vorstelle, wurde ich halb verrückt. Ich wußte zwar, daß sie ihn sicher nicht weit hatte kommen lassen, aber es machte mich trotzdem rasend. Ich habe überhaupt keine Lust, noch etwas darüber zu sagen. Es war fast niemand mehr in der Halle. Sogar die hurenhaft aussehenden Blondinen waren sämtlich verschwunden, und plötzlich hatte ich nur noch den Wunsch, mich davonzumachen. Es war zu deprimierend dort. Und ich war auch noch gar nicht müde. Ich ging also in mein Zimmer und zog den Mantel an. Dabei schaute ich aus dem Fenster, um zu sehen, ob alle die perversen Leute noch bei der Arbeit wären, aber es war jetzt überall dunkel. Ich fuhr im Lift wieder hinunter und nahm ein Taxi und ließ mich zu Ernie fahren. Ernie heißt ein Nachtlokal in Greenwich Village, wo mein Bruder D.B. oft hinging, bevor er nach Hollywood übersiedelte und sich prostituierte. Manchmal hat er mich mitgenommen. Ernie ist ein dicker Negerpianist. Er ist ein gräßlicher Snob und spricht kaum mit jemand, der nicht berühmt oder sonst ein großes Tier ist, aber Klavier spielen kann er wirklich. Er spielt so gut, daß es schon fast zu viel ist, tatsächlich. Ich weiß nicht genau, was ich eigentlich damit sagen will, aber so wirkte es jedenfalls auf mich. Natürlich höre ich ihm gerne zu, nur hätte ich manchmal Lust, ihm das verdammte Klavier umzukippen. Wahrscheinlich deshalb, weil sein Spiel manchmal so klingt, als ob er mit niemand sprechen will, der kein großes Tier ist.

12

Das Taxi war ein uralter Kasten und roch ungefähr so, als ob gerade irgend jemand darin sein Mittagessen wieder losgeworden wäre. Ich erwische immer diese Erbrech-Taxis, wenn ich nachts irgendwohin fahre. Außerdem war es draußen ganz still und menschenleer, obwohl es Samstagnacht war. Das machte es noch schlimmer. Nur von Zeit zu Zeit sah man ein verschlungenes Paar über die Straße gehen oder eine Gruppe von Strolchen mit ihren Mädchen, die alle wie Hyänen über etwas lachten, was ganz sicher überhaupt nicht komisch war. Es ist fürchterlich, wenn in New York jemand spät nachts auf der Straße lacht. Man hört es meilenweit. Man kommt sich einsam und elend vor. Ich wünschte mir die ganze Zeit, daß ich heimfahren und ein bißchen mit Phoebe schwatzen könnte. Aber nach einer Weile fingen der Fahrer und ich ein Gespräch an. Er hieß Horwitz. Er war viel netter als der andere, der mich ins Hotel gefahren hatte. Jedenfalls dachte ich, er wüßte über die Enten Bescheid.

«He, Horwitz», sagte ich. «Kommen Sie manchmal am See im Central Park vorüber? Beim Central Park South?»

«Wo vorbei?»

«Am See. An dem kleinen Teich. Wo die Enten sind, wissen Sie.»

«Ja, was ist damit?»

«Haben Sie die Enten dort gesehen? Im Frühling oder so? Und wissen Sie zufällig, wo die im Winter hinkommen?»

«Wo wer hinkommt?»

«Die Enten. Wissen Sie das zufällig? Ich meine, holt sie wohl jemand mit einem Wagen oder fliegen sie von selber fort - in den Süden oder so?»

Der gute Horwitz drehte sich zu mir um und schaute mich an. Er war ein aufbrausender Typ. Aber nicht unsympathisch.

«Wie zum Teufel soll ich etwas so Blödes wissen?»

«Ärgern Sie sich doch nicht», sagte ich. Irgend etwas ärgerte ihn offenbar daran.

«Wer ärgert sich hier? Ich sicher nicht.»

Ich brach die Unterhaltung ab, da er so empfindlich zu sein schien. Aber er fing von selber wieder an. Er drehte sich wieder um und sagte: «Die Fische kommen nirgends hin. Die bleiben, wo sie sind.

