DRITTES BUCH
15
PHILADELPHIA
Dienstag, 7. Oktober, 16 Uhr
Es wurde Zeit fur Charles Stanhope junior. Die anderen waren Fremde gewesen, Charles dagegen war Tracys ehemaliger Liebhaber und der Vater ihres ungeborenen Kindes; er hatte ihnenbeiden den Rucken gekehrt.
Ernestine und AIbrachten Tracy zum New Orleans International Airport.
«Du wirst mir fehlen«, sagte Ernestine.»Was du hier in dieser Stadt gemacht hast — also, da setzt man sich glatt auf den Arsch. Man sollte dich zur Volksburgermeisterin wahlen.«
«Was tust du denn in Philly?«fragte AI.
Tracy erzahlte denbeiden die halbe Wahrheit.»Ich fange wieder mit meinem alten Jobbei derBank an.«
Ernestine und AI tauschten einenbedeutungsvollenBlick.»Wissen die, da? du… ah… da? du kommst?«
«Nein. Aber der stellvertretende Direktor mag mich. Das durfte eigentlich keine Probleme geben. Gute EDV?Leute findet man nicht so leicht.«
«Na, dann viel Gluck«, sagte Ernestine.»La? von dir horen, ja? Und la? dich in nichts mehr reinziehen, Baby.«
Drei?ig Minuten spater war Tracy auf dem Weg nach Philadelphia.
Sie stieg in einem kleinen Hotel abund» bugelte «ihr einziges schones Kleid, indem sie es uber dieBadewanne voll hei?em Wasser hangte. Am nachsten Vormittagbetrat sie um 11 Uhr dieBank und ging zu Clarence Desmonds Sekretarin,
Mae Trenton.
«Hallo, Mae.«
Die junge Frau starrte Tracy an, als ware sie ein Gespenst.»Tracy!«Sie wu?te nicht, wo sie hinschauen sollte.»Ich… wie geht's?«
«Danke, gut. Ist Mr. Desmond da?«
«Ich… keine Ahnung. Ich sehe mal nach. Augenblick. «Mae erhobsich verwirrt von ihrem Stuhl und eilte insBuro des stellvertretenden Direktors.
Ein paar Momente spater kam sie wieder.»Bitte. «Als Tracy auf dieBurotur zuging, wich ihr die Sekretarin aus und verdruckte sich.
Was ist denn mit der los? fragte sich Tracy.
Clarence Desmond stand hinter seinem Schreibtisch.
«Guten Tag, Mr. Desmond. Ichbin wieder da«, sagte Tracy munter.
«Und… warum das?«Es klang unfreundlich. Eindeutig unfreundlich.
Tracy fiel aus allen Wolken. Aber sie sprach weiter.»Sie haben einmal gesagt, ich sei eine Ihrerbesten Mitarbeiterinnen, und ich habe mir gedacht…«
«Sie haben sich gedacht, da? ich Ihnen Ihren alten Jobwiedergebe?«
«Ja, Sir. Ich habe nicht verlernt, was ich konnte. Ich…«
«Mi? Whitney. «Nicht mehr Tracy.»Es tut mir leid, aber das kommt uberhaupt nicht in Frage. Sie haben sicher Verstandnis dafur, da? unsere Kunden es nicht mit jemandem zu tun haben wollen, der wegenbewaffneten Raubes und Mordversuches im Gefangnis gesessen hat. Das ware unvereinbar mit unseren moralischen Grundsatzen. Angesichts Ihrer Vergangenheit halte ich es auch fur unwahrscheinlich, da? eine andereBank Sie anstellen wird. Und darum wurde ich Ihnen empfehlen, sich eine Arbeit zu suchen, die Ihren personlichen Umstanden mehr entspricht.
Ich hoffe, Sie empfinden das nicht alsbeleidigend… so war es nicht gemeint.«
Tracy lauschte seinen Worten erst schockiert und dann mit wachsendem Zorn. Es horte sich an, als ware sie eine Aussatzige, als zahlte sie zum Abschaum der Menschheit. Wir mochten Sie nicht verlieren. Sie sind eine von unseren wertvollsten Mitarbeiterinnen.
