Jedenfalls annahernd. Mein Erstarrungszustand bot anscheinend ein recht ahnliches Bild. Sax meint, man konne ein feines Metallnetz herstellen, das im Haar versteckt werde und schwache Impulse aussende, ebensolche wie das Gehirn eines Verletzten. Eine Art Tarnkappe. So konne man sich vor der Wolke verbergen. Aber das ist nur eine Vermutung. Es ist noch nicht klar, ob es uberhaupt moglich ist. Sie wurden gern Versuche machen, aber sie haben nicht genug Kristalle. Der Zyklop hat uns damit ja auch im Stich gelassen…“
„Na schon.“ Der Astrogator seufzte. „Ich wollte uber etwas anderes mit dir reden. Aber was hier gesagt wird, bleibt unter uns. Nicht wahr?“
„Gut“, sagte Rohan zogernd, und die Anspannung kehrte zuruck.
Der Astrogator sah ihn jetzt nicht an, als fiele ihm der Anfang schwer.
„Ich habe noch immer nicht entschieden“, sagte er plotzlich.
„Mancher an meiner Stelle wurde ein Geldstuck hochwerfen: abfliegen oder bleiben. Aber ich mag nicht. Ich wei?, du bist oft nicht mit mir einverstanden.“
Rohan offnete die Lippen, aber Horpach schnitt ihm sofort mit einer fluchtigen Handbewegung das Wort ab.
„Nein, nein… Nun hast du eine Chance. Ich gebe sie dir. Du wirst entscheiden. Ich tue, was du sagst.“
Er sah ihn an und verbarg gleich darauf seine Augen unter den schweren Lidern.
„Wie… ich?“ stammelte Rohan. Alles hatte er erwartet, nur das nicht.
„Ganz recht, du. Es bleibt selbstverstandlich unter uns. Abgemacht! Du entscheidest, und ich fuhre deinen Befehl aus. Ich werde es vor der Leitung der Raumstation verantworten. Gunstige Bedingungen, nicht wahr?“
„Meinen Sie das im Ernst?“ fragte Rohan, um Zeit zu gewinnen, denn er wu?te ohnehin, da? alles Wirklichkeit war.
„Ja. Wenn ich dich nicht kennte, lie?e ich dir Zeit. Aber ich wei?, da? du umherlaufst und dir dein Teil denkst, da? du die Entscheidung langst getroffen hast. Ich wurde sie nur nicht aus dir herausbekommen. Deshalb wirst du es mir hier sagen, gleich, auf der Stelle. Denn es ist ein Befehl. In diesem Augenblick bist du Kommandant des ›Unbesiegbaren‹.
„Du willst nicht auf Anhieb? Gut. Du hast eine Minute Bedenkzeit.“
Horpach stand auf, ging ans Waschbecken, strich sich mit der Handflache uber die Wangen, da? die grauen Bartstoppeln unter seinen Fingern raschelten, und begann, sich mir nichts, dir nichts mit dem elektrischen Apparat zu rasieren.
Er schaute in den Spiegel.
Rohan sah ihn und sah ihn auch wieder nicht. Seine erste Empfindung war Wut auf Horpach, der so rucksichtlos mit ihm umsprang, indem er ihm das Recht gab, ja eigentlich die Pflicht auferlegte, zu entscheiden, und ihm gleichzeitig die Zunge band und ihm von vornherein die ganze Verantwortung abnahm. Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, da? alles grundlich durchdacht und nicht mehr zu andern war. Die Sekunden verrannen, und er mu?te sprechen, jetzt, sofort, aber er vermochte keinen Gedanken zu fassen. Alle Argumente, die er dem Astrogator so gern ins Gesicht geschleudert hatte, die er sich in nachtlichen Grubeleien wie eiserne Ziegel zurechtgelegt hatte, waren wie weggeblasen.
Die vier Manner lebten nicht mehr — das war beinahe sicher.
Wenn nicht dieses „beinahe“ ware, brauchten sie nichts zu bedenken, hin und her zu wenden, sie wurden einfach im Morgengrauen abfliegen. Aber jetzt nahm dieses „beinahe“ in ihm immer gro?ere Ausma?e an. Solange er mit Horpach auf gleicher Stufe gestanden hatte, war er der Ansicht gewesen, sie sollten unverzuglich starten. Jetzt spurte er, da? er den Befehl nicht uber die Lippen bringen wurde. Er wu?te, da? die Angelegenheit Regis ui damit nicht abgetan ware, sondern erst richtig anfangen wurde. Das hatte nichts mit Verantwortung vor der Leitung der Raumstation zu tun. Diese vier Manner wurden auf dem Schiff umhergeistern, niemals mehr wurde es so sein wie vorher. Die Besatzung wollte zuruck. Aber da fiel ihm seine nachtliche Wanderung ein, und er begriff, da? sie nach einer gewissen Zeit daran denken und dann daruber sprechen wurden. Sie wurden sagen: „Seht ihr? Er hat vier Leute dort gelassen und ist gestartet.“ Alles andere wurde nicht zahlen. Jeder einzelne mu?te wissen, da? die anderen ihn unter keinen Umstanden im Stich lassen wurden. Alles durfte man verlieren, aber die Besatzung mu?te man vollzahlig an Bord haben — die Lebenden und die Toten. Dieser Grundsatz stand nicht in der Dienstordnung. Aber anders konnte niemand den Weltraum befliegen.
