eine mitleiderweckende Geste. »Sie wollten mir kunstliche Gliedma?en geben, aber sie funktionierten bei mir nicht.«
»Haben Sie Klage erhoben?«
Connie blickte Jennifer verwirrt an. »Hat Pater Ryan Ihnen das nicht erzahlt?«
»Was erzahlt?«
»Mein Anwalt hat die Firma, der der Wagen gehorte, verklagt. Aber wir haben verloren. Wir haben Berufung eingelegt und wieder verloren.«
Jennifer sagte: »Er hatte das erwahnen sollen. Wenn das Berufungsgericht Sie abgewiesen hat, furchte, ich, da? man nichts mehr tun kann.«
Connie Garrett nickte. »Ich habe auch nicht wirklich daran geglaubt. Ich dachte nur - nun, Pater Ryan sagte, Sie konnten Wunder wirken.«
»Das ist sein Gebiet. Ich bin nur Anwaltin.« Sie war wutend auf Pater Ryan, weil er Connie Garrett falsche Hoffnung gegeben hatte. Sie wurde ein Wortchen mit ihm reden mussen, beschlo? sie argerlich.
Die altere Frau fragte aus dem Hintergrund: »Kann ich Ihnen etwas anbieten, Mi? Parker? Etwas Tee und Kuchen vielleicht?«
Jennifer merkte plotzlich, da? sie hungrig war, denn sie hatte keine Zeit gehabt, zu Mittag zu essen. Aber dann stellte sie sich vor, zusehen zu mussen, wie Connie Garrett mit der Hand gefuttert wurde. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen.
»Nein, danke«, log sie. »Ich habe gerade gegessen.« Sie wollte nur fort, so schnell wie moglich. Sie suchte nach einer aufmunternden Bemerkung, die ihr das Gehen erleichtern konnte, aber es gab keine. Verdammt sei Pater Ryan! »Es - es tut mir wirklich leid. Ich wunschte, ich...« Connie Garrett lachelte und sagte: »Bitte, machen Sie sich keine Gedanken deswegen.«
Es war das Lacheln. Jennifer war sicher, da? sie an Connies Stelle niemals fahig gewesen ware, zu lacheln. »Wer war Ihr Anwalt?« horte sie sich fragen. »Melvin Hutcherson. Kennen Sie ihn?«
»Nein, aber ich werde mit ihm reden.« Ohne es zu wollen, sprach sie weiter. »Ich werde ihn besuchen.«
»Das ware wirklich nett von Ihnen.« Dankbarkeit schwang in Connie Garretts Stimme mit.
Jennifer dachte, was fur ein schreckliches Leben das Madchen hatte, hilflos in seinem Stuhl, Tag fur Tag, Monat fur Monat, Jahr fur Jahr, unfahig, irgend etwas allein zu tun. »Ich kann Ihnen nichts versprechen, furchte ich.«
»Naturlich nicht. Aber wissen Sie was, Jennifer? Ich fuhle mich besser, blo? weil Sie gekommen sind.« Jennifer stand auf. Normalerweise hatte man sich jetzt die Hand gegeben, aber da war keine Hand zum Schutteln. Schuchtern sagte sie: »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Connie. Sie horen von mir.«
Auf dem Ruckweg zu ihrem Buro dachte Jennifer an Pater Ryan und beschlo?, da? sie seinen Schmeicheleien nie wieder erliegen wurde. Es gab nichts, das man fur das arme verkruppelte Madchen tun konnte, und es war unanstandig, ihr irgendeine Art von Hoffnung zu vermitteln. Aber sie wurde ihr Versprechen halten. Sie wurde mit Melvin Hutcherson sprechen.
Als Jennifer im Buro anlangte, fand sie eine lange Liste von Nachrichten vor. Sie sah sie rasch durch, auf der Suche nach einer Botschaft von Adam. Es war keine dabei.
12
Melvin Hutcherson war ein kleiner, zur Kahlkopfigkeit neigender Mann mit einer winzigen Knopfnase und verwaschenen blauen Augen. Er hatte eine schabige Burosuite an der West Side, die Armut ausdunstete. Der Tisch der Empfangssekretarin war leer. »Zum Essen«, erklarte Hutcherson. Jennifer fragte sich, ob er uberhaupt eine Sekretarin hatte. Er fuhrte sie in seinen Privatraum, der kaum gro?er war als jener der Sekretarin. »Am Telefon sagten Sie, Sie wollten mit mir uber Connie Garrett sprechen.«
»Das ist richtig.«
Er zuckte mit den Schultern. »Da gibt es nicht viel zu sagen. Wir haben geklagt und verloren. Glauben Sie mir, ich habe Himmel und Holle fur sie in Bewegung gesetzt.«
»Haben Sie auch Berufung eingelegt?«
»Ja. Die haben wir auch verloren. Ich furchte, Sie bemuhen sich umsonst.« Er betrachtete sie. »Warum verschwenden Sie Ihre Zeit mit so was? Sie sind hei?. Sie konnten an den ganz gro?en Fallen arbeiten und sich eine goldene Nase verdienen.«
»Ich tue einem Freund einen Gefallen. Wurde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mir die Abschriften der Verhandlungen anschaue?«
»Bedienen Sie sich«, meinte Hutcherson mit einem Achselzucken. »Sie sind jedem zuganglich.«
Jennifer verbrachte den Abend damit, die Abschriften von Connie Garretts Proze? zu studieren. Zu ihrer Uberraschung hatte Melvin Hutcherson die Wahrheit gesagt: Er hatte wirklich gute Arbeit geleistet. Er hatte sowohl die Stadt wie auch die Nationwide Motors Corporation beklagt und einen Geschworenenproze? verlangt. Die Jury hatte beide Angeklagten freigesprochen.
