Sauerstoff ganz tief unten in seiner Lunge. Das fuhlte sich wundervoll an. »Wenn der Krebs aggressiv ist, hilft die Chemo nicht dem Patienten. Sie ist nur ein Schmerzzuschlag, den der Patient entrichten muss, damit die Arzte und Verwandten sich nach seinem Tod umarmen und sagen konnen: ›Wir haben getan, was wir konnten.‹«

»Ein hartes Urteil«, sagte Henderson. »Du wei?t, dass ein Ruckfall wahrscheinlich ist, oder?«

»Erzahl das den Tumoren«, sagte Streeter. »Denen, die nicht mehr da sind.«

Henderson betrachtete die Aufnahmen von Streeters Innerem, die weiter in Abstanden von zwanzig Sekunden auf dem Bildschirm im Sprechzimmer erschienen, und seufzte. Die Aufnahmen waren gut, das wusste sogar Streeter, aber sie schienen seinen Arzt unglucklich zu machen.

»Nicht aufregen, Roddy.« Streeter sprach sanft, wie er fruher vielleicht mit May oder Justin gesprochen hatte, wenn ein Lieblingsspielzeug verloren- oder kaputtging. »Schei?e passiert eben; manchmal gibt es auch Wunder. Das habe ich in Reader’s Digest gelesen.«

»Meines Wissens ist noch nie eines in einer MRI-Rohre passiert.« Henderson griff nach einem Kugelschreiber und tippte damit auf Streeters Krankenakte, die im vergangenen Vierteljahr erheblich angeschwollen war.

»Irgendwann passiert eben alles zum ersten Mal«, sagte Streeter.

Donnerstagabend in Derry; Abenddammerung vor einer Sommernacht. Die untergehende Sonne warf ihre vertraumten roten Strahlen uber die perfekt angelegten, gemahten und bewasserten eineinviertel Hektar Land, die Tom Goodhugh »unser alter Garten hinter dem Haus« zu nennen die Frechheit besa?. Streeter sa? in einem Gartensessel auf der Terrasse und horte Geschirr klappern und Janet und Norma lachen, wahrend sie den Geschirrspuler einraumten.

Garten? Das ist kein Garten; so stellt sich ein Shopping-Channel-Fan das Paradies vor.

Es gab sogar einen Brunnen, in dessen Mitte eine Kindergestalt aus Marmor stand. Irgendwie war es dieser Cherub mit nacktem Hintern (und naturlich pissend), der Streeters Auge am meisten beleidigte. Bestimmt war er Normas Idee gewesen - sie war noch mal auf dem College gewesen, um

Und wenn man vom Teufel sprach (oder vom Elvid, wenn einem das besser gefallt, dachte Streeter), trat der Mullkonig in Person auf - mit den Halsen zweier Flaschen Spotted Hen Microbrew, auf denen Wasserperlen standen, zwischen den Fingern der linken Hand. Aufrecht und schlank in einem offenen gestreiften Hemd und verblichenen Jeans, sein schmales Gesicht von der sinkenden Sonne perfekt ausgeleuchtet, hatte Tom Goodhugh einer Anzeige fur Bier entstiegen sein konnen. Streeter sah sogar den Werbetext vor sich: Leben Sie das gute Leben, greifen Sie nach einem Spotted Hen.

»Ich dachte, du wurdest noch eines wollen, nachdem deine schone Frau gesagt hat, dass sie fahrt.«

»Danke.« Streeter nahm eine der Flaschen, setzte sie an die Lippen und trank. Angeberbier oder nicht, es war gut.

Als Goodhugh sich setzte, kam Jacob der Footballspieler mit einem Teller Kase und Crackern heraus. Er war so breitschultrig und gut aussehend, wie Tom damals gewesen war. Bestimmt sind alle Cheerleader scharf auf ihn, dachte Streeter. Wahrscheinlich muss er sie mit einem verdammten Stock abwehren.

»Mama denkt, die wurdet ihr vielleicht wollen«, sagte Jacob.

»Danke, Jake. Fahrst du weg?«

»Blo? fur kurze Zeit. Will nur mit ein paar Jungs in die Barrens zum Frisbeespielen, bis es zu dunkel wird, danach lernen.«

»Bleibt auf dieser Seite. Druben gibt es Giftefeu, seit der ganze Schei? nachgewachsen ist.«

»Ist gut, das wissen wir. Denny hat es letztes Jahr erwischt, und bei ihm war es so schlimm, dass seine Mutter dachte, er hatte Krebs.«

»Autsch!«, sagte Streeter.