«Gibt es sonst noch etwas, Mi? Whitney?«Es war eine Abfuhr. Tracy hatte gern noch Dutzende von Dingen gesagt. Aber sie wu?te, da? es sinnlos war.»Nein. Ich glaube, Sie haben alles gesagt, Mr. Desmond. «Tracy drehte sich um und ging aus demBuro. Ihre Wangenbrannten. AlleBankangestellten schienen sie anzugaffen. Mae hatte die Nachricht verbreitet: Die Zuchthauslerin ist wieder da. Tracy schritt mit hoch erhobenem Kopf zum Ausgang, aber innerlichbebte sie. Das durfen sie mir nicht antun. Mein Stolz ist alles, was ich noch habe, und den lasse ich mir nicht nehmen.
Tracybliebden ganzen Tag in ihrem Hotelzimmer. Ihr war elend. Wie hatte sie nur so naiv sein konnen zu glauben, da? man siebei derBank mit offenen Armen empfangen wurde? Sie war jetztbekannt wie einbunter Hund.»Dubist die Schlagzeile in der Philadelphia Daily News. «Soll Philadelphia doch zum Teufel fahren, dachte Tracy. Sie hatte hier noch etwas zu erledigen, aber wenn das getan war, wurde sie gehen. Sie wurde nach New York umziehen. Dort war sie anonym. Als sie diese Entscheidung getroffen hatte, fuhlte sie sichbesser.
Am Abend lud sich Tracy zum Essen ins Cafe Royal ein, eines derbesten Restaurants von Philadelphia. Nach der unerquicklichenBegegnung mit Clarence Desmond am Vormittagbrauchte sie dieberuhigende Atmosphare dieses Lokals — gedampftes Licht, elegante Umgebung und sanfte Musik. Siebestellte einen Cocktail, und als ihn der Kellner an
ihren Tischbrachte, blickte Tracy auf, und ihr Herz machte einen Sprung. Auf der anderen Seite des Raumes sa?en Charles und seine Frau. Sie hatten Tracy noch nicht gesehen. Tracys erste Regung war aufzustehen und zu gehen. Sie war noch nichtbereit, Charles gegenuberzutreten, nichtbevor sie die Chance hatte, ihren Plan zu verwirklichen.
«Mochten Sie jetzt etwas zu essenbestellen?«fragte der Oberkellner.
«Ich… danke, einbi?chen spater. «Erst mu?te sie sich uberlegen, obsiebleiben wollte.
Sieblickte wieder zu Charles hinuber, und da ereignete sich etwas Erstaunliches: Es war, alsbetrachte sie einen Fremden. Sie sah einenbla?lichen, etwas vergramten Mann in mittleren Jahren mit sich lichtendem Haar, Hangeschultern und einem unsagbar gelangweilten Gesichtsausdruck. Nicht zu fassen, da? sie einmal geglaubt hatte, sie liebe ihn, da? sie mit ihm geschlafen hatte, da? sie den Rest ihres Lebens mit ihm hatte verbringen wollen. Tracy schaute seine Frau an. Sieblickte genauso gelangweilt drein wie Charles. Das Paar machte den Eindruck von zwei Menschen, die auf immer und ewig aneinandergefesselt sind. Sie sa?en nur da, nichts weiter, sprachen kein Wort miteinander. Tracy konnte sich die endlosen, oden Jahre vorstellen, die vor denbeiden lagen. Keine Liebe. Keine Freude. Das ist Charles Strafe, dachte Tracy und fuhlte sich plotzlich erleichtert. Sie war frei von den Ketten, die sie gebunden hatten.
Tracy winkte dem Oberkellner und sagte:»Ich mochte jetztbestellen.«
Es war vorbei. Die Vergangenheit war endgultigbegraben.
Erst als Tracy an diesem Abend in ihr Hotel zuruckkehrte, besann sie sich darauf, da? ihr noch Geld aus dem Angestelltenfonds derBank zustand. Sie rechnete nach. Es waren genau 1735 Dollar und 65 Cent.
Sie schriebeinenBrief an Clarence Desmond. Zwei Tage
spater erhielt sie Antwort von Mae.
Liebe Mi? Whitney,
in Erwiderung Ihres Ersuchens hat mich Mr. Desmond
gebeten. Ihnen mitzuteilen, da? Ihr Anteil der
moralischen Grundsatze unseres Hauses wegen in den
allgemeinen Fonds uberfuhrt worden ist. Er mochte
Ihnen versichern, da? er personlich keinen Groll gegen
Sie hegt.
Mit freundlichen Gru?en
Mae Trenton
Sekretarin des stellvertretenden Direktors
Tracy konnte es nicht fassen. Diese Leute stahlen ihr Geld undberiefen sich dabei auf die moralischen