Michael Moretti erschien im Rahmen. Er warf einen Blick auf die hagere Gestalt, die aus tiefliegenden Augen vom Bett zu ihm hochstarrte und sagte: »Jesus Christus!«
Michael Moretti brauchte seine ganze Kraft, um Jennifer aus dem Raum zu schaffen. Sie wehrte sich hysterisch, schlug nach ihm und versuchte, ihm die Augen auszukratzen. Nick Vito wartete im Erdgescho?, und sogar zu zweit hatten sie alle Hande voll zu tun, um Jennifer in den Wagen zu bringen. Jennifer hatte keine Ahnung, wer sie waren und warum sie da waren. Sie wu?te nur, da? diese Manner sie von ihrem Sohn fortbrachten. Sie versuchte, ihnen zu erklaren, da? sie sterben wurde, wenn sie ihr das antaten, aber schlie?lich war sie zu erschopft, um sich noch langer zu wehren. Sie schlief ein.
Jennifer erwachte in einem hellen, sauberen Zimmer mit einem gro?en Aussichtsfenster, durch das sie einen Berg und einen See in der Ferne erblicken konnte. Eine Krankenschwester sa? in einem Stuhl neben dem Bett und las ein Magazin. Als Jennifer die Augen offnete, sah sie auf. »Wo bin ich?« Das Sprechen schmerzte in Jennifers Kehle. »Sie sind bei Freunden, Mrs. Parker. Mr. Moretti hat Sie hergebracht. Er hat sich gro?e Sorgen um Sie gemacht. Er wird sich freuen, wenn er hort, da? Sie wieder wach sind.« Die Schwester eilte aus dem Raum. Jennifer lag da, gedankenblind, und wollte, da? ihr Verstand fur immer leer blieb. Aber die Erinnerungen kehrten zuruck, ungebeten, unerwunscht, und es gab kein Versteck, keine Fluchtmoglichkeit vor ihnen. Jennifer begriff, da? sie versucht hatte, Selbstmord zu begehen, ohne wirklich den Mut dazu zu haben. Sie hatte einfach sterben und den Tod herbeizwingen wollen. Michael hatte sie gerettet. Welche Ironie! Nicht Adam, sondern Michael. Vermutlich war es unfair, Adam einen Vorwurf zu machen. Sie hatte ihm die Wahrheit verheimlicht, hatte ihm den Sohn, der geboren worden und nun tot war, vorenthalten. Joshua war tot. Jetzt konnte Jennifer der Tatsache ins Gesicht sehen. Der Schmerz war tief und qualend, und sie wu?te, da? dieser Schmerz sie ihr Leben lang begleiten wurde. Aber sie konnte es ertragen. Sie mu?te. Es war die ausgleichende Gerechtigkeit, die ihr die Rechnung vorlegte.
Jennifer horte Schritte und blickte auf. Michael hatte den Raum betreten. Er stand vor dem Bett und sah sie fragend an. Als Jennifer verschwunden war, hatte er sich wie ein Wilder aufgefuhrt. Aus Angst um sie hatte er beinahe den Verstand verloren. Er ging auf sie zu und blickte ihr in die Augen. »Warum hast du mir nichts gesagt?« Er setzte sich auf die Bettkante. »Es tut mir so leid.«
Sie nahm seine Hand. »Danke, da? du mich hergebracht hast. Ich - ich glaube, ich war ein bi?chen verruckt.«
»Ein bi?chen.«
»Wie lange bin ich schon hier?' »Vier Tage. Der Doktor hat dich intravenos ernahrt.« Jennifer nickte, und sogar diese kleine Bewegung kostete sie gro?e Anstrengung.
»Dein Fruhstuck ist unterwegs. Er hat mir aufgetragen, dich zu masten.« »Ich bin nicht hungrig. Ich glaube, ich will nie wieder essen.« »Du wirst.«
Und zu ihrer Uberraschung hatte Michael recht. Als die Schwester ihr auf einem Tablett weichgekochte Eier, Toast und Tee brachte, stellte sie fest, da? sie ausgehungert war. Michael blieb bei ihr und beobachtete sie, und als sie fertig war, sagte er: »Ich mu? wieder zuruck nach New York und mich um ein paar Angelegenheiten kummern. In ein paar Tagen bin ich wieder da.«
Er beugte sich vor und ku?te sie zartlich. »Ich sehe dich am Freitag.« Langsam strich er mit einem Finger uber ihr Gesicht. »Ich mochte, da? du schnell wieder gesund wirst, horst du?« Jennifer sah ihn an und sagte: »Ich hore.«
51
Der riesige Konferenzraum des Stutzpunktes der US-Marineinfanterie platzte beinahe aus den Nahten. Vor der Tur stand eine Abteilung bewaffneter Wachen auf dem Posten. Hinter der Tur fand eine au?ergewohnliche Versammlung statt. In Stuhlen langs der Wand sa?en die Mitglieder einer Anklagekammer. Auf der einen Seite eines langen Tisches sa?en Adam Warner, Robert Di Silva und der stellvertretende Direktor des FBI. Ihnen gegenuber sa? Thomas Colfax. Die Geschworenen der Anklagekammer, die Grand Jury in den Stutzpunkt zu schaffen, war Adams Idee gewesen. »Nur so konnen wir Colfax' Schutz gewahrleisten.« Die Grand Jury hatte Adams Vorschlag zugestimmt, und die Geheimsitzung konnte beginnen.
