meisten dieser Leute schrieben zuruck und schilderten bereitwillig Einzelheiten. Solche Detektivarbeit ist sinnvoll und zweifellos auch befriedigend. Aber diese Ermittlungen folgten Jahre spater, nachdem ich die Farm verlassen hatte, und bestatigten nur, was ich schon wusste.

Schon?, fragen Sie, und ich antworte einfach: Ja. Schon. Und ich wusste es nicht nur, als es passierte, sondern einen Teil davon bereits im Voraus. Den letzten Teil.

Wie das denn? Die Antwort ist einfach: Meine tote Frau hat es mir erzahlt.

Das glauben Sie naturlich nicht. Dafur habe ich Verstandnis. Das tate jeder vernunftige Mensch. Ich kann nur wiederholen, dass dies mein Gestandnis, mein letztes Wort auf Erden ist, das keine einzige bewusste Unwahrheit enthalt.

In der folgenden Nacht (oder der ubernachsten; nachdem das Fieber von mir Besitz ergriffen hatte, verlor ich jegliches Zeitgefuhl) wachte ich am Herd sitzend aus einem Dammerschlaf auf und horte wieder die huschenden, trippelnden Gerausche. Anfangs glaubte ich wieder an Schneeregen, aber als ich aufstand, um von dem altbackenen Laib auf dem Kuchentisch einen Kanten Brot abzurei?en, sah

Der Schnappriegel bewegte sich. Erst zitterte er nur, als ware die Hand, die ihn offnen wollte, zu schwach, um ihn ganz aus der Nut zu heben. Die Bewegung horte auf, und ich war eben zu dem Schluss gelangt, gar nichts gesehen zu haben - alles sei eine Illusion im Fieberwahn gewesen -, als er mit leisem Klicken ganz hochging und die Tur mit einem Schwall kalter Luft aufschwang. Auf der Veranda stand meine Frau. Sie trug weiter ihr Haarnetz aus Rupfen, jetzt mit Schnee gefleckt; von dem Ort, der ihr letzter Ruheplatz hatte sein sollen, musste es ein langer, schmerzhafter Weg heruber gewesen sein. Ihr Gesicht war von Verwesung schlaff, die untere Halfte seitlich verschoben, ihr Grinsen breiter denn je. Es war ein wissendes Grinsen, und wieso auch nicht? Die Toten verstehen alles.

Arlette war von ihren treuen Gefolgsleuten umgeben. Sie hatten sie irgendwie aus dem Brunnen geholt, und sie hielten sie aufrecht. Ohne sie ware sie nicht mehr als ein Gespenst gewesen: bosartig, aber machtlos. Aber sie hatten sie animiert. Sie war ihre Konigin; sie war auch ihre Marionette. Sie kam in die Kuche und bewegte sich dabei mit schwankendem, grausig knochenlosem Schritt, der keine Ahnlichkeit mit dem Gang eines Menschen hatte. Die Ratten flitzten um sie herum, manche sahen liebevoll zu ihr auf, andere starrten mich hasserfullt an. Als sie wie auf einem Rundgang durch ihr fruheres Reich durch die Kuche wankte, fielen Erdbrocken von ihrem Kleidersaum (von dem Quilt und der Tagesdecke war nichts zu sehen), und ihr Kopf uber der durchgeschnittenen Kehle rollte schwankend hin und her. Einmal kippte er bis zu den Schulterblattern

Als sie ihren glanzlosen Blick endlich auf mich richtete, wich ich in die Ecke neben dem jetzt fast leeren Brennholzkasten zuruck. »Lass mich in Ruhe«, flusterte ich. »Du bist nicht mal hier. Du sitzt im Brunnen und kannst nicht raus, selbst wenn du nicht tot bist.«

Sie lie? ein Gurgeln horen - es klang, als wurde jemand an dicker Bratenso?e ersticken - und kam weiter auf mich zu, real genug, um einen Schatten zu werfen. Und ich konnte ihr verwesendes Fleisch riechen, das jener Frau, die einst in leidenschaftlichen Augenblicken Zungenkusse mit mir getauscht hatte. Sie war hier. Sie war real. Ebenso real war ihr Gefolge. Ich konnte spuren, wie die Ratten uber meine Fu?e hin und her huschten und mich mit ihren Schnurrbarthaaren an den Knocheln kitzelten, wahrend sie am Beinabschluss meiner langen Unterhose schnuffelten.

Als ich dem naher kommenden Leichnam ausweichen wollte, stie? ich mit den Fersen an den Brennholzkasten, verlor das Gleichgewicht und setzte mich darauf. Dabei schlug ich mir die entzundete und geschwollene Hand an, nahm den Schmerz aber kaum wahr. Sie beugte sich uber mich, und ihr Gesicht … baumelte. Das Fleisch hatte sich von den Knochen gelost, und ihr Gesicht hing jetzt herunter wie ein auf einen schlaffen Kinderballon gemaltes Gesicht. Eine Ratte erkletterte den Brennholzkasten, plumpste auf meinen Bauch, lief die Brust hinauf und beschnuffelte die Unterseite meines Kinns. Ich spurte andere uber meine gebeugten Knie huschen. Aber sie bissen mich nicht. Dieser spezielle Auftrag war schon ausgefuhrt.