Einfach in dem verdammten See.»

«Fische sind etwas anderes. Ich rede aber von den Enten.»

«Was soll daran anders sein? Gar nichts ist anders», sagte Horwitz. Alles, was er sagte, klang gereizt. «Für die Fische ist es im Winter noch viel schlimmer als für die Enten. Herrgott noch mal, brauchen Sie doch Ihren eigenen Verstand.»

«Die Enten können aber doch nicht einfach so tun, als ob das Eis nicht da wäre. Sie können's doch nicht einfach ignorieren.»

«Wer ignoriert es denn? Keiner ignoriert es», sagte Horwitz. Er wurde so aufgeregt, daß ich befürchtete, er würde gegen eine Laterne oder was weiß ich fahren. «Sie leben einfach in dem verdammten Eis. Das ist ihre Natur, verflucht noch mal. Sie frieren einfach den ganzen Winter lang in einer Stellung fest.»

«So? Was fressen sie denn dann? Wenn sie festgefroren sind, können sie ja nicht herumschwimmen und Futter und so suchen.»

«Mit dem Körper, verdammt noch mal - wo fehlt's denn bei Ihnen? Mit dem Körper nehmen sie Nahrung auf, einfach durch den gottverfluchten Seetang und alles, was im Eis ist. Sie haben die ganze Zeit die Poren offen. Das ist einfach ihre Natur so. Verstehen Sie, was ich damit sagen will?»

Er drehte sich wahrhaftig schon wieder um und schaute mich an.

«Aha», sagte ich. Ich ließ das Thema fallen. Ich hatte Angst, daß wir mit dem verdammten Taxi verunglücken würden. Außerdem war er so reizbar, daß eine Diskussion mit ihm kein Vergnügen war. «Wollen Sie irgendwo halten und eins mit mir trinken?» fragte ich.

Er gab keine Antwort. Wahrscheinlich dachte er immer noch nach. Ich wiederholte meine Einladung.

Horwitz war recht sympathisch. Auch unterhaltend.

«Ich hab keine Zeit zum Trinken», sagte er. «Wie alt sind Sie überhaupt? Warum sind Sie nicht zu Hause und im Bett?»

«Ich bin nicht müde.»

Als ich vor dem Nachtlokal ausstieg und bezahlte, brachte er die Fische noch einmal aufs Tapet. Sie schienen ihn sehr zu beschäftigen. «Hören Sie», sagte er, «wenn Sie ein Fisch wären, würde Mutter Natur wohl für Sie sorgen, oder nicht? Einverstanden? Oder meinen Sie vielleicht, die Fische sterben einfach, wenn der Winter kommt?»

«Nein, aber-»

«Damit haben Sie verdammt recht», sagte Horwitz und fuhr wie der Teufel davon. Er war der empfindlichste Mensch, den man sich vorstellen kann. Alles, was man sagte, machte ihn wütend.

Obwohl es schon gegen Morgen ging, war es bei Ernie drinnen gesteckt voll. Hauptsächlich blöde Gymnasiasten und Studenten. Fast jede verdammte Schule macht früher Weihnachtsferien als die Schulen, in denen ich war. Es war so voll, daß man nicht einmal seinen Mantel loswerden konnte.

Aber trotz dieser Menschenmenge war es ziemlich still, weil Ernie Klavier spielte. Es galt geradezu als heilige Handlung, wenn er sich ans Klavier setzte. Übertrieben. So gut spielt nun wirklich keiner.

Außer mir warteten noch drei Paare auf leere Tische. Sie stellten sich alle auf die Zehen, um Ernie sehen zu können. Er hatte einen großen Spiegel vor sich am Klavier, so daß jedermann sein Gesicht beobachten konnte, während er spielte. Die Finger sah man nicht - nur sein breites Gesicht.

Überwältigend. Ich weiß nicht mehr genau, was er gerade spielte, als ich hereinkam, aber jedenfalls stank es zum Himmel. Er flocht lauter blöde Kinkerlitzchen in die obersten

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