Alexander Wolkow

Der Zauberer der Smaragdenstadt

Der Sturm

In der weiten Steppe von Kansas lebte ein kleines Madchen namens Elli Ihr Vater, der Farmer John, arbeitete den ganzen lieben Tag auf dem Felde, Mutter Anna fuhrte die Wirtschaft.

Sie wohnten in einem kleinen Packwagen, dem man die Rader abgenommen hatte.

Die Einrichtung ihres Hauschens war armselig: ein Blechofen, ein Schrank, ein Tisch, drei Stuhle und zwei Betten. Vor der Tur befand sich ein «Sturmkeller», in dem die Familie bei Gewitter Zuflucht suchte.

Die Gewitter der Steppe hatten das leichte Hauschen von Farmer John schon viele Male umgeworfen. Doch er verzagt niemals. War der Sturm vorbei, richtete er das Hauschen wieder auf, stellte Ofen und Bett auf ihren Platz, und Elli las die Zinnteller und Tassen vom Boden auf. Dann war wieder alles in Ordnung, bis das nachste Gewitter kam.

Ringsum dehnte sich bis an den Horizont die Steppe. Da und dort waren ebensolche armliche Hauschen zu sehen wie das von Farmer John. Acker umgaben sie, auf denen die Leute Weizen und Mais anbauten.

Elli kannte alle Nachbarn drei Meilen weit im Umkreis. Im Westen lebte Onkel Robert mit seinen Sohnen Bob und Dick. Im Norden stand das Hauschen des alten Rolf, der wunderschone Windmuhlen fur die Kinder bastelte.

Die weite Steppe kam Elli nicht ode vor, denn sie war dort geboren und kannte uberhaupt keinen anderen Ort. Berge und Walder hatte Elli nur auf Bildern gesehen, und sie lockten sie gar nicht. Wohl deshalb, weil sie in ihren billigen Buchern schlecht gezeichnet waren.

War's ihr langweilig, rief sie das lustige Hundchen Totoschka und machte sich mit ihm zu Dick und Bob auf, oder sie ging zum alten Rolf, von dem sie stets mit einem Spielzeug heimkehrte, das er selber gefertigt hatte.

Totoschka sprang bellend vor dem Madchen einher, jagte den Krahen nach und war sehr zufrieden mit sich und seiner kleinen Herrin. Das Hundchen hatte ein schwarzes Fell, spitze Ohren und kleine, lustige Auglein. Ihm war es nie langweilig, es konnte den ganzen Tag mit dem Madchen spielen.

Elli hatte viele Sorgen. Sie mu?te der Mutter in der Wirtschaft helfen und beim Vater lesen, schreiben und rechnen lernen; denn die Schule war weit entfernt, und Elli war noch zu klein, um jeden Tag hinzugehen.

An einem Sommerabend sa? sie auf der Treppe des Hauschens und las laut in einem Marchenbuch, wahrend Mutter Anna Wasche wusch.

«Und da sah der machtige Riese Arnaulf den Zauberer, der so hoch wie ein Turm war», las Elli in singendem Tonfall, wahrend ihr Finger die Zeilen entlangglitt. «Flammen schossen aus dem Mund und der Nase des Zauberers.»

«Mutti, gibt es jetzt Zauberer?» fragte Elli aufblickend.

«Nein, mein Kind. Zauberer gab es einst, doch dann verschwanden sie. Ich wu?te nicht, wer sie braucht. Auch ohne sie gibt es Sorgen genug…»

Elli rumpfte drollig die Nase:

«Ja, aber ohne Zauberer ist es doch langweilig. Wenn ich Konigin ware, wurde ich unbedingt Befehl geben, da? jede Stadt und jedes Dorf einen Zauberer hat. Und da? er fur die Kinder allerlei Wunder tut.»

«Welche zum Beispiel?» lachelte die Mutter.

«Nun… da? jedes Madelchen und jeder Junge, wenn sie morgens aufwachen, einen gro?en Pfefferkuchen unterm Kissen finden… Oder…» Elli schaute mi?mutig auf ihre derben, ausgetretenen Schuhe, «…da? alle Kinder schone leichte Schuhe haben…»

«Schuhe bekommst du auch ohne Zauberer», entgegnete Mutter Anna. «Vater nimmt dich auf den Markt mit und kauft dir welche…»

Wahrend das Madchen mit der Mutter sprach, verdunkelte sich der Himmel.

* * *

Zur gleichen Stunde sa? in einem fernen Lande hinter hohen Bergen die bose Hexe Gingema in einer tiefen, finsteren Hohle und zauberte.

