Mit einer Verbeugung trat der Butler zur Seite, und Hercule Poirot betrat das Haus. Der Butler schlo? die Tur hinter ihm.
Aber es war noch eine weitere Formalitat zu erledigen, ehe die geschickten Hande dem Besucher Stock und Hut abnahmen.
»Sie werden verzeihen, Sir. Aber ich sollte mir einen Brief zeigen lassen.«
Bedachtig nahm Poirot den gefalteten Brief aus seiner Tasche und reichte ihn dem Butler. Dieser warf einen fluchtigen Blick darauf und gab ihn mit einer Verbeugung zuruck. Hercule Poirot steckte ihn wieder ein. Der Inhalt war einfach.
Northway House, W. 8
Sehr geehrter Mr. Poirot,
Mr. Benedict Farley mochte gern Ihren Rat in Anspruch nehmen. Wenn es Ihnen pa?t, wurde er es begru?en, wenn Sie morgen, Donnerstag, um 21.30 Uhr bei ihm an der obengenannten Adresse vorsprechen wurden.
Hochachtungsvoll Hugo Cornworthy (Sekretar)
P. S. Bringen Sie bitte diesen Brief mit.
Gewandt nahm der Butler Poirot Hut, Stock und Mantel ab und sagte: »Gestatten Sie, da? ich Sie nach oben in Mr. Cornworthys Zimmer bringe.«
Mit diesen Worten stieg er die breite Treppe hinan, und Poirot folgte ihm, wobei seine Augen voller Wohlgefallen auf solchen Kunstgegenstanden ruhten, die einen uppigen, uberladenen Charakter hatten. Sein Kunstgeschmack war stets etwas spie?ig gewesen.
Im ersten Stock klopfte der Butler an eine Tur.
Hercule Poirot zog die Augenbrauen ein wenig in die Hohe. Dies war der erste Mi?klang. Denn die besten Butler klopfen nicht an - und dennoch handelte es sich hier zweifellos um einen erstklassigen Butler.
Es war sozusagen der erste Kontakt mit dem exzentrischen Wesen eines Millionars.
Eine Stimme ertonte aus dem Innern, und der Butler offnete die Tur. Gleichzeitig meldete er (und wiederum spurte Poirot ein absichtliches Abweichen vom Althergebrachten):
»Der Herr, den Sie erwarten, Sir.«
Poirot trat ins Zimmer. Es war ein ziemlich gro?er, einfach und praktisch ausgestatteter Raum, der Ablageschranke, einige Sessel und einen gro?en, imposanten, mit sorgfaltig geordneten Papieren bedeckten Schreibtisch enthielt. Die Ecken des Raumes waren in Dammerlicht gehullt, denn das einzige Licht kam von einer gro?en, grunbeschirmten Leselampe, die auf einem kleinen Tisch neben einem der Sessel stand. Sie war so gestellt, da? ihr voller Lichtschein auf jeden fiel, der sich von der Tur her naherte. Hercule Poirot blinzelte ein wenig in dem grellen Licht der mindestens 150kerzigen Birne. Im Sessel sa? eine dunne Gestalt in einem Flickenschlafrock - Benedict Farley. Den Kopf hatte er in charakteristischer Haltung vorgestreckt, und die Hakennase ragte hervor wie der Schnabel eines Vogels. Eine wei?e Haarmahne erhob sich wie der Kamm eines Kakadus uber seiner Stirn. Seine Augen glitzerten hinter dicken Glasern, als er seinen Besucher mi?trauisch aufs Korn nahm.
»He«, sagte er schlie?lich, und seine krachzende Stimme klang schrill und barsch. »Sie sind also Hercule Poirot, he?«
»Zu Diensten«, erwiderte Poirot hoflich und verbeugte sich.
»Nehmen Sie Platz, nehmen Sie Platz«, sagte der alte Mann gereizt.
Hercule Poirot nahm Platz - im grellen Schein der Lampe.
Aus dem Schatten hinter der Lampe heraus schien der alte Mann ihn aufmerksam zu studieren.
»Wie kann ich wissen, da? Sie Hercule Poirot sind, he?« fragte er verdrie?lich. »Sagen Sie mir das mal.«
Abermals zog Poirot den Brief aus der Tasche und reichte ihn Farley.
»Ja«, gab der Millionar grollend zu. »Stimmt. Das habe ich durch Cornworthy schreiben lassen.« Damit faltete er den Brief und warf ihn zuruck. »Sie sind also der Knabe, ja?«
Mit einer kleinen Geste sagte Poirot:
»Ich versichere Ihnen, es handelt sich um keine Tauschung.«
Benedict Farley kicherte plotzlich.