„Ich hore“, sagte Horpach, legte den Rasierapparat beiseite und setze sich ihm gegenuber.
Rohan befeuchtete sich die Lippen.
„Man mu?te versuchen…“
„Was?“
„Sie zu finden.“
Nun war es heraus. Er wu?te, da? ihm der Astrogator nicht widersprechen wurde. Er war jetzt eigentlich felsenfest uberzeugt, da? Horpach gerade damit gerechnet, da? er es bewu?t arrangiert hatte. Um nicht allein das Risiko tragen zu mussen.
„Die vier. Ich verstehe. Gut.“
„Aber wir brauchen einen Plan. Etwas Vernunftiges.“
„Vernunftig waren wir die ganze Zeit“, erwiderte Horpach.
„Den Erfolg kennst du ja.“
„Darf ich etwas sagen?“
„Bitte.“
„Ich war heute nacht auf der Beratung der Strategen.
Das hei?t, ich habe gehort… Nein, lassen wir das, es ist unwichtig. Sie arbeiten mehrere Varianten fur die Annihilation der Wolke aus, aber wir haben doch nicht die Aufgabe, sie zu vernichten, sondern die vier zu suchen. Wenn wir also ein Antiprotonenmassaker veranstalten, so ubersteht keiner eine zweite solche Holle, falls uberhaupt noch einer von ihnen am Leben ist. Keiner. Das ist unmoglich.“
„Das meine ich auch“, sagte der Astrogator gedehnt.
„Sie auch? Wie gut. Also?“
Horpach schwieg.
„Haben sie… noch eine andere Losung gefunden?“
„Die Strategen? Nein.“
Rohan wollte noch etwas fragen, aber er hatte nicht den Mut. Die Worte erstarben ihm auf den Lippen. Horpach sah ihn an, als wartete er auf etwas. Aber Rohan wu?te nichts zu sagen — glaubte der Kommandant etwa, er vermochte allein, auf eigene Faust, etwas Besseres, Vollkommeneres auszudenken als die Wissenschaftler, als die Kybernetiker und Strategen mit ihren Elektronengehirnen? Das war doch Unsinn. Und doch sah er ihn geduldig an. Sie schwiegen. Gleichzeitig tropfte der Wasserhahn, ungemein laut in dieser tiefen Stille. Und in diesem Schweigen, das zwischen ihnen lag, stieg etwas herauf und streifte mit eisigem Hauch Rohans Wangen. Schon krampfte sich sein ganzes Gesicht, die Haut vom Nacken bis zu den Kiefern zusammen, wurde gewisserma?en zu eng, als er in Horpachs tranende, nun unsaglich alte Augen blickte. Er sah nur noch diese Augen und wu?te Bescheid.
Langsam nickte er, als hatte er ja gesagt. Verstehst du? fragte der Astrogator mit den Augen. Ich verstehe, antwortete Rohan mit einem Blick. Aber als ihm alles immer mehr bewu?t wurde, da fuhlte er, da? das nicht sein konnte, da? niemand das Recht hatte, so etwas von ihm zu verlangen, nicht einmal er selbst. Er schwieg weiter. Er schwieg, aber nun tat er bereits, als ahnte er nichts, als wu?te er von nichts. Er klammerte sich an die naive Hoffnung, das verleugnen zu konnen, was in ihren Blicken hin— und hergegangen war, denn es war nicht ausgesprochen worden. Er konnte Begriffsstutzigkeit vortauschen, denn er wu?te, er spurte es, Horpach wurde niemals von selbst zu ihm sprechen.
Aber der andere sah das, er sah alles. So sa?en sie reglos. Horpachs Blick wurde weicher. Weder Erwartung lag jetzt darin noch zwingende Zudringlichkeit, nur Mitgefuhl, als wollte er sagen: Gut, ich verstehe. Meinetwegen.
Der Kommandant senkte den Kopf. Eine Sekunde noch, und das Unausgesprochene ware verschwunden, und beide konnten tun, als ware nichts geschehen. Aber der gesenkte Blick gab den Ausschlag. Rohan horte sich selbst sagen: „Ich gehe.“
Horpach seufzte tief auf, aber Rohan merkte es nicht, er war erschrocken uber die eigenen Worte.
„Nein“, sagte Horpach, „so gehst du mir nicht.“ Rohan schwieg. „Ich konnte es dir nicht sagen“, begann der Astrogator.