»Wir haben einen ganz speziellen chinesischen Tee«, sagte sie. »Und wir trinken ihn immer auf chinesische Weise, aus Schalen, nicht aus Tassen.«

Sie brach ab, blickte in eine der Schalen und tauschte sie mit einem Ausdruck von Verargerung gegen eine andere aus.

»George, das ist nicht nett von dir. Du hast schon wieder eine dieser Schalen benutzt«, schalt sie ihren Mann.

»Es tut mir leid, Liebes«, antwortete der Professor entschuldigend. »Sie haben eine so brauchbare Gro?e. Die anderen, die ich bestellt habe, sind noch nicht angekommen.«

»Eines schonen Tages wirst du uns alle vergiften«, meinte seine Frau mit einem halben Lachen. »Mary findet sie im Laboratorium und bringt sie mit herauf. Wenn nicht etwas sehr Auffalliges darin ist, macht sie sich nicht die Muhe, sie abzuwaschen. Neulich hast du sogar eine davon fur Zyankali benutzt. Wirklich, George, es ist hochst gefahrlich.«

Merrowdene schien etwas argerlich.

»Mary hat uberhaupt nichts aus meinem Laboratorium wegzunehmen. Sie darf dort nichts anfassen.«

»Aber wir lassen oft unsere Tassen nach dem Tee dort stehen. Woher soll sie das wissen? Sei doch vernunftig, Lieber.«

Der Professor ging in sein Laboratorium und murmelte vor sich hin. Lachelnd go? Mrs. Merrowdene kochendes Wasser uber den Tee und blies die Flamme auf dem silbernen Kocher aus.

Evans war uberrascht. Aus irgendeinem Grunde lie? sich Mrs. Merrowdene in die Karten blicken. Sollte das der »Unfall« werden? Sprach sie bewu?t von all dem, um sich von vornherein ein Alibi zu verschaffen? Er ware gezwungen, zu ihren Gunsten auszusagen, wenn der »Unfall« eines Tages passierte. Wie dumm von ihr, denn bevor ...

Plotzlich hielt er den Atem an. Sie hatte den Tee in drei Schalen gegossen. Eine setzte sie vor sich hin, eine vor ihn und die dritte auf einen kleinen Tisch zum Feuer, in der Nahe des Sessels, in dem gewohnlich ihr Mann sa?. Als sie die letzte Schale auf den Tisch stellte, verzog ein eigenartiges Lacheln ihren Mund.

Dieses Lacheln gab den Ausschlag.

Eine bemerkenswerte Frau - eine gefahrliche Frau. Kein Warten, keine Vorbereitungen. Heute nachmittag, genau heute nachmittag - mit ihm hier als Zeugen. Diese Kuhnheit verschlug ihm den Atem. Es war raffiniert, verdammt raffiniert. Er wurde ihr nichts beweisen konnen. Sie baute darauf, da? er nichts ahnte - einfach weil es noch so fruh war. Eine Frau, die blitzschnell dachte und handelte.

Er holte tief Luft und beugte sich vor.

»Mrs. Merrowdene, ich bin ein Mann mit sonderbaren Einfallen. Wurden Sie so liebenswurdig sein und bei einem davon mitmachen?«

Sie blickte ihn fragend an.

Er stand auf, nahm die Schale, die vor ihr stand, und ging hinuber zu dem kleinen Tisch, wo er sie gegen die andere vertauschte. Diese brachte er zuruck und stellte sie vor sie hin.

»Ich mochte sehen, wie Sie das trinken!«

Ihre Blicke trafen sich. Sie sah ihn fest und unergrundlich an. Langsam wich die Farbe aus ihrem Gesicht.

Sie streckte die Hand aus und hob die Schale hoch. Er hielt den Atem an. Angenommen, er hatte sich von allem Anfang an geirrt?

Sie fuhrte die Schale an die Lippen. Im letzten Moment lehnte sie sich vor und go? den Inhalt in einen Blumentopf. Dann richtete sie sich auf und sah ihn herausfordernd an.

Er stie? einen langen Seufzer der Erleichterung aus und setzte sich wieder hin.

»Nun?« fragte sie. Ihre Stimme klang verandert. Sie war leicht spottisch und herausfordernd.

Er antwortete bedachtig: »Sie sind eine sehr kluge Frau, Mrs. Merrowdene. Ich glaube, Sie verstehen mich. Es darf kein zweites Mal geben. Wissen Sie, was ich meine?«

»Ja, ich wei?«, sagte sie.

