nicht mehr. Eine kostliche Warme erfullte allmahlich ihren Korper, und der Regen fuhlte sich wie

Samt auf ihrer Haut an. Sie faltete die Hande wie ein kleines Kind und begann ein Gebet zu sprechen, das sie als kleines Madchen gelernt hatte:

»Mude bin ich, geh' zur Ruh, schlie?e beide Augen zu. Vater, lass die Augen Dein uber meinem Bettchen sein.«

Ein wunderbares Glucksgefuhl erfullte sie, weil sie wusste, dass jetzt alles gut werden wurde. Sie war auf dem Weg nach Hause.

In diesem Augenblick ergriff eine gro?e Welle das Heck des Bootes, und langsam kenterte es auf dem schwarzen grundlosen See.

DRITTES BUCH

Der Prozess

Athen 1947

Funf Stunden vor Beginn des Mordprozesses gegen Noelle Page und Larry Douglas war Saal 33 im Arsakion-Gericht in Athen von Zuschauern uberfullt. Das riesige graue Gerichtsgebaude nimmt einen ganzen Hauserblock an der Universitatsstra?e und der Stada ein. Von den drei?ig Sitzungssalen in dem Gebaude sind nur drei fur Strafprozesse vorgesehen: die Sale 21, 30 und 33. Nummer 33 wurde fur diesen Prozess ausgewahlt, weil er der gro?te Saal ist. Die Gange vor Saal 33 wimmelten von Menschen, und vor den beiden Eingangen zum Saal waren Polizisten in grauen Uniformen und grauen Hemden postiert, um die Menge unter Kontrolle zu halten. Der Erfrischungsstand am Ende des Korridors hatte seine Bestande schon nach funf Minuten ausverkauft, und vor den Telefonzellen warteten lange Schlangen.

Georgios Skouri, der Polizeichef, uberwachte personlich die Sicherheitsvorkehrungen. Uberall waren Pressefotografen, und Skouri gelang es erfreulich oft, fotografiert zu werden. Eintrittskarten zum Gerichtssaal hatten Hochstpreise erzielt. Wochenlang waren die Angehorigen der griechischen Justiz von Freunden und Verwandten belagert worden. Findige, die sich Karten sichern konnten, handelten gegen sie andere Vorteile ein oder verkauften sie an Schwarzhandler, die sie zu Preisen bis funfhundert Drachmen das Stuck verschoben.

Der Mordprozess spielte sich im ublichen Rahmen ab. Sitzungssaal 33 im Obergescho? des Gerichtsgebaudes war muffig und alt, Schauplatz Tausender forensischer Schlachten, die im Lauf der Jahre hier stattgefunden hatten. Der Raum war etwa zwolf Meter breit und uber vierzig Meter lang. Die Sitzplatze waren in drei Blocken von je neun Reihen holzerner

Banke angeordnet.

An der einen Schmalseite des Saals befand sich hinter einer zwei Meter hohen Trennwand aus poliertem Mahagoni ein Podest mit hoch lehnigen Ledersesseln fur die drei versitzenden Richter. Der mittlere Sessel war fur den Gerichtsprasidenten bestimmt, und daruber hing ein quadratischer schmutziger Spiegel, der einen Teil des Gerichtssaals reflektierte.

Vor dem Podest befand sich der Zeugenstand, eine kleine Plattform mit einem fest angebrachten Lesepult, auf dessen Platte Papiere abgelegt werden konnten. Das Lesepult war mit einem vergoldeten Kruzifix verziert, Christus am Kreuz mit zwei seiner Junger neben ihm. An der Seitenwand war die Geschworenenbank, die jetzt mit zehn Geschworenen besetzt war. Links befand sich die Anklagebank, davor standen die Tische der Verteidiger.

Die Wande des Saals waren verputzt, der Fu?boden im Gegensatz zu den nackten Dielen der Gerichtssale im Erdgescho? mit Linoleum ausgelegt. Ein Dutzend elektrischer Kugellampen hing von der Decke herab. In einer hinteren Ecke ragte das Abzugsrohr einer altmodischen Heizungsanlage zur Decke auf. Ein Teil des Saals war fur die Presse reserviert, und unter anderen waren Korrespondenten von Reuters, United Press, International News Service, Shsin Hau Agency, Agence France Press und TASS anwesend.

Die Umstande dieses Mordprozesses waren an sich schon sensationell, aber es waren auch so viele beruhmte Personen anwesend, dass die aufgeregten Zuschauer nicht wussten, wohin sie zuerst blicken sollten. Es war wie in einem Zirkus mit drei Manegen. In der ersten Bankreihe sa? Philippe Sorel, der gro?e Star, von dem das Gerucht ging, ein fruherer Liebhaber von Noelle Page zu sein. Sorel hatte auf dem Weg in den Gerichtssaal eine Kamera zerschlagen und sich eisern geweigert, mit den Presseleuten zu sprechen. Jetzt sa? er in sich zuruckgezogen und schweigend auf seinem Platz, von einer unsichtbaren Mauer umgeben. Eine Reihe hinter Sorel sa? Armand Gautier. Der hoch gewachsene, dustere Regisseur lie? seinen Blick standig durch den Gerichtssaal schweifen, als ob er sich in Gedanken Notizen fur seinen nachsten Film machte. In der Nahe von Gautier sa? Israel Katz, der beruhmte franzosische Chirurg und Widerstandskampfer.

