Monate vor Proze?beginn kam der Gefangnisdirektor in Noelles Zelle im Gefangnis in der Sankt- Nikodemus-Stra?e, um ihr zu sagen, dass Constantin Demiris um Erlaubnis gebeten habe, sie zu besuchen. Noelle hatte sich schon gefragt, wann sie von Demiris horen wurde. Seit ihrer Verhaftung hatte kein Wort von ihm sie erreicht, nur tiefes, unheilvolles Schweigen.

Noelle hatte mit Demiris lange genug zusammengelebt, um zu wissen, wie stark seine Eigenliebe war und wie weit er gehen wurde, um auch deren kleinste Verletzung zu rachen. Noelle hatte ihn gedemutigt wie kein anderer Mensch je zuvor, und er war machtig genug, um furchtbare Vergeltung zu uben. Die einzige Frage war: Wie wurde er es anfangen? Noelle war uberzeugt, dass Demiris etwas so Primitives wie die Bestechung der Geschworenen oder der Richter fur unter seiner Wurde hielt. Er wurde sich mit nichts Geringerem als einem raffinierten machiavellistischen Komplott zufrieden geben, um seine Rache zu nehmen, und Noelle hatte Nacht fur Nacht wach in ihrer Zelle gelegen und sich in Demiris' Denkweise versetzt, Uberlegung um Uberlegung wieder verworfen, genau wie er es auf der Suche nach dem vollkommenen Plan getan haben musste. Es war wie eine geistige Schachpartie mit Demiris, nur dass sie und Larry die Bauern auf dem Brett waren und dass es um Leben und Tod ging.

Wahrscheinlich wollte er sie und Larry vernichten, aber Noelle kannte besser als jeder andere die subtilen Gedankengange von Demiris. Es war also ebenfalls moglich, dass er plante, nur einen von ihnen beiden zu vernichten und den anderen leben und leiden zu lassen. Wenn Demiris dafur sorgte, dass sie beide hingerichtet wurden, hatte er zwar seine Rache, aber es ware zu schnell voruber – es wurde nichts bleiben, was er auskosten konnte. Noelle hatte sorgfaltig jede Moglichkeit durchdacht, keine denkbare Variante ubergangen, und ihr schien, dass Constantin Demiris es so arrangieren konnte, dass Larry starb und sie am Leben blieb, entweder im Gefangnis oder in seiner Gewalt, weil das die sicherste Methode war, seine Rache bis ins Unendliche zu verlangern. Zuerst wurde Noelle die Pein erleiden, den Mann zu verlieren, den sie liebte, und dann wurde sie alles das zu ertragen haben, was Demiris an ausgesuchten Qualen fur ihre Zukunft plante. Ein Teil der Befriedigung, die Demiris aus seiner Rache zoge, wurde darin bestehen, es Noelle vorher zu sagen, damit sie die Verzweiflung in vollem Umfang durchlebte.

Und deshalb uberraschte es Noelle nicht, als der Gefangnisdirektor in ihrer Zelle erschien, um ihr Demiris' Besuch anzukundigen.

Noelle war zuerst da. Sie war in das Privatburo des Gefangnisdirektors gefuhrt worden, wo man sie diskret mit einem Make-up-Koffer, den ihre Zofe gebracht hatte, allein lie?, damit sie sich auf den Besuch von Demiris vorbereiten konnte.

Noelle ignorierte die Kosmetika nebst Kamm und Burste, die auf dem Schreibtisch lagen, sondern ging zum Fenster und sah hinaus. Es war der erste Blick in die Au?enwelt seit drei Monaten, abgesehen von den fluchtigen Eindrucken, als sie am Tag der Vorverhandlung aus dem Gefangnis in der Sankt-Nikodemus-Stra?e zum Gerichtsgebaude gebracht worden war. Sie war in einem vergitterten Gefangenenwagen transportiert und dort in den Keller gefuhrt worden, von wo ein enger Fahrstuhl sie und ihre Wachter in das Obergescho? brachte. Dort fand die Verhandlung statt, ihre weitere Haft bis zum Prozess wurde verfugt, und sie war anschlie?end ins Untersuchungsgefangnis zuruckgebracht worden.

Jetzt stand Noelle am Fenster und beobachtete den Verkehr unten auf der Universitatsstra?e, Manner und Frauen und Kinder auf dem Weg nach Hause zu ihren Familien. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatte Noelle Angst. Sie machte sich keine Illusionen uber ihre Aussichten auf einen Freispruch. Sie hatte die Zeitungen gelesen und wusste, dass ihr mehr als ein Prozess bevorstand. Es wurde ein Blutbad werden, in dem sie und Larry als Opfer dargebracht wurden, um das Gewissen einer emporten Gesellschaft zu befriedigen. Die Griechen hassten sie, weil sie die Heiligkeit der Ehe verspottet hatte, beneideten sie, weil sie jung und reich und schon war, und verabscheuten sie, weil sie spurten, dass ihre Gefuhle Noelle vollig gleichgultig waren.

