achzten.
Selbstverstandlich befanden sich in der ersten Reihe der Zuhorer der Traineur John Milner, Frau Kate Titbury, die ihrem Gatten immerfort unverstandliche Zeichen machte, und die nervose Jovita Foley, ohne deren Drangen und Zureden Lissy Wag nie zugestimmt hatte, sich vor dieser entsetzlichen Menschenmenge hinzusetzen. In dem ganzen weiten Raume, im Amphitheater, auf den entferntesten Sitzreihen, an jeder Stelle, in der sich ein Menschenkorper nur einklemmen, in jeder Oeffnung, durch die ein Menschenkopf nur schlupfen konnte – uberall wimmelte es von Mannern, Frauen und Kindern aus den reichen bis zu den einigerma?en bemittelten Kreisen der Einwohnerschaft.
Und drau?en, langs der Michigan Avenue und der Congre? Street, an den Fenstern der Hauser, auf den Balkonen der Hotels, auf den Fu?steigen und auf den Fahrbahnen, wo der Wagen-und Stra?enbahnverkehr vollig unterbrochen war, harrte eine wie der Mississippi zur Zeit der Hochfluth uberschaumende Menschenmasse, deren letzter Wogenschlag uber die Grenzen des Quartiers hinausreichte.
Der Schatzung nach waren an diesem Tage funfzigtausend Fremde, und zwar aus verschiedenen Theilen von Illinois und aus den angrenzenden Staaten, doch auch aus New-York, Pennsylvanien, Ohio und Maine, nach Chicago gekommen. Eine gerauschvolle, immer anwachsende Gahrung herrschte in dem erwahnten Theile der Stadt und drohnte im ganzen Lake-Park wider, bis sie sich auf der Flache des sonnenbestrahlten Michigansees verlor.
Jetzt schlug die Mittagsstunde. Ein allgemeines »Ah!« erfullte die Luft auch au?erhalb des Auditoriums.
Im gleichen Augenblick hatte Meister Tornbrock sich erhoben, und die Lufterschutterung davon erregte, wie der Wind, der durch dichtes Gebusch streicht, auch die Menge auf den Stra?en.
Dann trat ein tiefes Schweigen ein; alle fuhlten sich so bedruckt, wie in den beangstigenden Secunden zwischen Blitz und Donnerschlag.
Vor dem in der Mitte der Buhne befindlichen Tische mit gekreuzten Armen und ernster Miene stehend, wartete Tornbrock nur noch auf den letzten Glockenschlag der Mittagsstunde.
Auf dem Tische lag eine Mappe, deren drei rothe Siegel die Anfangsbuchstaben des Namens des Erblassers zeigten. Diese Mappe enthielt den letzten Willen William I. Hypperbone’s und im Hinblick auf ihre Gro?e jedenfalls auch noch andere darauf bezugliche Schriftstucke. Auf ihrer Au?enseite standen einige Zeilen, deren Inhalt es bestimmte, da? die Mappe nicht eher als vierzehn Tage nach dem Ableben des Erblassers geoffnet werden solle; darin war auch angegeben, da? die Eroffnung im Theatersaale des Auditoriums punktlich zu Mittag zu erfolgen habe.
Mit leise zitternder Hand erbrach der Notar Tornbrock die drei Siegel und zog aus der Mappe zunachst ein Pergamentheft hervor, auf dessen Seiten man die kraftige Handschrift des Testators leicht erkannte, dann kam daraus eine vierfach zusammengefaltete Karte und endlich ein kleiner, einen Zoll langer und breiter und einen halben Zoll hoher Kasten zum Vorschein.
Hierauf verlas Meister Tornbrock, nachdem seine mit einer Aluminiumbrille bewaffneten Augen die ersten Zeilen des Pergaments uberflogen hatten, mit einer den ganzen weiten Raum erfullenden Stimme folgendes:
»Das Vorliegende ist mein Testament, das ich eigenhandig geschrieben und am 3. Juli 1895 aufgesetzt habe.
Gesund an Leib und Seele und im Vollbesitz meiner Geisteskrafte habe ich dieses Schriftstuck, das meinen letzten Willen kundgeben soll, ausgefertigt. Meine letztwilligen Verfugungen wird Meister Tornbrock im Verein mit meinem Collegen und Freunde Georges B. Higginbotham streng zur Ausfuhrung kommen lassen, wie es mit denen bezuglich meines Begrabnisses dann schon geschehen sein wird.«
Endlich sollten also das Publicum und die naheren Interessenten erfahren, woran sie sich zu halten hatten. Jetzt sollte die Losung und Aufklarung kommen uber alle seit vierzehn Tagen aufgetauchten Fragen, uber alle Vermuthungen und Hypothesen, die alle Welt zwei Wochen lang in fieberhafter Spannung erhalten hatten.
Meister Tornbrock fuhr in folgender Weise fort:
Nahe der Rampe sah man in einer Reihe die »Sechs«.(S. 62.)