»Fahr vorsichtig, Sohn. Nicht rasen.«

»Versprochen.« Der Junge legte einen Arm um seinen Vater und kusste ihn mit einer Ungeniertheit auf die Wange, die Streeter deprimierend fand. Tom besa? nicht nur Gesundheit, eine noch immer hinrei?ende Frau und einen lachhaft gro?en Garten, in dem ein pissender Cherub stand; er hatte auch einen gut aussehenden achtzehnjahrigen Sohn, der sich nichts dabei dachte, seinem Dad einen Abschiedskuss zu geben, bevor er mit seinen besten Kumpels loszog.

»Er ist ein guter Junge«, sagte Goodhugh liebevoll, wahrend er zusah, wie Jacob die Stufen hinaufging und im Haus verschwand. »Lernt flei?ig und schreibt gute Noten - anders als sein Alter. Zu meinem Gluck hatte ich dich.«

»Zu unser beider Gluck«, sagte Streeter. Er lachelte, tat ein Stuck Brie auf ein Triscuit und schob es in den Mund.

»Tut mir gut, dich essen zu sehen, Kumpel«, sagte Goodhugh. »Norma und ich haben uns schon gefragt, ob mit dir irgendwas nicht in Ordnung ist.«

»Hab mich nie besser gefuhlt«, sagte Streeter und trank noch etwas von dem wohlschmeckenden (und zweifellos teuren) Bier. »Aber ich habe vorn etwas Haar verloren. Jan sagt, dass ich dadurch dunner aussehe.«

»Das ist etwas, woruber sich die Ladys keine Sorgen zu machen brauchen«, sagte Goodhugh und fuhr sich mit einer Hand durch die eigenen Locken, die so voll und uppig wie damals mit achtzehn waren. Nicht mal im Geringsten grau meliert. An einem guten Tag konnte Janet Streeter wie vierzig aussehen, aber im roten Schein der untergehenden Sonne sah der Mullkonig wie Mitte drei?ig aus. Er rauchte nicht, trank nur ma?ig und hielt sich in einem Studio fit,

O Mann, der alles besitzt, dein Name ist Goodhugh, dachte Streeter und lachelte seinen alten Freund an.

Sein alter Freund erwiderte das Lacheln und beruhrte den Hals von Streeters Flasche mit dem seiner Bierflasche. »Das Leben ist gut, findest du nicht auch?«

»Sehr gut«, bestatigte Streeter. »Lange Tage und angenehme Nachte.«

Goodhugh zog die Augenbrauen hoch. »Wo hast du das her?«

»Wei? ich nicht mehr«, sagte Streeter. »Aber es stimmt, oder?«

»Wenn das stimmt, verdanke ich viele meiner angenehmen Nachte dir«, sagte Goodhugh. »Ich denke oft, alter Kumpel, dass ich dir mein Leben verdanke.« Er trank seinem parkartigen Garten zu. »Zumindest die Filetstucke.«

»Ach komm, du bist ein Selfmademan.«

Goodhugh senkte die Stimme und sprach in vertraulichem Ton weiter. »Willst du die Wahrheit horen? Die Frau hat diesen Mann gemacht. In der Bibel steht: ›Wer kann eine gute Frau finden? Denn ihr Preis steht uber Rubinen.‹ Jedenfalls irgendwas in dieser Art. Und du hast uns miteinander bekanntgemacht. Wei? nicht, ob du dich daran erinnerst.«

Streeter erinnerte sich nicht nur daran, sondern hatte am liebsten die Bierflasche auf der Terrasse zerschlagen und den gezackten Hals seinem alten Freund in die Augen gerammt. Stattdessen lachelte er, trank noch einen kleinen Schluck und stand dann auf. »Muss mal wohin, glaube ich.«

»Bier kauft man nicht, man mietet es nur«, sagte Goodhugh ernst … dann brach er in Lachen aus. Als hatte er das ganz spontan selbst erfunden.

»Wahrere Worte et cetera«, sagte Streeter. »Entschuldige mich bitte.«

»Du siehst wirklich besser aus«, rief Goodhugh ihm nach, als Streeter die Stufen hinaufging.

»Danke«, sagte Streeter. »Alter Kumpel.«

Er schloss die Toilettentur, druckte den Verriegelungsknopf hinein, machte Licht und offnete - zum ersten Mal in seinem Leben - das Medizinschrankchen im Haus anderer Leute. Der erste Gegenstand, auf den sein Blick fiel, munterte ihn gewaltig auf: eine Tube mit dem Shampoo Just for Men. Dahinter standen einige Medizinflaschchen.

Leute, die ihre Medikamente in einem Schrankchen im Gasteklo lassen, provozieren nur Arger, dachte Streeter. Nicht dass etwas Sensationelles zu finden gewesen ware: Norma hatte ein Asthmamedikament; Tom nahm ein Mittel gegen Bluthochdruck - Atenolol - und benutzte irgendeine

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