Fruher war Noelle mit dem Leben achtlos umgesprungen, hatte rucksichtslos Zeit vergeudet, als ob sie ewig wahren wurde. Aber jetzt hatte sich etwas in ihr geandert. Die bevorstehende Aussicht auf den Tod hatte Noelle zum ersten Mal erkennen lassen, wie sehr sie am Leben hing. In ihr lastete eine Furcht, die wie ein Krebsgeschwur wucherte, und wenn sie konnte, wurde sie einen Handel um ihr Leben abschlie?en, obwohl sie wusste, dass Demiris Wege fande, es ihr zur Holle zu machen. Damit wurde sie sich abfinden. War es erst soweit, wurde sie ihn schon irgendwie uberlisten.

Inzwischen brauchte sie seine Hilfe, um am Leben zu bleiben. Einen Vorteil hatte sie. Sie hatte den Gedanken an den Tod immer leicht genommen, so dass Demiris keine Ahnung hatte, wie viel ihr das Leben jetzt bedeutete. Wenn er es wusste, wurde er sie bestimmt sterben lassen. Noelle fragte sich wieder, was er in den vergangenen Monaten gegen sie ersonnen haben mochte, und noch wahrend sie daruber nachdachte, horte sie, wie hinter ihr die Tur geoffnet wurde, und als sie sich umdrehte, sah sie Constantin Demiris im Turrahmen stehen, und nach einem erschrockenen Blick auf ihn wusste Noelle, dass sie nichts mehr zu furchten brauchte.

Constantin Demiris war in den wenigen Monaten, seit Noelle ihn das letzte Mal gesehen hatte, um zehn Jahre gealtert. Er war hager und abgemagert, und sein Anzug hing ihm lose am Korper. Aber es waren seine Augen, die ihre Aufmerksamkeit fesselten. Es waren die Augen einer Seele, die durch die Holle gegangen war. Die Macht, die Demiris ausgestrahlt hatte, der dynamische, uberwaltigende Kern seiner Vitalitat, war verschwunden. Es war, als ob ein Lichtschalter ausgedreht worden ware, und alles, was ubrig blieb, war das blasse Nachgluhen eines vergangenen, fruher einmal vorhandenen Glanzes. Er stand da und starrte sie mit schmerzerfullten Augen an.

Den Bruchteil einer Sekunde fragte sich Noelle, ob dies nicht ein Trick sein konnte, Teil eines Plans, doch kein Mensch auf der Welt konnte ein so guter Schauspieler sein. Es war Noelle, die das lange Schweigen brach. »Es tut mir leid, Costa«, sagte sie.

Demiris nickte langsam, als ob ihn die Bewegung Muhe kostete. »Ich wollte dich toten«, sagte er mude, und es war die Stimme eines alten Mannes. »Ich hatte alles genau geplant.«

»Warum hast du es nicht getan?«

Er antwortete ruhig: »Weil du mich zuerst getotet hast. Ich habe nie vorher einen Menschen gebraucht. Wahrscheinlich habe ich nie zuvor Schmerz empfunden.«

»Costa«

»Nein. Lass mich ausreden. Ich bin kein Mann, der vergibt. Wenn ich ohne dich auskommen konnte, glaube mir, ich tate es. Aber ich kann nicht. Ich kann es nicht langer ertragen. Ich will dich wiederhaben, Noelle.«

Sie kampfte darum, nichts von ihren Empfindungen zu zeigen. »Das liegt nun wirklich nicht mehr bei mir, nicht wahr?«

»Wenn ich deine Freilassung erwirken konnte, kamst du zu mir zuruck? Fur immer?«

Fur immer. Tausend Bilder flogen an Noelles geistigem Auge vorbei. Sie wurde Larry nie wieder sehen, nie wieder beruhren, nie wieder halten. Noelle hatte keine Wahl, doch selbst wenn sie eine hatte, das Leben war su?er. Und solange sie lebte, gab es immer eine Chance. Sie blickte zu Demiris auf.

»Ja, Costa.«

Demiris blickte sie an. Sein Gesicht verriet seine Bewegung. Als er sprach, klang seine Stimme rau. »Danke«, sagte er. »Wir werden die Vergangenheit vergessen. Sie ist voruber, und nichts kann sie andern.« Seine Stimme wurde klarer. »Die Zukunft interessiert mich. Ich werde einen Anwalt fur dich engagieren.«

»Wen?«

»Napoleon Chotas.«

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