Pflegecreme.
Das Atenolol-Flaschchen war halb voll. Streeter schuttelte eine Tablette heraus, steckte sie in die Uhrentasche seiner Jeans und betatigte die WC-Spulung. Als er die Toilette verlie?, fuhlte er sich wie ein Mann, der sich eben uber die Grenze eines fremden Landes geschlichen hat.
Der folgende Abend war wolkig, aber George Elvid sa? wieder unter dem gelben Schirm und sah sich auf seinem tragbaren Fernseher
»Wie fuhlen Sie sich, Dave?«
»Besser.«
»Ja?«
»Ja.«
»Erbrechen?«
»Heute nicht.«
»Hungrig?«
»Wie ein Wolf.«
»Und ich mochte wetten, dass Sie sich arztlich haben untersuchen lassen.«
»Woher wissen Sie das?«
»Von einem erfolgreichen Bankmanager erwarte ich nichts weniger. Haben Sie mir etwas mitgebracht?«
Streeter uberlegte einen Augenblick lang, ob er davongehen sollte. Das tat er ernsthaft. Aber dann griff er in die Tasche seiner leichten Jacke (der Abend war fur August kuhl, und er selbst war noch ziemlich dunn) und holte etwas in einem winzigen Kleenex-Quadrat heraus. Er zogerte, dann legte er es Elvid hin, der es auswickelte.
»Ah, Atenolol«, sagte Elvid. Er warf die Pille ein und schluckte sie.
Streeter offnete den Mund und schloss ihn langsam wieder.
»Starren Sie mich nicht so schockiert an«, sagte Elvid. »Hatten Sie einen so stressreichen Job wie ich, hatten Sie auch Bluthochdruckprobleme. Und das Sodbrennen, das ich oft habe, oje. Das wollen Sie gar nicht wissen.«
»Was passiert jetzt?«, fragte Streeter. Trotz der Jacke frostelte ihn.
»Jetzt?« Elvid wirkte uberrascht. »Jetzt fangen Sie an, Ihre funfzehn Jahre bei guter Gesundheit zu genie?en. Vielleicht auch zwanzig oder sogar funfundzwanzig. Wer wei??«
»Und das mit dem Gluck?«
Elvid warf ihm einen schelmischen Blick zu. Er hatte amusant sein konnen, ware die Kalte nicht gewesen, die Streeter gleich darunter wahrnahm. Und das Alter. In diesem Augenblick war er sich sicher, dass George Elvid schon sehr lange in dieser Branche war, Sodbrennen hin oder her. »Fur den Glucksaspekt sind Sie selbst zustandig, Dave. Und naturlich Ihre Familie - Janet, May und Justin.«
Hatte er Elvid ihre Namen gesagt? Das wusste er nicht mehr.
»Vielleicht hauptsachlich die Kinder. Eine alte Redensart besagt, Kinder seien etwas, was einem das Schicksal nehmen kann, aber in Wirklichkeit nehmen Kinder ihre
»Soll das hei?en …«
»Nein, nein, nein! Das ist keine moralinsaure Fabel. Ich bin
Er sprach, fand Streeter, wie der Fuchs, nachdem er festgestellt hatte, dass die Trauben wirklich unerreichbar waren. Aber Streeter hatte nicht die Absicht, das auszusprechen. Nachdem der Handel nun abgeschlossen war, wollte er moglichst schnell fort. Trotzdem blieb er noch, wollte die Frage, die ihm auf der Seele lag, nicht stellen, und wusste doch, dass er es wurde tun mussen. Weil hier keine Gratisgeschenke verteilt wurden; Streeter, der langjahrige Erfahrung
Aber eine einzige Pille gegen Bluthochdruck zu klauen hie? nicht gerade, einen Menschen ins Ungluck zu sturzen. Oder doch?
Elvid klappte unterdessen energisch seinen gro?en Schirm zusammen. Und als er eingerollt war, fiel Streeter eine erstaunliche und entmutigende Tatsache auf: Er war uberhaupt nicht gelb. Er war so grau wie der Himmel. Der Sommer war fast vorbei.
»Die meisten meiner Kunden sind vollig zufrieden, vollig glucklich. Wollten Sie das horen?«
Gewiss … und doch wieder nicht.
»Ich spure, dass Sie noch eine relevante Frage haben«, sagte Elvid. »Wenn Sie eine Antwort wollen, mussen Sie aufhoren, um den hei?en Brei herumzuschleichen, und sie stellen. Es wird bald regnen, und ich will vorher unter Dach sein. Das Letzte, was ich in meinem Alter brauche, ist eine Bronchitis.«
»Wo ist Ihr Auto?«
»Oh, war das Ihre Frage?« Elvid verhohnte ihn jetzt offen. Sein Gesicht war hager, nicht im Geringsten pummelig, und das Wei?e der leicht schrag stehenden Augen ging au?en in ein unangenehmes und - ja, so war es - krebsartiges Schwarz uber. Er sah wie der halb abgeschminkte unfreundlichste Clown der Welt aus.
»Ihre Zahne«, sagte Streeter benommen. »Sie haben
»Wird Tom Goodhugh Krebs bekommen?«
Elvid starrte ihn einen Augenblick an, dann fing er zu kichern an. Der Laut war keuchend, staubig und unangenehm - wie das Gerausch einer verstummenden Dampforgel.
»Nein, Dave«, antwortete er. »Tom Goodhugh bekommt keinen Krebs. Nicht
»Was dann? Was?«
Die Verachtung, mit der Elvid ihn musterte, bewirkte, dass Streeters Knochen sich schwach anfuhlten - als hatte irgendeine schmerzlose, aber schrecklich korrosive Saure Locher in sie hineingefressen. »Was kummert Sie das? Sie hassen ihn, das haben Sie selbst gesagt.«
»Aber …«
»Sehen Sie zu. Warten Sie ab.
»Steueroase«, sagte Elvid. »Dorthin uberweisen Sie meine funfzehn Prozent. Wenn Sie schummeln, kriege ich das raus. Und dann wehe Ihnen, Kiddo!«
»Was ist, wenn meine Frau dahinterkommt und Fragen stellt?«
»Ihre Frau hat ein eigenes Scheckbuch. Mehr interessiert sie nicht. Sie verlasst sich auf Sie. Habe ich recht?«
»Nun …« Streeter sah, ohne uberrascht zu sein, dass die Regentropfen, die Elvids Hande und Arme trafen, zischend verdampften. »Ja.«
»Naturlich habe ich recht. Wir sind fertig miteinander. Verschwinden Sie, fahren Sie zu Ihrer Frau zuruck. Sie haben sie wei? Gott nicht verdient, aber ich bin mir sicher, dass sie Sie mit offenen Armen empfangen wird. Gehen Sie mit ihr ins Bett. Stellen Sie sich vor, Sie wurden die Frau Ihres besten Freundes bumsen. Sie haben sie nicht verdient, aber Sie sind ein Gluckspilz.«
»Was ware, wenn ich es zurucknehmen wollte?«, flusterte Streeter.
Elvid bedachte ihn mit einem kalten Grinsen, das einen Ring aus spitzen Kannibalenzahnen sehen lie?. »Das konnen Sie nicht.«
Das war im August 2001, weniger als einen Monat vor dem Einsturz der Twin Towers.