Im Dezember (am selben Tag, an dem Winona Ryder wegen Ladendiebstahls festgenommen wurde) erklarte Dr. Roderick Henderson Dave Streeter offiziell fur krebsfrei - und au?erdem fur ein echtes Wunder der Neuzeit.
»Ich wei? keine Erklarung dafur«, sagte Henderson.
Streeter wusste eine, hielt aber den Mund.
Dieses Gesprach fand in Hendersons Praxis statt. In dem kleinen Sprechzimmer im Derry Home Hospital, in dem Streeter die ersten Bilder seines auf wundersame Weise geheilten Korpers gesehen hatte, sa? Norma Goodhugh auf demselben Stuhl und betrachtete weniger erfreuliche Schichtaufnahmen. Sie horte benommen zu, als ihr Arzt ihr mitteilte - so schonend wie moglich -, der Knoten in ihrer linken Brust sei tatsachlich Krebs, der bereits die Lymphdrusen erfasst habe.
»Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos«, sagte der Arzt und ergriff uber den Tisch hinweg Normas kalte Hand. Er lachelte. »Wir sollten sofort mit der Chemotherapie beginnen.«
Im Juni des folgenden Jahres wurde Streeter endlich befordert. May Streeter wurde zum Graduiertenstudium an der Columbia School of Journalism zugelassen. Um beides zu feiern, holten Streeter und seine Frau einen lange verschobenen Urlaub auf Hawaii nach. Sie schliefen oft miteinander. An ihrem letzten Tag auf Maui rief Tom Goodhugh an.
»Wir sind fur dich da«, versprach Streeter ihm.
Als er Janet die traurige Nachricht mitteilte, brach sie auf dem Bett zusammen und weinte mit vors Gesicht geschlagenen Handen. Streeter legte sich neben sie, hielt sie eng umarmt und dachte:
Im Dezember schickte Streeter dem Uberkonfessionellen Kinderfonds einen Scheck uber etwas mehr als funfzehntausend Dollar. In seiner Steuererklarung setzte er diesen Betrag als Spende ab.
Im Jahr 2003 schaffte Justin Streeter es an der Brown University auf die Liste des Dekans und erfand - nur so zum Spa? - ein Computerspiel, das er »Walk Fido Home« nannte. Zweck des Spiels war es, mit seinem angeleinten Hund aus dem Einkaufszentrum zuruckzukommen und dabei Kamikazefahrern, Gegenstanden, die von Balkonen im zehnten Stock fielen, und einer Horde verruckter alter Ladys auszuweichen, die sich Hundekiller-Omas nannten. Streeter erschien das als Witz (und Justin versicherte ihnen, es
Im Oktober kam Carl Goodhughs Mitbewohner von einer Vorlesung am Emerson College zuruck und fand Carl in der Kuche ihrer Wohnung auf dem Bauch liegend vor, wahrend das gegrillte Kasesandwich, das er sich hatte zubereiten wollen, noch in der Bratpfanne rauchte. Trotz seiner erst zweiundzwanzig Jahre hatte Carl einen Herzanfall erlitten. Die behandelnden Arzte diagnostizierten einen angeborenen Herzfehler - irgendwas mit einer zu dunnwandigen Arterie -, der bis dahin unentdeckt geblieben war.
Carl starb nicht; sein Mitbewohner hatte ihn gerade noch rechtzeitig aufgefunden und mit Herz-Lungen- Massage reanimiert. Aber sein Gehirn war durch den Sauerstoffmangel geschadigt, und der intelligente, gut aussehende, sportliche junge Mann, der vor nicht sehr langer Zeit mit Justin Streeter Europa bereist hatte, war nur noch ein schlurfender Schatten seiner selbst. Er war inkontinent, verirrte sich, wenn er weiter als ein, zwei Stra?en von zu Hause entfernt war (er war wieder zu seinem noch trauernden Vater gezogen), und seine Sprache war ein undeutliches Plarren, das nur Tom verstand. Goodhugh engagierte einen Betreuer fur ihn, der Physiotherapie durchfuhrte und dafur sorgte, dass Carl immer trocken und sauber war. Alle zwei Wochen machte er mit Carl einen »Ausflug«. Ihr haufigstes Ziel war das Wishful Dishful Ice Cream, wo Carl immer ein Pistazieneis bekam, das er sich ins ganze Gesicht schmierte. Anschlie?end wischte sein Betreuer ihn geduldig mit Feuchtservietten sauber.