Die Stra?enbehorde hatte getan, was sie konnte, um mit einem Schneesturm fertig zu werden, der die Stadt in jenem Dezember heimsuchte; ihre gesamte Ausrustung war im Einsatz gewesen. Die Stadt hatte argumentiert, da? der Schneesturm hohere Gewalt war und da? - wenn uberhaupt jemand - Connie Garrett der Fahrlassigkeit zu beschuldigen sei. Jennifer wandte sich den Klagen gegen die Lastwagenfirma zu. Drei Augenzeugen hatten ausgesagt, da? der Fahrer den Wagen zu stoppen versucht hatte, bevor er das Opfer anfuhr, und da? der Wagen zu schleudern begonnen und Connie dann getroffen hatte. Das Urteil zugunsten der Beklagten war vom Berufungsgericht aufrechterhalten und der Fall abgeschlossen worden.
Um drei Uhr morgens war Jennifer mit der Lekture der Abschrift fertig. Sie knipste das Licht aus, war aber unfahig, zu schlafen. Auf dem Papier war der Gerechtigkeit Genuge getan worden. Aber der Anblick von Connie Garrett ging ihr nicht aus dem Kopf. Ein Madchen von Anfang Zwanzig ohne Arme und Beine. Jennifer stellte sich vor, wie der Lastwagen das junge Madchen getroffen hatte, wie sehr es gelitten haben mu?te, und dann die Reihe von Operationen, eine schrecklicher als die vorhergegangene, und nach jeder war etwas weniger von ihrem Korper ubriggeblieben. Jennifer drehte das Licht wieder an. Sie wahlte Melvin Hutchersons Nummer. »In den Abschriften steht nichts uber die Arzte«, sagte Jennifer in den Horer. »Haben Sie die Moglichkeit einer fehlerhaften Behandlung uberpruft?«
Eine verschlafene Stimme fragte: »Wer, zum Teufel, ist da?«
»Jennifer Parker. Haben Sie...«
»Um Himmels willen. Es ist - es ist vier Uhr morgens! Haben Sie keine Uhr?«
»Es ist wichtig. Das Krankenhaus tauchte in dem Proze? uberhaupt nicht auf. Was ist mit diesen Operationen, die man an ihr durchgefuhlt hat? Haben Sie sich damit beschaftigt?« Eine Pause entstand, wahrend derer Melvin Hutcherson seine
Gedanken zu sammeln suchte. »Ich habe mit den Oberarzten in der neurologischen und der orthopadischen Abteilung des Krankenhauses gesprochen. Die Operationen waren notwendig, um ihr Leben zu retten. Sie wurden von den besten Arzten dort ausgefuhrt, und zwar korrekt. Deswegen habe ich das Krankenhaus nicht beklagt.«
Jennifer fuhlte einen scharfen Stich der Enttauschung. »Ich verstehe.«
»Horen Sie, ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Sie vergeuden Ihre Zeit mit dieser Sache. Warum versuchen wir beide nicht einfach, noch ein bi?chen zu schlafen?« Und Hutcherson legte auf. Jennifer schaltete das Licht aus und legte sich wieder zuruck. Aber an Schlaf war noch weniger zu denken als vorher. Nach einiger Zeit gab Jennifer den Kampf auf, stieg aus dem Bett und kochte sich Kaffee. Sie setzte sich auf das Sofa, nahm kleine Schlucke und sah zu, wie die aufgehende Sonne die Skyline von Manhattan bemalte und sich das schwache Rosa allmahlich in strahlendes, explosives Rot verwandelte.
Jennifer war verwirrt. Fur jedes Unrecht sollte es theoretisch ein juristisches Pflaster geben. War in Connie Garretts Fall Gerechtigkeit geschehen? Sie blickte auf die Uhr an der Wand. Es war sechs Uhr drei?ig. Noch einmal griff Jennifer nach dem Telefon und wahlte Melvin Hutchersons Nummer. »Haben Sie sich die Vorgeschichte des Lastwagenfahrers angesehen?« fragte sie.