Zwei Platze von ihm entfernt sa? William Fraser, personlicher Referent des Prasidenten der Vereinigten Staaten. Neben Fraser war ein Platz reserviert, und wie ein Steppenbrand fegte das Gerucht durch den Gerichtssaal, dass Constantin Demiris kommen werde.

Wohin der Zuschauer auch seinen Blick wandte, er fand ein bekanntes Gesicht: einen Politiker, einen Sanger, einen Bildhauer, einen international beruhmten Autor. Doch wenn auch der Zuschauerraum in dieser Arena des Rechts mit Beruhmtheiten besetzt war, der Hauptpunkt des Interesses befand sich im Mittelring.

Auf der einen Seite der Anklagebank sa? Noelle Page, unvergleichlich schon, die honigfarbene Haut etwas blasser als ublich, und gekleidet, als hatte sie gerade das Atelier von Madame Chanel verlassen. Noelle hatte etwas Konigliches an sich, eine noble Ausstrahlung, die die Dramatik dessen, was ihr widerfuhr, erhohte. Es schurte die Erregung der Zuschauer und verstarkte ihren Blutdurst.

Ein amerikanisches Nachrichtenmagazin schrieb daruber: Die Empfindungen, die Noelle Page von der Menge aus entgegenstromten, die gekommen war, um Zeuge bei ihrem Prozess zu sein, waren so stark, dass sie im Gerichtssaal fast physisch spurbar wurden. Es war kein Gefuhl der Sympathie oder der Feindschaft, es war einfach das Gefuhl der Erwartung. Die Frau, der vom Staat wegen eines Mordes der Prozess gemacht wurde, war eine Superfrau, eine Gottin auf einem goldenen Piedestal, die hoch uber ihnen stand, und sie waren da, um zuzusehen, wie ihr Idol auf ihre eigene Ebene hinabgezerrt und vernichtet wurde. Das Gefuhl im Gerichtssaal muss das gleiche gewesen sein wie das in den Herzen der Bauern, die zusahen, wie Marie Antoinette auf dem Henkerskarren ihrem Untergang entgegenfuhr.

Noelle Page war nicht die einzige Nummer in diesem RechtsZirkus. Auf der anderen Seite der Anklagebank sa?, von gluhendem Zorn erfullt, Larry Douglas. Sein anziehendes Gesicht war bleich, und er hatte Gewicht verloren, aber das trug nur dazu bei, seine gemei?elten Zuge hervorzuheben, und viele der Frauen im Gerichtssaal verspurten den Drang, ihn in die Arme zu schlie?en und auf die eine oder andere Weise zu trosten. Seit Larry verhaftet worden war, hatte er Hunderte von Briefen von Frauen aus allen Teilen der Welt, Dutzende von Geschenken und Heiratsantragen erhalten.

Der dritte Mann in dem Zirkus war Napoleon Chotas, ein Mann, der in Griechenland ebenso bekannt war wie Noelle Page. Napoleon Chotas war einer der anerkannt gro?ten Strafverteidiger der Welt. Er hatte Klienten verteidigt, die von der Unterschlagung bezichtigten Regierungschefs bis zu Mordern reichten, die die Polizei auf frischer Tat ertappt hatte, und nie hatte er einen wichtigen Prozess verloren. Chotas war schlank und sah ausgemergelt aus, und er sa? im Gerichtssaal und beobachtete das Publikum mit den gro?en traurigen Augen eines Bluthunds in einem verwusteten Gesicht. Wenn Chotas sich an die Geschworenen wandte, sprach er langsam und zogernd und hatte gro?e Schwierigkeiten, sich auszudrucken. Manchmal kam er in eine so peinliche Verlegenheit, dass einer der Geschworenen hilfreich mit dem Wort herausplatzte, nach dem Napoleon Chotas muhsam suchte, und wenn das geschah, erfullte eine solche Erleichterung und unaussprechliche Dankbarkeit das Gesicht des Anwalts, dass samtliche Geschworenen von einer Welle der Zuneigung fur diesen Mann ergriffen wurden. Au?erhalb des Gerichtssaals war Chotas ein treffsicherer, sarkastischer Redner mit vollkommener Beherrschung von Sprache und Syntax. Er sprach sieben Sprachen flie?end, und wenn sein Terminplan es erlaubte, hielt er uberall in der Welt Vortrage vor Juristen.

Dicht neben Chotas sa? auf der Verteidigerbank Frederick Stavros, der Verteidiger von Larry Douglas.

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