Adam forderte Thomas Colfax auf: »Wurden Sie sich bitte identifizieren?« »Mein Name ist Thomas Colfax.« »Was sind Sie von Beruf, Mr. Colfax?«
»Ich bin Rechtsanwalt, zugelassen im Staat von New York und einigen anderen Staaten im ganzen Land.«
»Wie lange uben Sie diesen Beruf schon aus?«
»Uber funfunddrei?ig Jahre.«
»Haben Sie eine offentliche Praxis?«
»Nein, Sir. Ich habe nur einen Mandanten.«
»Wer ist dieser Mandant?«
»Den gro?ten Teil der funfunddrei?ig Jahre handelte es sich um Antonio Granelli, der jetzt tot ist. Seinen Platz hat Michael Moretti eingenommen. Ich vertrete ihn und seine Organisation.«
»Beziehen Sie sich auf das organisierte Verbrechen?«
»So ist es, Sir.«
»Konnte man aufgrund der Position, die Sie so lange Jahre eingenommen haben, davon ausgehen, da? Sie einen einzigartigen Einblick in die Mechanismen dessen hatten, was wir die Organisation nennen wollen?«
»Es geschah nicht viel, wovon ich nichts wu?te.«
»Und das umfa?t auch kriminelle Aktivitaten?«
»Ja, Senator.«
»Wurden Sie uns etwas uber diese Aktivitaten erzahlen?«
Thomas Colfax redete zwei Stunden lang ununterbrochen. Seine Stimme war fest und sicher. Er nannte Namen, Orte un d Daten, und zeitweise war sein Vortrag so faszinierend, da? die im Raum Anwesenden verga?en, wo sie sich befanden, in Bann geschlagen von den Horrorgeschichten, die Colfax erzahlte.
Er sprach von Mordauftragen, von getoteten Zeugen, von Brandstiftungen, Vergewaltigungen, wei?em Sklavenhandel -und vor der Augen der Anwesenden entstand ein Gemalde wie von Hieronymus Bosch. Zum erstenmal wurden die geheimsten Operationen des gro?ten Verbrechersyndikats der Welt vor aller Augen blo?gelegt. Gelegentlich stellten Adam oder Robert Di Silva eine Frage, soufflierten Colfax, hakten nach, wo immer es notwendig wurde, um die eine oder andere Lucke zu schlie?en. Die Sitzung lief wesentlich besser, als Adam gehofft hatte. Da passierte plotzlich, kurz vor Schlu?, die Katastrophe. Einer der Manner in der Grand Jury hatte eine Frage gestellt. Es ging darum, wie die Organisation schmutziges Geld gewaschen hatte.
»Das geschah vor ungefahr zwei Jahren. Von einigen der spateren Unternehmungen hat Michael mich ferngehalten. Das war Jennifer Parkers Ressort.« Adam erstarrte.
Robert Di Silva fragte: »Jennifer Parker?« Seine Frage hatte eine geradezu explosive Intensitat.
»Ja, Sir.« Thomas Colfax' Stimme hatte plotzlich einen rachsuchtigen Klang. »Sie ist jetzt die Chefanwaltin der Organisation.«
Adam wunschte sich verzweifelt, ihn zum Schweigen bringen zu konnen, seine weiteren Worte aus dem Protokoll herauszuhalten, aber es war zu spat. Di Silva hatte die Schlagader anvisiert, und nichts konnte ihn mehr zuruckhalten. »Erzahlen Sie uns mehr uber sie«, sagte Di Silva gespannt. Thomas Colfax fuhr fort: »Jennifer Parkers Gebiete sind Briefkastenfirmen, neue Moglichkeiten, Geld wei?zuwaschen...« Adam versuchte, ihn zu unterbrechen. »Ich glaube nicht...«
»... Mord.« Das Wort hing im Raum.
Adam brach das Schweigen. »Wir - wir mussen uns an die Tatsachen halten, Mr. Colfax. Sie wollen doch wohl nicht behaupten, da? Jennifer Parker an einem Mord beteiligt war?«
»Genau das wollte ich sagen. Sie hat einem Mann den Bleistift schicken lassen, der ihren Sohn gekidnappt hatte. Der Name des Mannes war Frank Jackson. Sie bat Michael Moretti, ihn zu toten, und er hat es getan.« Erstauntes Stimmengemurmel erhob sich. Ihr Sohn! Adam dachte: Irgendwo mu? da ein Fehler liegen. Er sagte stockend: »Ich glaube - ich glaube, wir haben auch ohne Geruchte genug Beweise. Wir...«
»Das ist kein Horensagen«, versicherte Thomas Colfax ihm. »Ich war im selben Zimmer wie Moretti, als sie