Dieser Zug ist voll von Dieben!«
«Bitteberuhigen Sie sich, Madame«, flehte der Schaffner.»Die anderen Reisenden…«
«Beruhigen?!«Ihre Stimme kletterte noch eine Oktave hoher.»Wie konnen Sie es wagen, mir zu sagen, da? ich michberuhigen soll? Jemand hat meinen Schmuck gestohlen! Er war uber eine Million Dollar wert!«
«Wie konnte das passieren?«wollte Alberto Fornati wissen.»Die Tur war abgeschlossen, und ich habe einen leichten Schlaf. Wenn jemand hereingekommen ware, ware ich sofort aufgewacht.«
Der Schaffner seufzte. Er wu?te nur zu gut, wie das passieren konnte, denn es war schon des ofteren passiert. In der Nacht hatte sich jemand den Flur entlanggeschlichen und durchs Schlusselloch Ather ins Abteil gespruht. Die Schlosser waren ein Kinderspiel fur jemanden, der sein Handwerk verstand. Dann hatte der Diebdie Tur zugemacht und sichbedient. Und schlie?lich war er still in sein Abteil
zuruckgekehrt, wahrend seine Opfer noch in narkotischem Schlaf lagen. Neu war nur eins an diesem Diebstahl. Sonst wurde so etwas immer erst entdeckt, nachdem der Zug seinenBestimmungsort erreicht hatte — die Diebe hatten also die Chance zu entkommen. Doch in diesem Fall verhielt es sich anders. Seit dem Diebstahl war niemand ausgestiegen. Wasbedeutete, da? der Schmuck noch im Orientexpre? sein mu?te.
«Keine Sorge«, versprach der Schaffner den Fornatis.»Sie kriegen Ihre Juwelen wieder. Der Diebist noch im Zug.«
Er eilte zum Telefon, um die Polizei in Mailand zu verstandigen.
Als der Orientexpre? im Hauptbahnhof von Mailand einfuhr, standen zwanzig Polizisten und Kriminalbeamte in Zivil auf demBahnsteig. Sie hatten Weisung, keinen Reisenden und kein Gepack aus dem Zug zu lassen.
Luigi Ricci, der Kommissar, der die Aktion leitete, wurde zum Abteil der Fornatis gefuhrt.
Silvana Luadi hatte sich keineswegsberuhigt. Im Gegenteil.»All meine Juwelen waren in diesem Schmuckkastchen!«schrie sie.»Und kein einziges Stuck war versichert!«
Der Kommissar inspizierte das leere Kastchen.»Sind Sie sicher, da? Sie Ihre Juwelen letzte Nacht da hineingelegt haben, Signora?«
«Naturlichbin ich sicher! Ich lege sie jede Nacht da hinein. «Ihre strahlenden Augen, die schon Millionen von anbetungsvollen Fans elektrisiert hatten, schwammen in Tranen, und Kommissar Ricci warbereit, fur sie zum Drachentoter zu werden.
Er ging zur Abteiltur, buckte sich und schnupperte am Schlusselloch. Es roch schwach nach Ather. Ein Raubalso, und Kommissar Ricci hatte die Absicht, den fuhllosenBanditen seiner gerechten Strafe zuzufuhren.
Kommissar Ricci richtete sich auf und sagte:»KeineBange,
Signora. Der Schmuck kann nicht aus diesem Zug geschafft worden sein. Wir werden den Diebfinden, und Siebekommen Ihre Juwelen zuruck.«
Kommissar Ricci hatte allen Grund, zuversichtlich zu sein. Das Netz, das er ausgeworfen hatte, war so fein, da? der Tater nicht zwischen den Maschen hindurchschlupfen konnte.
Die Kriminalbeamten geleiteten die Reisenden einzeln in einen mit Seilen abgeteilten Warteraum imBahnhofsgebaude. Es folgten Leibesvisitationen. Die Reisenden — unter ihnen viel Prominenz — waren emport uber diese unwurdigeBehandlung.
«Es tut mir leid«, erklarte Kommissar Ricci einem jeden,»aber ein Millionendiebstahl ist eine ernste Sache.«
Wahrend die Reisenden aus dem Zug gefuhrt wurden, stellten die Kriminalbeamten in ihren Abteilen alles auf den Kopf. Jeder Quadratzentimeter wurde abgesucht. Dies war eine denkwurdige Gelegenheit fur Kommissar Ricci, und er hatte vor, sie vollauf zu nutzen. Wenn er die gestohlenen Juwelen sicherstellen konnte, bedeutete das eineBeforderung plus Gehaltserhohung. Seine Phantasie entflammte sich anberauschenden Traumen. Silvana Luadi wurde ihm so dankbar sein, da? sie hochstwahrscheinlich mit ihm… Er gabseine Anweisungen mit vermehrter Energie.
Es klopfte an Tracys Abteiltur, und ein Kriminalbeamter trat ein.
