Ich ging zu Fuß ins Hotel zurück, ganze einundvierzig prachtvolle Häuserblocks weit. Das Gehen machte mir zwar kein Vergnügen, aber noch weniger lockte es mich, wieder in einem Taxi zu sitzen.

Manchmal hat man das Taxifahren so satt wie das Liftfahren. Plötzlich muß man einfach zu Fuß gehen, ganz gleich, wie weit oder wie hoch. Als Kind stieg ich oft zu Fuß in unsere Wohnung hinauf.

Bis in den zwölften Stock.

Man sah nichts mehr davon, daß es geschneit hatte. Auf den Trottoirs lag kaum noch Schnee. Aber es war eiskalt. Ich zog meine rote Jagdmütze aus der Tasche und setzte sie auf - es war mir absolut gleichgültig, wie ich aussah. Ich stülpte sogar die Ohrenklappen herunter. Ich hätte gern gewußt, wer mir in Pencey die Handschuhe gestohlen hatte, denn ich fror an den Händen. Allerdings hätte ich auch nicht viel unternommen, wenn ich den Gauner gekannt hätte. Ich bin ein großer Feigling. Ich versuche es zu verbergen, aber deshalb bin ich trotzdem einer. Wenn ich in Pencey zum Beispiel herausgefunden hätte, wer dieser Gauner war, hätte ich ihn vermutlich in seinem Zimmer aufgesucht und zu ihm gesagt: «So, wie wir's, wenn du mir die Handschuhe zurückgehen würdest?» Dann hätte der Betreffende wahrscheinlich mit der unschuldigsten Stimme gefragt: «Welche Handschuhe?»

Dann hätte ich in seinem Schrank nachgesehen und die Handschuhe gefunden. In seinen verdammten Gummischuhen versteckt oder so. Ich hätte sie genommen und ihm vor die Nase gehalten und gesagt: «Sind das vielleicht deine verdammten Handschuhe?» Dann hätte er mich verlogen unschuldig angeschaut und geantwortet: «Die hab ich überhaupt noch nie gesehen. Nimm sie nur, wenn sie dir gehören. Ich will sie nicht.» Dann wäre ich wohl fünf Minuten mit den verdammten Handschuhen dagestanden und hätte gespürt, daß ich ihm jetzt einen Kinnhaken versetzen müßte.

Aber ich hätte es nicht fertiggebracht. Ich hätte nur dagestanden und versucht, aggressiv auszusehen.

Vielleicht hätte ich auch irgendwas Rotzfreches gesagt, anstatt ihm einen Kinnhaken zu geben.

Jedenfalls hätte er sich dann vor mich hingestellt und hätte gesagt: «Hör mal, Caulfield, behauptest du vielleicht, daß ich stehle?» Anstatt darauf zu antworten: «Ganz richtig, das behaupte ich, du dreckiger Gauner!» hätte ich wahrscheinlich gesagt: «Ich weiß nur, daß meine verdammten Handschuhe hier in deinen Gummischuhen waren.» Von da an wäre er sicher gewesen, daß ich ihm nichts tue; er hätte gesagt: «Hör mal, das wollen wir klarstellen. Behauptest du, daß ich stehle?»

Darauf hätte ich wieder nur geantwortet: «Kein Mensch redet hier von Stehlen. Ich weiß nur, daß meine Handschuhe in deinen verdammten Gummischuhen waren.» Auf diese Weise hätte es stundenlang weitergehen können. Schließlich wäre ich hinausgegangen, ohne ihm auch nur ein Haar zu krümmen. Wahrscheinlich hätte ich im Waschraum eine Zigarette geraucht und vor dem Spiegel aggressive Gesichtsausdrücke geübt.

Über solches Zeug dachte ich auf dem ganzen Rückweg ins Hotel nach. Es ist kein Spaß, wenn man feig ist. Vielleicht bin ich nicht durch und durch feig. Ich weiß nicht. Vielleicht bin ich auch nur teilweise feige und teilweise ein Mensch, der sich nicht viel daraus macht, wenn er seine Handschuhe verliert. Das ist einer meiner Fehler - ich mache mir nie viel daraus, wenn ich etwas verloren habe.

