wollte Irene nach.
Urilla hielt ihn auf halbem Weg zur Tur auf und sagte: »Nicht, Jacob. La? Irene eine Weile allein!«
Jacob sah sie zweifelnd an.
»Glaub mir, es ist besser«, bekraftigte Urilla und dachte daran, wie sie sich gefuhlt hatte nach dem Tod ihres kleinen Bruders, nach der Ermordung ihrer Mutter und ihrer Schwestern, nachdem sie ihr Ungeborenes hatte wegmachen lassen - und schlie?lich vor kurzem erst nach dem Tod ihres Vaters.
Jacob nickte. »Ist gut, Urilla. Ich werde nur die Tur schlie?en.«
Nachdem er das erledigt hatte, setzte er sich wieder an den Tisch, wo alle mit Ausnahme von Irene vor ihren Tellern sa?en, ohne deren Inhalt oder auch nur ihre Loffel anzuruhren.
Jacob sah Driscoll an und fragte: »Wie ist das passiert, Reverend, die Sache mit Carl Dilger?«
»Ich wei? es nicht. Ich war nicht dabei. Mir ist nur die ungluckliche Aufgabe zugefallen, die Nachricht zu uberbringen.« Driscoll blickte zur Tur. »Ich kann verstehen, da? sich Mr. Bodeen darum gedruckt hat.«
Urilla nahm ihren Loffel auf und sagte: »Wir sollten jetzt essen. Es hilft keinem, wenn der Eintopf kalt wird.«
Der Reverend erhob sich und sprach ein Tischgebet, in dem er um besondere Fursorge fur die Seelen von Billy Calhoun und Carl Dilger bat. Abschlie?end bat er den Herrn darum, Irene ihren Schmerz ein wenig zu erleichtern.
Sie a?en schweigend und lustlos.
Irgendwann kehrte Irene zuruck und setzte sich an den Tisch. Ihre geroteten Augen und Wangen verrieten, da? sie geweint hatte. Jetzt weinte sie nicht mehr.
Ihre Stimme klang fest, als sie sagte: »Ich werde nach Hoodsville fahren. Ich will mich selbst davon uberzeugen. Ich will Carls Grab mit eigenen Augen sehen.«
*
Am nachsten Morgen brachen Jacob, Irene und Reverend Driscoll nach Hoodsville auf. Jacob und Irene, um dort Naheres uber Carl Dilgers Tod in Erfahrung zu bringen. Der Reverend, um sich dort niederzulassen und eine Kirche zu bauen.
Jamie lie?en sie in der Obhut von Martin und Urilla zuruck. Sie wurden sich gewi? gut um den Kleinen kummern. Urilla als werdende Mutter. Und Martin als Jamies Pate. Jacob und Martin hatten sich auf dem Auswandererschiff um die schwangere Irene gekummert und waren von ihr aus Dankbarkeit und Freundschaft darum gebeten worden, die Paten des Jungen zu sein. Jacob-Martin war der vollstandige Name des Kindes, aber in Amerika war rasch Jamie daraus geworden.
Hoodsville lag zwei Tagesreisen im Norden. Jacob und Urilla nahmen den Planwagen, vor den Jacob die Pferde spannte, mit denen Alan Clayton damals von Kansas City aus zum Treck aufgeschlossen hatte. Fur eine kurze, schnelle Reise waren die Pferde geeigneter als die Ochsen, die Jacob und Martin fur den Oregon-Treck bevorzugt hatten. Blake Driscoll ritt seinen knochigen Rappen.
Es war ein truber, wolkenverhangener, nebliger Tag, an dem es uberhaupt nicht richtig hell werden wollte. Jacob spurte wieder den Hauch des nahen Winters, den ihnen der Eiswind von den Bergen entgegenblies. Es war das passende Wetter fur diese Reise, die einem Toten galt.
Trub wie der Tag war auch die Stimmung der drei Reisenden, die nur das Notigste miteinander sprachen. Jeder hing seinen Gedanken nach.
Welche es bei dem Reverend waren, wu?te Jacob nicht und konnte es auch nicht vermuten.
Nach vorn gebeugt sa? der hagere Mann im Sattel, den Mantelkragen hochgeschlagen und den Hut tief ins Gesicht gezogen. Der schwarzgekleidete Reiter auf dem schwarzen Pferd wirkte wie ein Damon, wie ein Todesengel, der er in gewisser Hinsicht ja auch war.
Zumindest, was den von ihm erschossenen Trapper betraf, uber den er kaum ein Wort verloren hatte. Und in Bezug auf Irene und Carl Dilger war er ein Todesbote.
Jacob konnte sich nicht helfen, aber irgend etwas stie? ihn an dem Mann ab. Er hatte ihm dankbar sein mussen, da? er Urilla geholfen hatte. Auch dafur, da? er den weiten Ritt auf sich genommen hatte, um Irene vom Tod ihres Geliebten zu unterrichten. Jacob war ihm auch dankbar. Aber das seltsame Gefuhl, das den jungen Deutschen jedesmal beim Anblick der dunklen Gestalt beschlich, wollte nicht weichen.
