»Hallo, du da.« Sie setzte sich auf die Kante seines Betts. »Wie fuhlst du dich?«
»Irgendwie komisch. So, als ware ic h gar nicht hier.« Jennifer ergriff seine Hand. »Du bist hier, Liebling. Und ich bin bei dir.«
»Ich sehe alles doppelt.«
»Hast du - hast du das dem Doktor gesagt?«
»Ja. Ich habe ihn doppelt gesehen. Hoffentlich schickt er dir nicht zwei Rechnungen.«
Jennifer legte ihre Arme um Joshua und druckte ihn an sich. Sein Korper wirkte geschrumpft und zerbrechlich. »Mama?«
»Ja, Liebling?«
»Du la?t mich nicht sterben, oder?«
Ihre Augen brannten plotzlich. »Nein, Joshua, ich lasse dich nicht sterben. Die Arzte machen dich wieder gesund, und dann nehme ich dich mit nach Hause.«
»Okay. Au?erdem hast du versprochen, da? wir irgendwann wieder nach Acapulco fahren.«
»Ja. Sobald du...«
Er war schon wieder eingeschlafen.
Dr. Morris betrat den Raum, begleitet von zwei Mannern in wei?en Jacketts.
»Wir wurden jetzt gern mit dem Test beginnen, Mrs. Parker. Sie dauern nicht lange. Warum warten Sie nicht hier und machen es sich bequem?«
Jennifer sah zu, wie sie Joshua aus dem Raum trugen. Sie hockte auf der Kante des Betts und fuhlte sich, als hatte man sie zusammengeschlagen. Jegliche Energie hatte sie verlassen. Sie sa? da wie in Trance und starrte die wei?e Wand an.
Einen Augenblick spater sagte eine Stimme: »Mrs. Parker...« Jennifer blickte auf. Dr. Morris stand vor ihr. »Bitte, gehen Sie und machen Sie die Tests.« Er blickte sie seltsam an. »Wir sind schon fertig.« Jennifer blickte auf ihre Armbanduhr. Sie hatte zwei Stunden so dagesessen. Wo war die Zeit geblieben? Sie blickte den Arzt an, suchte nach den kleinen, verraterischen Zeichen, die preisgaben, ob er gute oder schlechte Nachrichten fur sie hatte. Wie oft hatte sie das nicht schon getan, hatte in den Gesichtern von Geschworenen gelesen und schon vorher an ihrem Ausdruck erkannt, wie das Urteil lauten wurde. Hundertmal? Funfhundert? Aber jetzt, geschuttelt von Panik, konnte sie uberhaupt nichts erkennen. Ihr Korper begann unkontrolliert zu zittern.
Dr. Morris sagte: »Ihr Sohn leidet an einem subduralen Hamatom. Allgemeinverstandlich ausgedruckt, sein Gehirn hat eine schwere Verletzung erlitten.«
Ihre Kehle war plotzlich so trocken, da? sie nicht mehr sprechen konnte.
»Wa...« Sie schluckte und versuchte es noch einmal. »Was bedeu...?« Sie konnte den Satz nicht beenden.
»Ich mochte auf der Stelle operieren. Ich brauche Ihre Genehmigung.«
Er spielte ihr irgendeinen grausamen Streich. Nur noch einen Augenblick, dann wurde er lacheln und ihr sagen, da? es Joshua gut ging. Ich habe Sie nur dafur bestraft, da? Sie meine Zeit verschwendet haben, Mrs. Parker. Ihr Sohn ist kerngesund, er braucht nur etwas Schlaf. Er ist ein Heranwachsender. Sie sollten uns nicht die Zeit stehlen - wir haben schlie?lich Patienten, die uns wirklich brauchen. Gleich wurde er sie anlacheln und sagen: »Sie konnen Ihren Sohn jetzt mitnehmen.« Dr. Morris fuhr fort: »Er ist jung und scheint kraftig zu sein. Wir haben allen Grund, zu hoffen, da? die Operation erfolgreich verlaufen wird.«
Er wurde das Gehirn ihres Babys aufschneiden, mit seinen scharfen Instrumenten hineindringen und vielleicht alles zerstoren, was Joshua zu Joshua machte. Vielleicht - wurde er ihn toten. »Nein!« Das Wort war ein wutender Schrei. »Sie erlauben uns nicht, zu operieren?«
»Ich...« Sie war so verwirrt, da? sie nicht mehr denken konnte. »Was - was ist, wenn Sie ihn nicht operieren?« Dr. Morris sagte schlicht: »Ihr Sohn wird sterben. Ist der Vater des Jungen hier?«
Adam! Oh, wie gern hatte sie ihn jetzt hier gehabt, seine Arme um sich gespurt, seinen Trost. Sie wollte, da? er ihr sagte, da? sich alles wieder einrenken, da? Joshua gesund werden wurde.
