Theile.
Heute schrieb man den 31. Mai, und bis zum Morgen des 6. Juni hatte Lissy Wag also noch volle sechs Tage zur Verfugung. Gut angewendet, mu?te diese Zeit genugen, auch die neugierigste Besucherin – und ware es selbst die quecksilberne Jovita Foley – reichlich zufrieden zu stellen. Man begiebt sich nach den Hohlen stets in gro?eren Gesellschaften und unter Leitung der erprobtesten Fuhrer, die zu diesem Zwecke fest angestellt sind.
In warmhaltender Kleidung, denn in den tiefen Erdhohlen herrscht eine ziemlich niedrige Temperatur, betraten die Touristen beiderlei Geschlechtes um neun Uhr den Fu?pfad, der, sich zwischen Felsmassen hinschlangelnd, nach den Grotten fuhrt. So kamen sie nach der engen Oeffnung in einem Felsriesen, dem einfachen Eingange zu einer Art Stollen, den man in demselben Zustande, wie ihn die Natur einst schuf, belassen hat, und durch den hochgewachsene Menschen nicht eintreten konnen, ohne sich zu bucken.
Die Fuhrer waren von Negern begleitet, die Grubenlampen und Fackeln trugen, welche sofort angezundet wurden, und unter dem Widerscheine des Lichtes, das sich an tausend Facetten der Wande brach, erreichten die Besucher eine aus dem Gestein geschnittene Treppe. Diese Treppe mundet oben an einer breiteren Galerie, welche unmittelbar nach dem sehr geraumigen Saal der Rotunde hinfuhrt.
Von hier aus verzweigen sich die vielfachen Seitengange, deren gewundenen Verlauf man kennen mu?, um nicht in die Gefahr zu kommen, sich zu verirren, wenn man etwa aus Sparsamkeit auf die Begleitung eines Fuhrers verzichtet hatte. Es giebt nirgends ein verwickelteres Labyrinth, auch die von Lemnos und Kreta nicht ausgenommen.
Durch einen langen, schmalen Gang erreichten die Touristen hierauf einen der ausgedehntesten unterirdischen Raume der Mammuthhohlen, der den Namen der Gothischen Kirche erhalten hat.
Der gothischen?… Zeigt dieses unterirdische Bauwerk wirklich den charakteristischen Spitzbogenstil der Gothik? – Damit ist es zwar nicht so genau zu nehmen, doch bleibt es trotzdem wunderbar schon mit den Stalagmiten und Stalaktiten, die von seinem Deckengewolbe herabhangen, durch die merkwurdig gewundenen Saulen, die das Dach tragen, durch die Gestaltung der aufeinandergeschichteten Felslager, deren Krystallgebilde im Lichte flimmern, und durch die naturliche und doch so phantastische Vertheilung des Gesteins, das hier einen Altar mit allem liturgischen Schmucke, dort eine Empore mit einer Orgel darstellt, deren Pfeifen bis zu den Rippen der Deckenwolbung hinausreichen, und dort wieder einen Balkon oder eine Art Kanzel bildet, von wo aus schon mehrfach zufallig anwesende Geistliche vor einer Gemeinde von funf-bis sechstausend Glaubigen gepredigt haben.
Selbstverstandlich theilte die Gesellschaft von Ausfluglern das Entzucken Jovita Foley’s, und uberall wurden unwillkurliche Ausrufe der Bewunderung laut.
»Nun, Lissy, bedauerst Du unsere Reise?
– Nein, Jovita, hier ist es uberraschend schon!
– Sagst Du Dir aber auch, da? alles das das Werk der Natur ist, da? keine Menschenhand diese Grotten hatte aushohlen konnen, da? wir uns tief in den Eingeweiden des Erdbodens befinden?
– Ja – und ich erschrecke nur, antwortete Lissy Wag, bei dem Gedanken, da? man sich hier verirren konnte.
– O, das glaub ich Dir gern, mein Herzchen, Du siehst uns schon beide in den Mammuthhohlen verloren, so da? wir das Eintreffen des Telegramms von dem guten Herrn Tornbrock verfehlen, nicht wahr, Schatz?…«
Eine halbe Lieue war schon von der Eingangsoffnung bis zur Gothischen Kirche zuruckzulegen gewesen. Im weiteren Verlaufe des Besuches wurde es sehr haufig nothig, sich zu bucken, zuweilen sogar durch die engen und niedrigen Gange, die nach dem Saale der Gespenster fuhren, fast zu kriechen. Hier fuhlte sich Jovita Foley aber schwer enttauscht, da sie keine der geisterhaften Erscheinungen sah, die ihre Phantasie dieser tiefen, finsteren Hohle angedichtet hatte.
Der Saal der Gespenster dient in Wirklichkeit als ein Platz zum Ausruhen. Er ist durch Fackelschein gut erleuchtet und enthalt ein wohlversorgtes Buffet, wo schon das fur die Bewohner des Mammoth Hotel bestimmte Fruhstuck bereit stand.
Dieser Saal sollte eigentlich das Sanatorium hei?en, denn hierher begeben sich nicht selten Kranke, die der Atmosphare der kentuckyschen Grotten eine besondere Heilkraft zuschreiben. Auch heute hatten sich deren wohl zwanzig versammelt, die sich jetzt an Tischen vor dem riesigen Skelet eines Mastodons niederlie?en, von dem die weiten Erdhohlen jedenfalls den Namen Mammuth erhalten haben.