»Das behauptet der Taschenspieler ebenfalls, ehe er die Karnickel aus dem Hut nimmt. Dieser Ausspruch gehort mit zum Trick.«
Poirot erwiderte nichts darauf. Farley sagte plotzlich:
»Sie halten mich wohl fur einen mi?trauischen alten Mann, wie? Das bin ich auch. Traue keinem! Das ist mein Motto. Man kann auch niemandem trauen, wenn man reich ist. Nein, nein, das geht nicht.«
»Sie wunschten mich zu konsultieren«, mahnte Poirot sanft.
»Ganz recht. Kaufe immer das Beste. Das ist mein Motto. Gehe zum Fachmann ohne Rucksicht auf die Kosten. Es ist Ihnen sicher aufgefallen, Monsieur Poirot, da? ich nicht nach Ihrem Honorar gefragt habe. Das werde ich auch nicht tun. Schicken Sie mir spater die Rechnung - ich werde schon keinen Stunk machen. Diese Idioten in der Molkerei bildeten sich ein, mir zwei neun fur Eier berechnen zu konnen, wahrend der Marktpreis zwei sieben ist - diese Schwindlerbande! Ich lasse mich nicht beschwindeln. Aber mit dem Mann an der Spitze ist es anders. Er ist das Geld wert. Ich stehe selbst an der Spitze. Ich wei? Bescheid.«
Hercule Poirot erwiderte auch hierauf nichts. Er horte aufmerksam zu, den Korper ein wenig zur Seite geneigt.
Hinter seiner unbeweglichen Fassade verbarg er eine gewisse Enttauschung. Er konnte nicht genau sagen, worum es eigentlich ging. Soweit hatte sich Benedict Farley charaktergetreu aufgefuhrt - das hei?t, er hatte der volkstumlichen Vorstellung entsprochen. Und doch war Poirot enttauscht.
Dieser Mann, sagte er sich, ist ein Scharlatan, nichts weiter als ein Scharlatan!
Er hatte andere Millionare gekannt, die auch exzentrisch waren. Aber in beinahe jedem Falle hatte er eine gewisse Kraft gespurt, eine innere Energie, die Achtung gebot. Wenn sie einen Flickenschlafrock getragen hatten, so hatten sie es getan, weil sie einen solchen Schlafrock gern trugen. Doch Benedict Farleys Schlafrock war in erster Linie - so schien es Poirot jedenfalls - ein Buhnenrequisit. Und der Mann selbst war im wesentlichen theatralisch. Jedes Wort, das er au?erte, war die reinste Effekthascherei; davon war Poirot uberzeugt.
Er wiederholte nochmals kuhl: »Sie wunschten mich zu konsultieren, Mr. Farley.«
Das Verhalten des Millionars erfuhr eine plotzliche Anderung. Er beugte sich vor, und seine Stimme sank zu einem heiseren Gefluster herab.
»Ja. Ja. Ich mochte horen, was Sie zu sagen haben, was Sie denken ... Geh an die Spitze! Das ist meine Art! Nimm den besten Arzt, den besten Detektiv - die beiden zusammen mussen es schaffen.«
»Noch wei? ich nicht, Monsieur, worum es geht.«
»Naturlich nicht«, fauchte Farley. »Ich habe Ihnen ja noch nichts gesagt.«
Er beugte sich abermals vor und platzte mit einer unvermittelten Frage heraus.
»Was wissen Sie, Monsieur Poirot, von Traumen?«
Der kleine Mann, blickte erstaunt drein. Eine solche Frage hatte er auf keinen Fall erwartet.
»Dafur, Mr. Farley, mochte ich Ihnen Napoleons
Nuchtern erwiderte Farley: »Ich habe es mit beiden versucht.«
Nach einer kleinen Pause fuhr der Millionar fort, zunachst im Flusterton und dann in einer immer heller werdenden Stimme.
»Es ist derselbe Traum, Nacht fur Nacht. Und ich furchte mich, ich sage Ihnen, ich furchte mich. Es ist immer dasselbe. Ich bin nebenan in meinem Zimmer. Ich sitze am Schreibtisch und schreibe. Es ist eine Uhr vorhanden. Mein Blick fallt darauf, und ich sehe die Zeit: genau achtundzwanzig Minuten nach drei. Immer dieselbe Zeit, verstehen Sie.
Seine Stimme war ganz schrill geworden.
Unbeirrt fragte Poirot: »Und was mussen Sie unbedingt tun?«
»Um achtundzwanzig Minuten nach drei«, erwiderte Benedict Farley heiser, »offne ich die zweite Schublade