Er nickte zufrieden mit dem Kopf. Sie war sehr vorsichtig. Sie wollte nicht gehangt werden.

»Auf Ihr langes Leben und auf das Ihres Gatten«, sagte er bedeutungsvoll und hob die Schale mit dem Tee an die Lippen.

Dann veranderte sich sein Gesicht. Es verzog sich grauenvoll ... er mu?te aufstehen ... hinausschreien. Sein Korper wurde steif, sein Gesicht lief rot an. Er fiel hinsturzte uber den Stuhl. Seine Glieder verkrampften sich.

Mrs. Merrowdene lehnte sich vor und beobachtete ihn. Ein leichtes Lacheln umspielte ihre Lippen. Sie sprach zu ihm, ganz sanft und liebenswurdig.

»Sie haben einen Fehler gemacht, Mr. Evans. Sie glaubten, ich wollte George toten . Wie dumm von Ihnen, wie furchtbar dumm.«

Sie sa? noch eine Minute lang da und blickte auf den toten Mann - den dritten, der gedroht hatte, ihren Weg zu kreuzen und sie von dem Mann zu trennen, den sie liebte.

Ihr Lacheln vertiefte sich. Mehr denn je glich sie einer Madonna. Dann hob sie ihre Stimme und rief:

»George! George! ... Oh, bitte, komm her. Ich furchte, ein schrecklicher Unfall ist passiert! Armer Mr. Evans!«

Der Traum

Ruhig und abschatzend lie? Hercule Poirot seinen Blick uber das Haus und dessen Umgebung schweifen: die Laden, das gro?e Fabrikgebaude zur Rechten, die billigen Etagenhauser gegenuber.

Dann fa?te er noch einmal Northway House ins Auge, dieses Relikt einer fruheren Zeit - einer Zeit, die viel Mu?e und keinen Platzmangel gekannt hatte, als dieses vornehme, arrogante Haus noch inmitten gruner Felder lag. Jetzt war es ein Anachronismus, vom hektischen Strom des modernen London umflutet und vergessen, und keiner unter funfzig Menschen hatte einem sagen konnen, wo es stand.

Sehr wenige Leute hatten einem uberdies verraten konnen, wem es gehorte, obwohl der Eigentumer als einer der reichsten Manner der Welt bekannt war. Aber Geld kann Publizitat nicht nur fordern, sondern auch unterdrucken. Benedict Farley, dieser exzentrische Millionar, zog es vor, die Wahl seiner Residenz nicht an die gro?e Glocke zu -hangen. Er selbst lie? sich selten in der Offentlichkeit sehen. Von Zeit zu Zeit erschien er bei Direktorenversammlungen, wo er mit seiner hageren Figur, seiner Hakennase und seiner krachzenden Stimme die versammelten Direktoren mit Leichtigkeit beherrschte. Abgesehen davon, war er nur eine wohlbekannte sagenhafte Figur. Man horte von seiner seltsamen Knauserigkeit und seinem unglaublichen Gro?mut und auch von personlichen Eigenheiten - von seinem beruhmten Flickenschlafrock, der jetzt achtundzwanzig Jahre alt sein sollte, seiner unveranderlichen Diat von Kohlsuppe und Kaviar, seiner Abscheu gegen Katzen. Alles dieses war dem Publikum bekannt.

Hercule Poirot war es ebenfalls zu Ohren gekommen. Aber das war auch alles, was er von dem Mann wu?te, dem er gerade einen Besuch abstatten wollte. Der Brief, der in seiner Manteltasche steckte, verriet ihm nicht viel mehr.

Nachdem er dieses melancholische Wahrzeichen eines vergangenen Zeitalters eine Weile schweigend gemustert hatte, stieg er die Stufen zur Haustur empor und druckte auf die Klingel, wobei er einen Blick auf die elegante Armbanduhr warf, die endlich seine alte geliebte »Kartoffel« aus fruheren Tagen ersetzt hatte. Ja, es war genau halb zehn. Wie immer, war Poirot auf die Minute punktlich.

Die Tur offnete sich genau nach der angemessenen Zeitspanne, und ein vollkommenes Exemplar des Genus »Butler« hob sich von der erleuchteten Halle ab.

»Mr. Benedict Farley?« fragte Hercule Poirot.

Der unpersonliche Blick musterte ihn von Kopf bis Fu?, nicht verletzend, aber grundlich.

»Werden Sie erwartet, Sir?« erkundigte sich die glatte Stimme.

»Ja.«

»Wie lautet Ihr Name, Sir?«

»Monsieur Hercule Poirot.«

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