Sie beugte sich noch tiefer zu mir herunter. Der Gestank, den sie verstromte, war uberwaltigend, und ihr von einem Ohr zum anderen reichendes schiefes Grinsen … ich sehe es vor mir, wahrend ich dies schreibe. Ich wollte sterben,

Das wei? ich jetzt.

Nachdem Henry mit 200 Dollar in der Tasche (oder eher 150 Dollar, weil ein Teil des Geldes zu Boden gefallen war, wie Sie sich erinnern werden) aus der First Agricultural Bank gefluchtet war, verschwand er fur einige Zeit. Er »tauchte unter«, wie es bei Verbrechern hei?t. Das sage ich mit einem gewissen Stolz. Ich hatte geglaubt, dass man ihn fast sofort nach seiner Ankunft in der Stadt schnappen wurde, aber er widerlegte meine Befurchtungen. Er war verliebt, er war verzweifelt, er brannte weiter vor Schuldgefuhlen und Entsetzen wegen des Verbrechens, das er und ich verubt hatten … aber trotz dieser Ablenkungen (dieser Infektionen) bewies mein Sohn Tapferkeit und Cleverness, sogar eine gewisse traurige Noblesse. Der Gedanke an letzteren Charakterzug ist der schlimmste. Er erfullt mich noch heute mit Melancholie wegen seines verpfuschten Lebens (wegen dreier verpfuschter Leben; ich darf die arme schwangere Shannon Cotterie nicht vergessen) und Reuegefuhlen wegen des Verderbens, in das ich ihn wie ein Kalb mit einem Strick um den Hals gefuhrt habe.

Arlette zeigte mir die Hutte, in der er sich verkrochen hatte, und das dahinter versteckte Fahrrad - dieses Fahrrad war das Erste, was er sich von seiner Beute kaufte. Ich hatte Royal Crown Cola auf der Giebelseite. Sie stand einige Meilen au?erhalb von Omaha in Sichtweite des Waisenhauses »Boys Town«, das erst im Jahr zuvor den Betrieb aufgenommen hatte. Ein einziger Raum, ein unverglastes Fenster, kein Ofen. Henry versteckte sein Fahrrad unter Heu und Unkraut und schmiedete Plane. Ungefahr eine Woche nach dem Uberfall auf die First Agricultural Bank - unterdessen wurde die Polizei sich kaum mehr fur diesen nicht gerade spektakularen Bankraub interessieren - begann er, Radtouren nach Omaha hinein zu unternehmen.

Ein einfaltiger Junge ware geradewegs zum Madchenheim St. Eusebia gefahren und von den dortigen Cops geschnappt worden (wie Sheriff Jones zweifellos erwartet hatte), aber Henry Freeman James war cleverer. Er kundschaftete die Lage des Heims aus, ohne sich ihm jedoch zu nahern. Stattdessen sah er sich nach dem nachsten Su?warenladen mit einer Eis- und Limonadentheke um. Er vermutete ganz richtig, dass die Madchen dort hingehen wurden, sooft sie konnten (das hei?t, wenn sie sich durch Wohlverhalten einen freien Nachmittag verdient hatten und etwas Geld ihr Eigen nannten). Und obwohl die Madchen aus St. Eusebia keine Schuluniform tragen mussten, waren sie an ihrer uneleganten Kleidung, ihrem gesenkten Blick und ihrem Benehmen - abwechselnd scheu und kokett - leicht zu erkennen. Die mit dickem Bauch und ohne Trauring mussten am auffalligsten sein.

Ein dummer Junge hatte versucht, an der Limonadentheke mit einer dieser bedauernswerten Evastochter ins Gesprach zu kommen, was hatte auffallen mussen. Henry postierte sich au?erhalb: an der Einmundung einer Gasse, die hinter dem Su?warenladen und dem Kurzwarengeschaft

Ich habe die junge Frau spater ausfindig gemacht und mit ihr gesprochen. Dazu war nicht allzu viel Spursinn erforderlich. Henry und Shannon kam Omaha bestimmt wie eine Metropole vor, aber im Jahr 1922 war es nur eine uberdurchschnittlich gro?e Kleinstadt im Mittleren Westen mit Gro?stadtambitionen. Heute ist Victoria Hallett eine ehrbare Ehefrau mit drei Kindern, aber im Herbst 1922 war sie Victoria Stevenson: jung, neugierig, rebellisch, im sechsten Monat schwanger und scharf auf Zigaretten der Marke Sweet Corporal. Sie griff gern zu, als Henry ihr sein Packchen anbot.

»Nimm noch ein paar fur spater mit«, forderte er sie auf.

Sie lachte. »Das ware ganz schon plemplem! Wenn wir zuruckkommen, filzen die Schwestern unsere Handtaschen und lassen uns alle Taschen umkehren. Wei?t du was? Ich muss schon drei Lakritzstangen essen, blo? damit man diese eine Kippe nicht riecht.« Sie tatschelte halb amusiert, halb trotzig ihren dicken Bauch. »Ich hab Arger, wie du bestimmt siehst. Boses Madchen! Und mein Schatz ist abgehauen. Boser Junge, aber das kummert die Welt nicht! Also hat der Alte mich in ein Gefangnis gesteckt, das von Pinguinen bewacht wird …«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Jesses! Der Alte ist mein Dad! Und Pinguine nennen wir die Schwestern!« Sie lachte wieder. »Du bist ein richtiges

»St. Eusebia.«

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