Als ich noch klein war, machte das meine Mutter rasend. Manche Leute können tagelang nach etwas suchen, das sie verloren haben. Mir liegt an nichts so viel. Vielleicht bin ich aus diesem Grund feige. Das ist zwar keine Entschuldigung -natürlich nicht. Man sollte überhaupt nicht feig sein. Wenn man spürt, daß man jemandem einen Kinnhaken geben müßte und eigentlich Lust dazu hätte, dann sollte man es auch tun. Ich bin allerdings gar nicht dafür begabt. Ich könnte einen Menschen leichter zum Fenster hinauswerfen oder ihn mit einer Axt enthaupten als ihm einen Kinnhaken geben.

Boxkämpfe sind mir verhaßt. Es macht mir nichts, wenn ich selber getroffen werde - obwohl es mich selbstverständlich auch nicht gerade begeistert -, aber schrecklich finde ich in einem Boxkampf das Gesicht des Gegners. Ich ertrage es einfach nicht, sein Gesicht anzusehen - das ist meine größte Schwäche. Es wäre viel weniger schlimm, wenn beide mit verbundenen Augen oder ich weiß nicht wie kämpfen könnten. Bei näherer Betrachtung ist das eigentlich eine komische Art von Feigheit, aber Feigheit ist es jedenfalls doch. Ich mache mir nichts vor.

Ich wurde immer deprimierter, je länger ich über die Handschuhe und meine Feigheit nachdachte, und nach einer Weile beschloß ich, irgendwo noch etwas zu trinken. Bei Ernie hatte ich nur drei Whiskies getrunken, und den letzten sogar nur halb. Ich vertrage unglaublich viel. Ich kann die ganze Nacht trinken, ohne daß man es mir anmerkt, wenn ich entsprechend aufgelegt bin. In Whooton kaufte ich einmal mit einem andern -Raymond Goldfarb hieß er - eine Flasche Whisky und trank sie am Samstagabend in der Kapelle mit ihm aus, wo uns niemand entdecken konnte. Ihm bekam es schlecht, aber mir war kaum etwas anzumerken. Ich wurde nur sehr kühl und nonchalant. Ich übergab mich, bevor ich ins Bett ging, aber ich hätte nicht einmal das zu tun brauchen; ich zwang mich dazu.

Als ich in eine Bar einschwenken wollte, kamen zwei schwer betrunkene Kerle heraus und wollten wissen, wo die Untergrundbahn sei. Einer sah wie ein Kubaner aus und hauchte mir fortwährend seinen stinkenden Atem ins Gesicht, während ich ihm den Weg beschrieb. Danach ging ich überhaupt nicht in die verdammte Bar hinein, sondern zum Hotel.

Die Halle war ganz leer. Es roch nach fünfzig Millionen kalten Zigaretten. Ich war noch nicht zum Schlafen müde, aber irgendwie elend. Deprimiert und so. Ich wäre am liebsten tot gewesen.

Dann geriet ich plötzlich in eine üble Geschichte.

Als ich nämlich in den Lift ging, fragte der Hotelangestellte: «Haben Sie heute abend noch Interesse an einem Späßchen?»

«Was meinen Sie damit?» fragte ich. Ich hatte keine Ahnung, auf was er hinauswollte.

«Soll ich Ihnen 'ne Kleine ins Zimmer schicken?»

«Mir?» sagte ich. Das war eine dumme Antwort, aber es ist ziemlich verwirrend, wenn einem jemand plötzlich mit einer solchen Frage auf den Leib rückt.

«Wie alt sind Sie?» fragte er.

«Warum?» sagte ich. «Zweiundzwanzig.»

«Hm. Also was? Interessieren Sie sich? Fünf Dollar für einmal. Fünfzehn für die ganze Nacht.» Er schaute auf seine Armbanduhr. «Bis zwölf Uhr mittags. Fünf Dollar für einmal, fünfzehn bis zwölf Uhr.»

«O. K.», sagte ich. Es war gegen meine Prinzipien, aber ich war so deprimiert, daß ich gar nicht nachdachte. Das ist eben das Schlimme daran. Wenn man sehr deprimiert ist, kann man nichts mehr denken.

«Was heißt O. K.? Einmal oder bis mittags? Das muß ich wissen.»

«Einmal.»

«Schön, in welchem Zimmer sind Sie?»

Ich schaute auf das rote Schild an meinem Schlüssel. «Zwölfzweiundzwanzig», sagte ich. Ich bereute schon halb, daß ich mich so weit eingelassen hatte, aber jetzt war es zu spät.

«Schön, ich schicke ungefähr in einer Viertelstunde eine hinauf.» Er machte die Lifttür auf und ließ mich aussteigen.

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