«Entschuldigen Sie, Signorina. Hier hat sich ein Raubereignet. Alle Reisenden mussen sich einer Leibesvisitation unterziehen. Bitte, folgen Sie mir.«
«Ein Raub?«fragte Tracy schockiert.»In diesem Zug?«
«Leider ja, Signorina.«
Als Tracy ihr Abteil verlie?, kamen zwei Kriminalbeamte herein, offneten ihre Koffer und inspizierten sie grundlich.
Nach vierstundiger Suche waren mehrere Packchen Marihuana zutage gefordert worden, dazu hundertfunfzig
Gramm Kokain, ein Messer und eine Pistole, derenBesitzer keinen Waffenschein hatte. Von den Juwelen keine Spur.
Kommissar Ricci konnte es nicht fassen.»Haben Sie sich auch wirklich den ganzen Zug vorgenommen?«fragte er seinen Stellvertreter.
«Kommissar, wir haben alles gefilzt. Jeden Quadratzentimeter. Wir haben die Lok durchsucht, die Speisewagen, dieBar, die Toiletten, die Abteile, die Reisenden, das Zugpersonal und jedes Gepackstuck. Ich kann die Hand dafur ins Feuer legen, da? die Juwelen nicht im Zug sind. Wahrscheinlich hat sich die Signora den Diebstahl nur eingebildet.«
Doch Kommissar Ricci wu?te esbesser. Er hatte mit den Speisewagenkellnern gesprochen, und die hattenbestatigt, da? Silvana Luadi am Vorabendbeim Essen eine wahre Juwelenschau geboten hatte.
Kommissar Ricci mu?te sich gleichwohl geschlagen geben. Er hatte keinen Grund, den verspateten Zug noch langer aufzuhalten. Weitere Ma?nahmen standen ihm nicht zu Gebote. Ihm fiel nur eine Erklarung ein: Der Diebmu?te irgendwann in der Nacht einem an der Strecke wartenden Komplizen die Juwelen zugeworfen haben. Aber war das moglich? Kaum. Der Diebkonnte ja nicht im voraus wissen, wann niemand auf dem Gang sein wurde und zu welcher Zeit und mit welcher Geschwindigkeit der Zug irgendeinen verabredeten Punkt im Gelande passierte. Der Kommissar sah sich einem Ratsel gegenuber, das er nicht zu losen vermochte.
«Der Zug kann jetzt weiterfahren«, sagte er.
Er stand auf demBahnsteig undbeobachtete hilflos, wie der Orientexpre? aus demBahnhof rollte. Mit ihm entschwanden seineBeforderung plus Gehaltserhohung und seine gluckselige Orgie mit Silvana Luadi.
Das einzige Gesprachsthema im Speisewagen war der Juwelenraub.
«Es ist das Aufregendste, was ich seit Jahren erlebt habe«, gestand eine sprode Madchenschullehrerin. Nervosbefingerte sie das Goldkettchen um ihren Hals, an dem ein kleiner Diamantsplitter hing.»Ich kann froh sein, da? sie mir das nicht gestohlen haben.«
«O ja«, bestatigte Tracy ernst.
Als Alberto Fornati in den Speisewagen trat, eilte er sofort zu Tracy.»Sie wissen naturlich, was passiert ist«, sagte er.»Aber wissen Sie auch, da? es Fornatis Frau war, diebestohlen wurde?«
«Nein!«
«Doch! Mein Leben war in gro?ter Gefahr. Eine Rauberbande hat sich in mein Abteil geschlichen und michbetaubt. Fornati hatte im Schlaf ermordet werden konnen!«
«Wie furchtbar.«
«Ja, und au?erdem mu? ich Silvana den ganzen Schmuck neu kaufen. Eine schoneBescherung ist das! Es wird mich ein Vermogen kosten.«
«Die Polizei hat den Schmuck nicht gefunden?«
«Nein. Aber ich wei?, wie die Diebe ihn aus dem Zug geschafft haben.«
«Wirklich? Wie?«
Fornatiblickte in die Runde und senkte die Stimme.»Die Diebe haben ihn an irgendeinemBahnhof einem wartenden Komplizen zugeworfen. Ecco!«
Tracy sagtebewundernd:»Also, darauf ware ich nicht gekommen.«
«Tja. «Fornati wolbtebedeutungsvoll die Augenbrauen.
«Sie werden unsere Verabredung in Venedig nicht vergessen?«
«Wie konnte ich?«erwiderte Tracy lachelnd.
Er quetschte ihren Arm.»Fornati freut sich schon darauf.
Und jetzt mu? ich Silvanaberuhigen. Sie ist total hysterisch.«
Als der Orientexpre? in Venedig eintraf, war Tracy unter den ersten Reisenden, die ausstiegen. Sie lie? ihr Gepack direkt zum Flughafenbefordern und flog, Silvana Luadis Juwelen im Koffer, mit der nachsten Maschine in