Es war unheimlich in dieser Hohle. Unter der Decke hing ein riesiges ausgestopftes Krokodil. Auf hohen Staben sa?en gro?e Uhus, und von der Decke hingen Bundel getrockneter Mause herab, mit den Schwanzen an Schnurchen festgebunden wie Zwiebeln. Eine lange dicke Schlange, die sich um einen Pfeiler gewunden hatte, schaukelte gleichma?ig ihren bunten flachen Kopf. Diese und viele andere seltsame und grausige Dinge gab es in der weiten Hohle Gingemas.

Sie braute in einem gro?en verraucherten Kessel einen Zaubertrank, in den sie Mause hineinwarf, die sie, eine nach der andern, von dem Bundel pfluckte.

«Wo hab ich nur die Schlangenkopfe hingetan?» brummte Gingema bose vor sich hin. «Ich habe sie doch nicht alle beim Fruhstuck aufgegessen. Oh, da sind sie ja, im grunen Topf. Das wird ein prachtiger Trank!… Jetzt will ich's den verfluchten Menschen heimzahlen! Wie ich sie hasse!… Sie haben sich uber die Welt verbreitet, die Sumpfe trockengelegt und die finsteren Walder abgeholzt!… Alle Frosche haben sie ausgerottet!… Sie vernichten die Schlangen! Keinen Leckerbissen haben sie auf der Erde gelassen! Soll ich mich jetzt nur noch mit Wurmern und Spinnen laben?…»

Gingema schuttelte drohend ihre knochige Faust und warf Schlangenkopfe in den Kessel.

«Uh, diese verha?ten Menschen! So, nun ist der Trank fertig. Auf da? ihr an ihm verrecket! Ich werde Wald und Feld damit besprengen, und ein Sturm wird ausbrechen, wie ihn die Welt noch nicht erlebt hat!»

Gingema fa?te den Kessel an den Henkeln und trug ihn keuchend aus der Hohle. Dann tauchte sie einen gro?en Besen ein und begann das Gebrau um sich zu verspritzen. «Entlade dich, Sturm! Brause durch die Welt wie ein rei?endes Tier. Zerbreche, zermalme, zerschmettre! Sturze die Hauser um, heb sie in die Luft! Sussaka, massaka, lema, rema, gema!… Burido, furido, sema, pema, fema!…»

Sie stie? die Zauberworte hervor und fuchtelte mit dem zerzausten Besen. Der Himmel verfinsterte sich, Wolken zogen herauf, der Wind heulte, Blitze zuckten in der Ferne…

«Zerschmettre, zerbrech, zermalm!» gellte die Hexe. «Sussaka, massaka, burido, furido! Vernichte, Sturm, die Menschen, die Tiere, die Vogel. Nur die Frosche, die Mause, die Schlangen, die Spinnen verschon! Sie sollen sich uber die ganze Welt verbreiten, damit ich, die machtige Zauberin Gingema, mein Vergnugen daran hab. Burido, furido, sussaka, massaka!»

Immer starker blies der Wind, Blitze zuckten, ohrenbetaubend krachte der Donner.

Wie besessen drehte sich Gingema im Kreise, und die Scho?e ihres langen schwarzen Mantels wallten im Winde.

* * *

Durch die Hexenkunst ausgelost, walzte sich der Sturm nach Kansas und kam dem Hauschen Johns immer naher. Am Horizont verdichteten sich die Wolken, Blitze durchzuckten sie.

Totoschka lief mit gerecktem Kopf unruhig umher und bellte herausfordernd die Wolken an, die schnell am Himmel dahinsegelten. «Totoschka, bist du aber komisch!» sagte Elli. «Du willst die Wolken erschrecken und hast doch selber Angst!»

Das Hundchen hatte wirklich gro?e Angst vor den Gewittern, die es in seinem kurzen Leben schon sooft gesehen hatte.

Mutter Anna sagte unruhig:

«Da stehe ich und schwatze mit dir, Tochterchen, und dabei zieht ein schweres Gewitter auf…»

Schon heulte drohend der Wind. Der Weizen auf dem Feld hatte sich zur Erde geneigt und wogte wie ein Meer.

Farmer John kam aufgeregt vom Feld gelaufen.

«Ein Sturm, ein schrecklicher Sturm naht», schrie er, «lauft schnell in den Keller, ich will noch rasch das Vieh in den Stall treiben.»

Mutter Anna lief auf den Keller zu und warf den Deckel zuruck.

«Elli, Elli! Komm her, schnell!» rief sie.

Добавить отзыв
ВСЕ ОТЗЫВЫ О КНИГЕ В ИЗБРАННОЕ

0

Вы можете отметить интересные вам фрагменты текста, которые будут доступны по уникальной ссылке в адресной строке браузера.

Отметить Добавить цитату