»Bisher hat sich kein Mitglied des Excentric Club durch irgendwelche Aufsehen erregende Excentricitaten bemerkbar gemacht. Selbst der Schreiber dieser Zeilen hat sich niemals uber die niedrige Alltaglichkeit des Lebens erhoben. Was aber bisher nicht geschehen ist, das soll – es war sein ernstliches Gelubde – wenigstens nach seinem Tode einmal eintreten.«
Ein zustimmendes Murmeln lief durch die Reihen der Zuhorer. Meister Tornbrock mu?te warten, bis es sich gelegt hatte, so da? er die unterbrochene Vorlesung erst nach einer halben Minute wieder aufnehmen konnte.
Die nun folgenden Worte lauteten:
»Meine lieben Collegen werden sich erinnern, da? ich, wenn irgend einer Leidenschaft, nur dem Edlen Gansespiel frohnte, das in Europa und vor allem in Frankreich so wohlbekannt ist. In Frankreich glaubt man, da? es durch die Griechen wieder aufgebracht worden sei, obgleich es Hellas niemals einen Plato, Themistokles, Aristides, Leonidas, Sokrates oder sonst eine geschichtlich beruhmte Person des Landes hat spielen sehen. Dieses Spiel habe ich erst in unserem Verein eingefuhrt. Es hat mir durch seine abwechslungsvollen Einzelheiten, durch seine mannigfaltigen Combinationen, wo der reine Zufall die Spieler leitet, die zur Gewinnung des Sieges auf dem Schlachtfelde kampfen, das lebhafteste Vergnugen bereitet.«
Hierzu legten sich viele die Frage vor, was das »Edle Gansespiel« wohl mit dem Testamente William I. Hypperbone’s zu thun haben konne.
Der Notar fuhr fort:
»Zu diesem Spiele – in Chicago kennt es jetzt wohl jedermann – gehort eine Tafel mit neben-und ubereinander liegenden und mit eins bis dreiundsechzig numerierten Feldern. In vierzehn von diesen Feldern findet sich die Abbildung einer Gans, jenes so ungerechterweise als dumm verschrienen Thieres, das doch mindestens seit dem Tage, wo es das Capitol vor dem Ueberfalle des Brennus und der Gallier rettete, hatte zu Ehren kommen sollen.«
Einige Zweifelsuchtige unter den Zuhorern begannen sich schon zu fragen, ob der selige William I. Hypperbone sich mit dieser unzeitgema?en Ehrenrettung des Gansegeschlechts dem Publicum gegenuber nur einen schlechten Witz erlaube.
Das Testament lautete weiter:
»Bei der erwahnten Anordnung bleiben, jene vierzehn Felder abgerechnet. noch neunundvierzig solche ubrig, wovon nur sechs den Spieler zur Entrichtung eines Einsatzes verpflichten, namlich des einfachen Einsatzes auf dem sechsten Felde, von dem eine Brucke gleich nach dem zwolften hinuberfuhrt, des doppelten auf dem neunzehnten, wo er im Gasthause warten mu?, bis alle Mitspieler zweimal gewurfelt haben, des dreifachen Einsatzes auf dem einundrei?igsten Felde, wo sich ein Schacht befindet, in dem der Spieler zu bleiben hat, bis ein anderer seine Stelle einnimmt, ferner des doppelten auf dem zweiundvierzigsten Felde, dem des Labyrinths, von wo aus er sofort zum drei?igsten, das einen Blumenstrau? zeigt, zuruckkehren mu?, des dreifachen Einsatzes auf dem zweiundfunfzigsten Felde, wo er gefangen sitzen bleibt, bis ein Mitspieler, der ebendahin gelangt, ihn ablost, und endlich noch einmal des dreifachen Einsatzes auf dem achtundfunfzigsten Felde mit einem grinsenden Todtenkopfe und der Verpflichtung, die Partie wieder von vorn anzufangen.«
Als der Notar Tornbrock jetzt schwieg. um nach diesem langen Satze einmal aufzuathmen, erhob sich mehrfaches Murmeln, das jedoch durch die Mehrheit der Zuhorer, die dem Entschlafenen offenbar gunstig gestimmt war, bald unterdruckt wurde, obwohl sich gewi? niemand in das Auditorium gedrangt hatte, um einen Vortrag uber das »Edle Gansespiel« anzuhoren.
Der Notar fuhr mit folgenden Worten fort:
»In dieser Mappe wird man eine Karte und ein Kastchen finden. Die Karte ist die des Edlen Gansespiels, doch mit einer neuen Bezeichnung ihrer Felder, die ich ersonnen habe und die der Allgemeinheit bekanntzugeben ist. Das Kastchen enthalt zwei Wurfel, die vollig denen gleichen, deren ich mich in unserem Club zu bedienen pflegte. Die Karte einer-und die Wurfel andererseits sind zu einer Partie bestimmt, die unter folgenden Bestimmungen gespielt werden soll.«
Wie… ein Spiel?… Es handelte sich um eine Partie Gansespiel?… Offenbar hatte man es mit einem, der die Leute nur foppen wollte, zu thun. Die Geschichte lief auf einen »Humbug«, wie man in Amerika sagt, hinaus.