Janet horte auf, Streeter zum Abendessen bei Tom zu begleiten. »Ich halte das nicht aus«, gestand sie ihm. »Es liegt nicht daran, wie Carl schlurft oder sich manchmal in die Hose macht … es ist der Blick in seinen Augen, als wurde er sich erinnern, wie er war, und nicht genau wissen, wie
Streeter wusste, was sie meinte, und dachte beim Abendessen mit seinem alten Freund (seit Norma nicht mehr da war, gab es meistens Take-away-Gerichte) oft uber diese Vorstellung nach. Ihm machte es Spa?, Tom dabei zuzusehen, wie er seinen behinderten Sohn futterte, und er genoss den hoffnungsvollen Ausdruck auf Carls Gesicht. Er schien zu besagen: »Das ist alles nur ein Traum, den ich habe, und ich werde bald aufwachen.« Jan hatte recht, das war ein Witz, aber irgendwie ein guter Witz.
Wenn man richtig daruber nachdachte.
Im Jahr 2004 bekam May Streeter einen Job beim
Toms Chefbuchhalter bei Goodhugh Waste Recycling unterschlug zwei Millionen Dollar und verschwand mit unbekanntem Ziel. Die anschlie?ende Buchprufung zeigte, dass das Unternehmen finanziell auf sehr wackligen Beinen stand; diese Ratte von einem Buchhalter hatte anscheinend seit Jahren an dem Kase geknabbert.
Tom sah nicht mehr wie Mitte drei?ig, sondern wie sechzig aus. Und das schien er zu wissen, weil er aufgehort hatte, sich das Haar zu farben. Streeter war entzuckt, als er sah, dass es unter der kunstlichen Farbe nicht wei? geworden war; Goodhughs Haar war so stumpf und glanzlos grau wie Elvids Schirm, als er ihn zusammengerollt hatte. Die Haarfarbe, uberlegte Streeter sich, der alten Manner, die man auf Parkbanken sitzen und die Tauben futtern sieht. Nennen wir sie einfach
Im Jahr 2005 lernte Jacob der Footballspieler, der in der untergehenden Firma seines Vaters arbeitete, statt aufs College zu gehen (an dem er mit einem vollen Sportstipendium hatte studieren konnen), ein Madchen kennen und heiratete es. Eine muntere kleine Brunette namens Cammy Dorrington. Das Ehepaar Streeter war sich daruber einig, es sei eine schone Feier gewesen, obwohl Carl Goodhugh die ganze Zeit gejohlt, gebrabbelt und gegurgelt hatte und obwohl Goodhughs Alteste - Gracie - beim Hinausgehen auf der Treppe vor der Kirche uber den Saum ihres Kleides stolperte, sturzte und sich einen doppelten Beinbruch zuzog. Bis dahin hatte Tom Goodhugh fast wie fruher ausgesehen. Mit anderen Worten: glucklich. Streeter neidete ihm das bisschen Gluck nicht. Er vermutete, dass selbst arme Sunder im Fegefeuer gelegentlich einen Schluck Wasser bekamen, und sei es nur, damit sie den ganzen Schrecken ungestillten Dursts wurdigen konnten, wenn er wieder einsetzte.
Die Flitterwochner flogen nach Belize.
Im Irak fielen uber achthundert US-Soldaten. Pech fur diese Jungs und Madels.
Tom Goodhugh bekam Gicht, begann zu humpeln, fing an, einen Stock zu benutzen.
Der diesjahrige Scheck fur den Uberkonfessionellen Kinderfonds war verdammt hoch, aber Streeter reute das viele Geld nicht. Geben war seliger denn Nehmen. Das sagten alle guten Leute.
Im Jahr 2006 erkrankte Toms Tochter Gracie an Eiterfluss und verlor samtliche Zahne. Au?erdem verlor sie den Geruchssinn. An einem Abend kurz danach, bei Goodhughs und Streeters wochentlichem Dinner (bei dem die beiden allein waren; Carls Betreuer war mit seinem Schutzling auf einem »Ausflug«), brach Tom Goodhugh unvermittelt in Tranen aus. Statt Microbrews trank er jetzt Bombay Sapphire Gin und war ziemlich betrunken. »Ich verstehe nicht, was mit mir passiert ist!«, schluchzte er. »Ich komme mir vor wie … ich wei? nicht … wie der
Streeter umarmte und trostete ihn. Er erklarte seinem alten Freund, dass die Wolken immer aufziehen, sich aber fruher oder spater wieder verziehen.
»Na ja, diese Wolken hangen schon beschissen lange hier!«, rief Goodhugh aus und hammerte mit der