»Nein«, antwortete Jennifer schlie?lich. »Er ist nicht hier. Ich - ich gebe Ihnen die Erlaubnis. Operieren Sie!« Dr. Morris fullte ein Formular aus und reichte es ihr. »Wurden Sie das bitte unterschreiben?«
Jennifer unterschrieb das Papier, ohne es anzuschauen. »Wie lange wird es dauern?«
»Das wei? ich erst, wenn ich seinen Kopf geoff..« Er sah den Ausdruck ihres Gesichts, »... wenn ich mit der Operation begonnen habe. Wollen Sie hier warten?«
»Nein!« Die Mauern zogen sich um sie zusammen, erstickten sie. Sie konnte kaum atmen. »Gibt es hier eine Kapelle?«
Die Krankenhauskapelle war klein. Uber dem Altar hing ein Gemalde des Jesuskindes. Au?er Jennifer befand sich niemand im Raum. Sie kniete, aber sie konnte nicht beten. Sie war nie sehr religios gewesen; warum sollte Gott ihr jetzt zuhoren? Sie versuchte sich zu beruhigen, so da? sie mit Gott sprechen konnte, aber ihre Furcht war zu stark; sie hatte sie vollkommen in ihre Gewalt gebracht. Jennifer beschuldigte sich selber mitleidlos. Wenn ich Joshua nur nicht mit nach Acapulco genommen hatte, dachte sie... wenn ich ihn nicht Wasserski fahren gelassen hatte... wenn ich diesem mexikanischen Arzt nicht vertraut hatte... wenn. Wenn. Wenn. Dann schlug sie Gott ein Tauschgeschaft vor. Mach ihn gesund, und ich tue alles, was du willst.
Anschlie?end leugnete sie ihn. Wenn es einen Gott gabe, wurde er ein Kind, das niemandem etwas zuleide getan hat, so bestrafen? Was ist das fur ein Gott, der unschuldige Kinder sterben la?t? Als sie vollig erschopft und am Ende ihrer Kraft war, horten ihre Gedanken auf zu rasen, und sie erinnerte sich an Dr. Morris' Worte: Er ist jung und scheint kraftig zu sein. Wir haben allen Grund, zu hoffen, da? die Operation erfolgreich verlaufen wird. Alles wurde wieder in Ordnung kommen. Naturlich wurde es gelingen. Wenn alles vorbei war, wurde sie mit Joshua irgendwohin fahren, wo er sich ausruhen konnte. Acapulco, wenn er wollte. Sie wurden lesen, spielen und sich unterhalten...
Als Jennifer schlie?lich nicht einmal mehr denken konnte, lie? sie sich auf die harte Holzbank zurucksinken. Ihr Kopf war benommen und leer. Jemand beruhrte sie am Arm, und sie sah auf, und Dr. Morris stand uber sie gebeugt. Jennifer blickte in sein Gesicht und brauchte keine Fragen mehr zu stellen. Sie fiel in Ohnmacht.
50
Joshua lag auf einem schmalen Metalltisch, sein Korper fur immer reglos. Er wirkte wie in einem friedlichen Schlaf befangen, sein hubsches, junges Gesicht erleuchtet vom Widerschein geheimer, ferner Traume. Jennifer hatte diesen Ausdruck schon tausendmal gesehen, wenn Joshua sich in sein Bett kuschelte, wahrend sie auf der Kante sa? und sein Gesicht anschaute, erfullt von einer Liebe, die sie mit ihrer Heftigkeit fast erstickte. Und wie oft hatte sie die Decke von allen
Seiten unter ihn geschoben, um ihn vor der Nachtkalte zu beschutzen?
Jetzt war die Kalte tief in ihn eingedrungen. Er wurde nie wieder warm sein. Seine strahlenden Augen wurden sich nie wieder offnen und sie ansehen, und sie wurde niemals mehr das Lacheln auf seinen Lippen erblicken oder seine kleinen, starken Arme um sich fuhlen. Er war nackt unter dem dunnen, wei?en Tuch.
Jennifer sagte zu dem Arzt: »Ich mochte, da? Sie ihn zudecken. Er wird frieren.«
»Er kann nicht...« Dr. Morris blickte in Jennifers Augen, und was er da sah, lie? ihn sagen: »Ja, naturlich, Mrs. Parker.« Er wandte sich an die Schwester und sagte: »Holen Sie eine Decke.«
Anscheinend war mindestens ein halbes Dutzend Leute im Raum, die meisten in wei?en Kitteln, und alle schienen mit Jennifer zu reden, aber sie konnte nicht verstehen, was sie sagten. Es war, als befande sie sich unter einer Glasglocke, getrennt von ihrer Umwelt. Sie konnte sehen, wie sich ihre Lippen bewegten, aber es gab kein Gerausch. Sie wollte sie anschreien, sie wegjagen, aber sie hatte Angst, Joshua zu erschrecken. Jemand schuttelte ihren Arm, und der Bann war gebrochen, der Raum war plotzlich von einer Gerauschexplosion erfullt, und alle schienen gleichzeitig zu reden. Dr. Morris sagte: »...unerla?lich, eine Autopsie vorzunehmen.«
Jennifer sagte ruhig: »Wenn Sie meinen Sohn noch einmal anruhren, bringe ich Sie um.«
Und sie lachelte alle ringsum an, weil sie nicht wollte, da? sie auf Joshua bose wurden.
Eine Schwester wollte Jennifer aus dem Zimmer fuhren, aber sie schuttelte den Kopf. »Ich kann ihn nicht allein lassen. Jemand konnte das Licht ausmachen. Joshua hat Angst im Dunkeln.«
Jemand pre?te ihren Arm. Jennifer fuhlte den Stich einer Nadel, und wenig spater versank sie in ein Gefuhl