Hier endete der erste Theil der Besichtigung der Grotten, deren Besuch fortgesetzt werden sollte, wenn die Touristen erst noch in einer kleinen Kapelle, gleichsam einer Miniaturnachbildung der Gothischen Kirche, Halt gemacht hatten. Der Besuch endigt vor einem bodenlosen Abgrunde, in den die Fuhrer angezundetes Papier zu werfen pflegen, um die schauerliche Tiefe zu beleuchten, vor dem Bottomle?-Pit, dessen ausgehohlte Wand den sogenannten Teufelsstuhl bildet, an den sich – das Gegentheil ware weit merkwurdiger – so manche Sage knupft.
Nach dem immerhin ermudenden Wege lie?en sich die Touristen gar nicht bitten, wieder nach der Galerie zuruckzukehren, die nach dem Eingange zu den Grotten fuhrt, und hierher noch lieber, als nach einem anderen Ausgange durch den Dom von Ammath, der zwar auch ziemlich in der Nahe des Hotels liegt, doch nur auf langem Umwege zu erreichen ist.
Eine vorzugliche Mahlzeit und eine Nacht ungestorter Ruhe gaben den beiden Freundinnen fur den morgigen Ausflug die nothigen Krafte wieder.
Der Besuch dieser wunderbaren Hohlen – ein Spaziergang durch die verzauberte Welt von Tausend und einer Nacht – ohne dabei Damonen oder Gnomen zu begegnen, lohnt ubrigens reichlich die damit verbundene Anstrengung, und Jovita Foley gestand auch gerne zu, da? das sich hier bietende Schauspiel die Grenzen der menschlichen Phantasie uberschreite.
Die energische kleine Person legte denn auch funf Tage hintereinander Proben einer Ausdauer ab, woran die der anderen Touristen, selbst die der Fuhrer, nicht heranreichte; sie bestand darauf, alles zu sehen, was man bisher von den beruhmten Grotten kannte, und bedauerte nur, nicht auch bis zu deren unbekanntem Theile vordringen zu konnen. Was sie aber that, konnte Lissy Wag nicht ausfuhren, und diese mu?te deshalb schon am dritten Tage bitten, sie mit weiterer Anstrengung zu verschonen. Sie war ja auch erst unlangst ernstlich krank gewesen und durfte sich nicht zu viel zumuthen, um an der Fortsetzung der Reise nicht gehindert zu werden.
Die letzten Ausfluge machte Jovita Foley also ohne die Begleitung Lissy Wag’s.
So besuchte sie noch die Hohle des Riesendomes, deren Decke sich in einer Hohe von funfundsiebzig Toisen (146 1/4, Meter) ausspannt, das Sternenzimmer, dessen Wande mit Diamanten und anderen Edelsteinen, die im Fackelscheine erglanzen, besetzt zu sein scheinen, ferner die Clevelandallee, deren Seiten wie mit seinen Spitzen und mineralischen Bluthen verziert sind, den Ballsaal mit seinen von einer wei?lichen Ausschwitzung schneeahnlichen Mauern, die Felsenberge, eine Anhaufung von Felsblocken und hohen Pics bei deren Anblick man glauben mochte, da? die Bergketten von Utah und Colorado sich bis ins Innere der Erde fortsetzten, und endlich die Feengrotte mit ihren reichen, von unterirdischen Quellen gebildeten sedimentaren Formationen, mit Bogen, Pfeilern, selbst einem riesenhaften Baume, einer Palme aus Stein, die bis zur Deckenwolbung dieses vier Lieues vom Haupteingange der Mammuthhohlen gelegenen Saales emporragt.
Und welche nie verblassende Erinnerung mu?te die unermudliche Besucherin davon mitnehmen, als sie nach Durchschreitung des Portals des Domes von Goran in einem Boote den Lauf des Styx hinunterglitt, der sich wie ein Jordan der Unterwelt zuletzt in das Todte Meer ergie?t.
Wenn es wahr ist, da? im Wasser des biblischen Flusses kein Fisch leben kann, so liegt das anders bezuglich dieses unterirdischen Sees. Hier fangt man massenhaft Siredonen und Cypronidonen, deren optischer Apparat vollig verkummert ist, wie der einzelner augenloser Arten, die in mehreren Gewassern Mexikos vorkommen.
Das sind die unvergleichlichen Wunder dieser Grotten, die bis jetzt nur einen Theil ihrer Geheimnisse enthullt haben. Wer wei?, welche Merkwurdigkeiten sie noch enthalten, und vielleicht entdeckt man dereinst gar eine ganze, nie getraumte Welt in den Eingeweiden der Erde.
Endlich schlugen die letzten Stunden der funf Tage, die Jovita Foley und ihre Gefahrtin bei den Mammuthhohlen zubringen sollten. Am 6. Juni mu?te die Depesche im Comptoir des Hotels selbst eintreffen.
Bei dem Interesse, das die hier wohnenden Touristen der funften Partnerin entgegenbrachten, verging der Vormittag des nachsten Tages gewi? unter fieberhafter Spannung… einer Ungeduld, von der Lissy Wag vielleicht als einzige nicht gar viel empfand.
Bei der Tafel am heutigen Abend wiederholten sich die Toaste des ersten Tages nur umso lauter und