Welchen Gedanken sich Irene hingab, die stumm und starr neben Jacob auf dem Bock sa?, konnte er sich nur zu gut vorstellen. Es mu?ten ahnliche Gedanken sein wie die von ihm gehegten, als er von seiner langen Wanderschaft nach Elbstedt heimgekehrt war und erfahren hatte, da? seine Mutter tot war.
Irene sann uber den Mann nach, den sie verloren hatte. Und uber den Vater, den Jamie niemals haben wurde. Sie hatte die weite Reise von Hamburg uber den Atlantik nach New York und von dort quer durch den ganzen Kontinent bis hierher unternommen, um ihren Geliebten zu finden. Aber alles, was sie finden sollte, war ein Grab in Oregon.
Jacob dachte daran, wie er sich bei der Nachricht gefuhlt hatte, da? sein Vater und seine Geschwister tot seien.
Mehrmals hatte er Irene aufgefordert, sich ins Innere des Wagens zu begeben, wo sie durch die dicke Segeltuchplane vor dem scharfen Wind geschutzt gewesen ware. Aber sie weigerte sich standhaft. Er konnte es sogar verstehen. Dort drinnen, ganz allein im Halbdunkel, mu?te sie sich fuhlen wie in einem Grab.
Jacob hatte eigentlich froh daruber sein sollen, Irene so nah zu sein. Er hatte ihre Nahe immer als etwas Angenehmes empfunden - kein Wunder, denn er liebte Irene.
Er hatte zu ihr nie daruber gesprochen, weil Carl Dilgers Schatten stets zwischen ihnen gestanden hatte. Manchmal glaubte er, da? Irene auch fur ihn mehr empfand als fur einen blo?en Freund. Aber selbst wenn es so war, was hatte es genutzt? Nicht Jacob, sondern Dilger war Jamies Vater. Nicht Jacob, sondern Dilger hatte Irene versprochen, sie zur Frau zu nehmen.
Jetzt war plotzlich alles anders. Die Nachricht von Dilgers Tod hatte Jacob zum erstenmal den Ausblick auf eine gemeinsame Zukunft mit Irene eroffnet. In der schlaflosen Nacht, die er verbracht hatte, hatte er immer wieder daran gedacht.
Das war der Grund, weshalb er Irenes Nahe auf einmal als unangenehm empfand. Er schamte sich seiner selbstsuchtigen Gedanken angesichts des Leids, das Irene widerfahren war. Immer wieder versuchte er, diese Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen. Aber es wollte ihm nicht gelingen.
Auch wahrend der Mittagsrast herrschte eine gedruckte Stimmung. Sie schlugen ihr Lager am Rande eines kleinen Waldes auf und spannten die Zugpferde zwar ab, lie?en sie aber im Geschirr, um nicht zuviel Zeit zu verlieren. Sie warmten Bohnen und Speck auf und a?en Maisbrot dazu. Das Ganze spulten sie mit hei?em Kaffee herunter, um die immer unangenehmer werdende Kalte aus ihren Knochen zu vertreiben. Wahrend des Essens begann es zu regnen, und sie sahen zu, da? sie schnell weiterkamen.
»Hier mussen wir nach links«, sagte Reverend Driscoll irgendwann am Nachmittag und zeigte auf die Auslaufer der Cascade Range.
»In die Berge?« fragte Jacob unglaubig, wahrend er auf Felsen und Baume blickte. »Da kommen wir mit dem Wagen niemals durch.«
»Doch, kommen wir«, widersprach der schwarze Reiter. »Ich kenne eine Abkurzung, durch die wir einen halben Tag sparen.
Es ist eine langgezogene Schlucht, die fur den Planwagen ohne weiteres passierbar ist.«
Driscoll kannte sich in der Gegend besser aus als Jacob. Also lenkte der Deutsche, wenn auch widerwillig, den Wagen in die angegebene Richtung. Er rumpelte uber stetig ansteigendes Gelande. Viel mehr konnte Jacob nicht erkennen, da sich auf beiden Seiten hohe Fichten und Hemlocktannen in den dusteren Himmel reckten, als wollten sie ihn aufrei?en und die hinter dicken Wolken verborgene Sonne endlich zum Vorschein bringen.
Je steiler es wurde, desto mehr mu?ten sich die Zugpferde anstrengen. Bald stand ihnen Schaum vor dem Maul. Nur dem Rappen des Reverends schien der anstrengende Weg nichts auszumachen.
»Sind Sie sicher, da? dies der richtige Weg ist, Reverend?« erkundigte sich Jacob, als der Wagen nur noch mit der Geschwindigkeit eines langsamen Fu?gangers vorwartskam.
»Absolut«, antwortete Driscoll mit einem bekraftigenden Nicken. »Gleich haben wir es uberstanden. Die Steigung wird aufhoren, und wir kommen wieder schneller voran.«
»Das sollten wir auch, wenn wir tatsachlich Zeit einsparen wollen«, brummte Jacob.
Irene schien das alles unbeeindruckt zu lassen. Ihr glasiger Blick war in weite Ferne gerichtet. Vielleicht weilte sie in Gedanken schon in Hoodsville, am Grab ihres Geliebten. Oder sie befand sich in der Vergangenheit, in